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Nord-Stream-Anschläge: Diese wichtigen Fragen werden nicht gestellt

Themen des Tages: Zu warme Winter. Russische Raketenangriffe auf die Ukraine. Und die wichtigen Fragen der Debatte über die Pipeline-Anschläge in der Ostsee.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Die russische Armee hat wieder Infrastruktur in der Ukraine angegriffen.

2. Dieser Winter war in Europa zu warm.

3. Und auf Seite 2 lesen Sie: Warum die Presse gegenüber Geheimdiensten kritischer sein sollte.

Doch der Reihe nach.

Warme Winter nachgewiesen

Nach einem Bericht von Telepolis-Autor Wolfgang Pomrehn war der zurückliegende Winter für Europa der zweitwärmste [1] seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Besonders im östlichen und Teilen des nordöstlichen Europas sei es gemessen am langjährigen Mittelwert der Jahre 1991 bis 2020 viel zu warm gewesen. Das gehe aus der Analyse des EU-Klimaprogramms Copernicus hervor. Pomrehn weiter:

Im Durchschnitt über den ganzen Kontinent und die drei Wintermonate war es in Europa 1,44 Grad Celsius wärmer als im Mittel der Jahre 1991 bis 2020. Das ist auch insofern bemerkenswert, als die vergangenen Jahrzehnte bereits deutlich vom Klimawandel gezeichnet waren. Nur der Winter 2019/2020 war geringfügig wärmer und die Winter 2006 und 2007 ähnlich warm.

Ukraine: AKW Saporischschja erneut ohne Strom

Am gestrigen Donnerstagmorgen gab das ukrainische Staatsunternehmen Energoatom bekannt, dass das größte Atomkraftwerk Europas in Saporischschja ohne Strom sei, berichtete Telepolis-Autor Roland Bathon [2]. Das Kraftwerk befinde sich mitten in der Region aktiver Kämpfe im Ukraine-Krieg und stehe immer wieder im Zentrum von Befürchtungen, dass diese eine Katastrophe mit der Freisetzung von radioaktivem Material auslösen könnten.

In der Nacht und am Morgen waren zudem aus weiten Teilen der Ukraine zum Teil heftige Raketenangriffe gemeldet. Nach Angaben lokaler Behörden und Medien richteten sich die Angriffe erneut hauptsächlich gegen Energieversorgungsanlagen. Teilweise kam es zu Stromausfällen. Die ukrainische Eisenbahngesellschaft meldete Einschränkungen und Verzögerungen aufgrund von Stromausfällen.

Debatte über Nord-Stream-Berichte

Kelley Beaucar Vlahos von Quincy Institute in Washington beleuchtet heute kritisch die jüngsten Berichte über die Nord-Stream-Anschläge Ende September vergangenen Jahres. Sie zitiert George Beebe, einen ehemaligen CIA-Offizier und jetzigen Leiter des Programms Grand Strategy des Quincy-Instituts, dem zufolge der Zeitpunkt der Veröffentlichung "viele Fragen aufwerfe". Beebe:

Es kommt mir verdächtig vor, dass diese Informationen plötzlich ans Licht kommen – viele Monate nach der Tat. Das ist merkwürdig. Die Nachricht dient zudem auffällig günstig als Gegenentwurf zu Sy Hershs Bericht.

Außenpolitische Analysten und Journalisten hätten sich nach Veröffentlichung der Geschichte ähnlich geäußert, so Beaucar Vlahos [3].

Nord-Stream-Anschläge: Diese Frage wird nicht gestellt

Die Aufregung ist groß, nachdem die New York Times und ein Verbund deutscher Redaktionen neue Erkenntnisse zu den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines Ende September vergangenen Jahres veröffentlicht haben. Die Berichte erschienen Anfang dieser Woche, fast genau einen Monat, nachdem der US-Journalist und Pulitzer-Preis-Träger Seymour Hersh die US-Regierung für den Sabotageakt verantwortlich gemacht hat.

Die Zeit, der SWR und das ARD-Magazin Kontraste hatten am Dienstag berichtet, die Ermittler aus Deutschland, Dänemark, Schweden, den Niederlanden und den USA hätten ein Schiff identifizieren können, das möglicherweise für den Angriff auf die Pipeline verwendet wurde. Es handele sich um ein Segelschiff, das kurz vor dem Angriff von einer Gruppe gechartert worden war. Die Identität der Besatzungsmitglieder sei noch nicht geklärt. Fragen bleiben offen.

Der Redaktionsverbund berichtet damit maßgeblich über die Ergebnisse offizieller Ermittlungen. Die beteiligten Medien geben aber auch die These wieder, eine "proukrainische Gruppe" könne für den Anschlag verantwortlich sein. Darauf deuteten "geheimdienstliche Hinweise" hin, zudem "soll ein westlicher Geheimdienst bereits im Herbst, also kurz nach der Zerstörung, einen Hinweis an europäische Partnerdienste übermittelt haben".

Hersh hatte sich auf "eine Quelle mit direkten Kenntnissen über die operative Planung" des mutmaßlichen US-Anschlags gestützt. Die New York Times und die deutschen Medien, die ihre Recherchen zeitgleich zum US-Bericht publik machten, stützen ihre These einer mutmaßlich verantwortlichen "proukrainische Gruppe" auf anonyme westliche Geheimdienstquellen.

Das ist journalistisch ebenso problematisch wie die Akzeptanz derart lancierter Theorien in der Öffentlichkeit. Geht man davon aus, dass die Quelle der CIA angehört, dann hätte sie nach der Debatte über den Hersh-Bericht ein unmittelbares Interesse, die Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Doch weder die deutschen Rechercheure noch die New York Times gehen auf die Frage ein, weshalb der ominöse westliche Geheimdienst seit den Tagen nach den Anschlägen von der Ukraine-Spur gewusst haben will, diese Information aber erst jetzt – vier Monate später – über Leitmedien in den USA und der EU streut.

Richtig ist, dass alle Thesen bislang mit dem Adjektiv "mutmaßlich" versehen werden müssen, weil sie sich auf unbekannte Quellen stützen. Anders ist das bei nachvollziehbaren und dokumentierten Ermittlungsergebnissen. Oder natürlich bei möglichen künftigen Gerichtsbeschlüssen.

Immerhin hat die Debatte über die jüngsten Medienberichte Unterhaltungswert. Ralf Stegner von der SPD prognostizierte [4] in einem Konditionalsatz "politische Turbulenzen, die sich gewaschen haben dürften". Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz warf dem Sozialdemokraten daraufhin vor, "als MdB Propaganda für Putin gemacht [5]" zu haben, sollte sich die Ukraine-Spur nicht bewahrheiten.

Es geht noch krasser: Der CDU-Obmann für Außenpolitik, Roderich Kiesewetter, hielt den beteiligten Medien vor [6], "wenn auch nur indirekt, unbelegte Verbindungen zwischen der ukrainischen Regierung und der Explosion der Nord-Stream-Pipelines" hergestellt zu haben. Kiesewetter: "Das nutzt vor allem der russischen Propaganda!" Und weiter: "Im Zweifel für die angegriffene Ukraine."

Der Co-Geschäftsführer der Lobbyorganisation "Zentrum Liberale Moderne", Ralf Fücks, hieß die Anschläge auf die zivile europäische Energieinfrastruktur gut [7]: Wer auch immer #NordStream den Rest gegeben hat: (…) Gut, dass dieses Kapitel definitiv beendet ist." Ob das die Bürger auch so sehen, die unter steigenden Energiepreisen ächzen? Übrigens, die gleichen Bürger, die über ihre Steuern Fücks‘ Gehalt und Wirken mitfinanzieren.

Was bleibt? Wir wissen, dass gut 450 Kilo Sprengstoff auf einem 15 Meter langen Segelschiff mit Dieselmotor, wohl aber ohne Kran, transportiert worden sein soll; dass vier Taucher die massive Fracht in 80 Meter angebracht haben sollen, offenbar ohne Dekompressionskammer; dass Reisepässe gefunden wurden.

Telepolis wird die Entwicklung natürlich weiter im Blick behalten. Uns ist wichtig, dass wir für Sie die Theorien professionell einordnen und zugleich die mediale und politische Debatte abbilden. Wir werfen auch in diesem Fall einen Blick auf die blinden Flecken der Berichterstattung und hinterfragen politische Interessen.

Kurze Notiz, bevor wir den Medienjournalisten Friedrich Küppersbusch einspielen:

1. Warum zeigten sich Bundesregierung und BND unmittelbar nach den Anschlägen bereits unisono davon überzeugt, dass nur ein staatlicher Akteur zu einer solchen fähig, also dafür verantwortlich sein könne? (Unter Verdacht stand Russland.)

1 a. Und wie passt das zu der Aussage von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die auf die neuen Thesen erwiderte, sie wolle "nicht voreilig Schlüsse ziehen", während Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in auffällig ähnlicher Formulierung davor warnt, "voreilige Schlüsse zu ziehen". (Unter Verdacht steht nun die Ukraine.)

2. Weshalb ist die These von Hersh mit einer anonymen Quelle "substanzlos" (Handelsblatt) und der Autor ein "früherer US-Enthüllungsreporter" (Merkur)?

2 a. Und wie passt das dazu, dass die Theorie einer "proukrainischen Gruppe" in westlichen Medien und Politik ungleich ernster genommen wird, obwohl sie sich lediglich auf anonyme "US-Beamte" stützt, die laut New York Times zwar darauf beharren, "dass keine US-amerikanischen oder britischen Staatsangehörigen beteiligt waren", sich aber weigern, "die Art der Informationen, wie sie erhalten wurden, oder Details zur Schlüssigkeit der darin enthaltenen Beweise offenzulegen".

Artikel zum Thema:

Sebastian Köhler: Harsche Reaktionen auf Hershs Artikel [8]
Medea Benjamin, Nicolas J.S. Davies: Wie Spin und Lügen einen blutigen Zermürbungskrieg in der Ukraine anheizen [9]
Thomas Dudek: Polen im "Gaskrieg" zwischen Russland und der Ukraine [10]


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7541397

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/features/Trockener-Winter-Droht-ein-weiteres-Duerrejahr-in-Europa-7540294.html
[2] https://www.telepolis.de/features/Zweierlei-atomare-Gefahren-durch-den-Ukraine-Krieg-7541015.html
[3] https://www.telepolis.de/features/Nord-Stream-Pro-ukrainische-Gruppe-oder-Operation-unter-falscher-Flagge-7540921.html
[4] https://twitter.com/Ralf_Stegner/status/1633202765609549827
[5] https://twitter.com/polenz_r/status/1633501164749881345
[6] https://twitter.com/RKiesewetter/status/1633509015450787848
[7] https://twitter.com/fuecks/status/1633527254373261313
[8] https://www.telepolis.de/features/Harsche-Reaktionen-auf-Hershs-Artikel-7492393.html?seite=all
[9] https://www.telepolis.de/features/Wie-Spin-und-Luegen-einen-blutigen-Zermuerbungskrieg-in-der-Ukraine-anheizen-7495543.html?seite=all
[10] https://www.telepolis.de/features/Polen-im-Gaskrieg-zwischen-Russland-und-der-Ukraine-3421450.html