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Nord Stream: Der Angriff auf die Pipelines

Philipp Fess

Die Feier am 8. November 2011 mit dem damaligen französischen Premierminister François Fillon, der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, dem niederlĂ€ndischen MinisterprĂ€sidenten Mark Rutte, dem damaligen russischen PrĂ€sidenten Dmitri Medwedew und dem seinerzeitigen EU-Kommissar fĂŒr Energie, GĂŒnther Oettinger. Bild: Kremlin.ru/CC BY 3.0

Zeitenwende: Wie sich die Positionen verÀndert haben - die Suche nach den Verursachern der Lecks, die Konkurrenz auf dem Energiemarkt und die geostrategischen Interessen der USA, Teil 1.

Die HintergrĂŒnde der Sabotage an den deutsch-russischen Ostsee-Pipelines sind weiterhin ungeklĂ€rt. Und doch verdĂ€chtigen deutsche Medien bereits einmĂŒtig den Kreml-Herrscher Wladimir Putin.

Dabei lĂ€sst sich eigentlich schwer unterschlagen, dass Nord Stream 2 seit Jahren im Mittelpunkt einer US-amerikanischen Geostrategie steht, die, wie es Äußerungen, die im Folgenden zur Sprache kommen, verstehen lassen, auch eine extreme wirtschaftliche SchwĂ€chung ihres scheinbar engsten VerbĂŒndeten in Kauf nimmt.

Mittlerweile werden nur mehr wenig Zweifel daran geĂ€ußert, dass die in der Nacht zum 26. September erkannten DruckabfĂ€lle in den beiden Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 auf einen Sabotageakt zurĂŒckzufĂŒhren sind [1].

Obwohl sich die eindeutige Ermittlung des TĂ€ters als schwierig bis unmöglich erweisen dĂŒrfte, wird in Deutschland wie in Russland angenommen, dass ein staatlicher Akteur hinter dem Anschlag steckt. Nur, wer – darĂŒber gehen die Meinungen der immer mehr zu Blöcken eines Kalten Kriegs erstarrenden politischen Lager auseinander.

WĂ€hrend Putin gegenĂŒber dem tĂŒrkischen PrĂ€sidenten Recep Tayyip Erdogan von einem "Akt des internationalen Terrorismus" [2] spricht und der SekretĂ€r des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, die USA als HauptverdĂ€chtigen [3] nennt, entwerfen deutsche Medien, (militĂ€rische) SachverstĂ€ndige und politisch Verantwortliche das Spiegelbild der Beschuldigung.

FĂŒr sie scheint sich angesichts des völkerrechtswidrigen Einmarschs in die Ukraine nicht mehr die Frage zu stellen, wer fĂŒr Kriegs-(Verbrechen) jeglicher Art verantwortlich zeichnet [4].

Bemerkenswert ist, wie dabei ohne faktische Grundlage eine russische Operation unter falscher Flagge fĂŒr wahrscheinlich erklĂ€rt wird – eine Hypothesenbildung, die man im Falle der GrĂ€ueltaten im ukrainischen Butscha noch als unlauter oder gar irrational disqualifizierte [5].

Die ĂŒblichen VerdĂ€chtigen

Dieser False-Flag-Vorwurf, obwohl (wie eben vieles) definitiv nicht auszuschließen, ist im Falle der Pipelines allerdings (noch) schwer nachvollziehbar. Warum Russland sich entschieden haben soll, seine terroristische DrohgebĂ€rde ausgerechnet auf das (zur HĂ€lfte) eigene Milliardenprojekt zu richten und dabei die in unmittelbarer NĂ€he befindliche "Konkurrenz"-Pipeline von Norwegen nach Polen verschonte, mag nicht recht einleuchten.

Ebenso wenig wie die von Journalistenkollegen vermutete Motivation, den EuropĂ€ern vor Augen fĂŒhren zu wollen, "wie verwundbar unsere Energieversorgung ist" [6]. Hat es dazu jenseits eines beispiellosen Wirtschaftskriegs, der Deutschland in die Deindustrialisierung zu stĂŒrzen droht [7], wie ein ARD-Betrag befĂŒrchtet, wirklich noch einer Demonstration bedurft?

Was die Motive der USA angeht, die in nahezu keinem deutschen Leitmedium jenseits einer Darstellung als Kreml-Propaganda diskutiert wurden, so wirken sie deutlich weniger weit hergeholt. Und dazu muss man nicht russischer Propaganda oder dem inzwischen gelöschten Tweet des ehemaligen polnischen Außenministers [8] blinden Glauben schenken.

Abgesehen von der Ukraine und Polen, die nicht zuletzt aufgrund des drohenden Verlusts ihres Transitland-Status von Beginn an Bedenken gegen das Großprojekt vorgebracht [9] haben, war deren Schutzmacht [10] USA der wohl verbissenste Gegner von Nord Stream 2.

Pipeline-Protest bis an die Grenze des Völkerrechts

Die Vereinigten Staaten torpedieren das deutsch-russische Projekt aktiv seit 2017, als der amerikanische Kongress unter PrĂ€sident Donald Trump den gegen die Feindstaaten der USA – wie den Iran, Nordkorea und Russland – gerichteten Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) verabschiedete [11].

Im Dezember 2019 folgte mit dem Protecting Europe’s Energy Security Act (PEESA) das zweite Gesetz, das den Bau der Pipeline durch US-Sanktionen gegen die beteiligten Unternehmen zu verhindern trachtete [12].

Vor fĂŒnf Jahren wurde das in der deutschen Öffentlichkeit noch als Übergriff, wenn nicht gar – so etwa vom damaligen Außenminister Sigmar Gabriel – als völkerrechtswidrigen Eingriff [13] in die SouverĂ€nitĂ€t Deutschlands gedeutet. Damals war die Gefahr geringer, von den Medien deshalb als antiamerikanisch oder gar pro-diktatorisch dargestellt zu werden.

Ex-Außen- und Wirtschaftsminister Gabriel war nicht der einzige, der den USA (wirtschafts-)imperialistische Interessen in Bezug auf den Verkauf von FlĂŒssigerdgas (liquified natural gas, LNG) unterstellte – eine, wie das Handelsblatt noch im Juli 2020 schrieb, wirtschaftliche Blase [14], die aufgrund des gesĂ€ttigten europĂ€ischen Gasmarkts sowie des Ausbaus der Erneuerbaren zu platzen drohte:

Aus Russland kommen ĂŒber 40 Prozent der europĂ€ischen Gasversorgung. Die USA nutzen den Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 deshalb auch weiterhin, um die EU von der Notwendigkeit von mehr FlĂŒssigerdgas zu ĂŒberzeugen. [
]

Andrew McDowell, VizeprĂ€sident der EuropĂ€ischen Investitionsbank, betonte kĂŒrzlich, dass Investitionen in neue Infrastrukturen fĂŒr fossile Brennstoffe einschließlich LNG ‚wirtschaftlich eine zunehmend unsicherere Entscheidung‘ seien.

"Jedes weitere Wachstum von LNG in Europa mĂŒsste schon politisch getrieben werden", ist auch [Energie-Experte Jens] Burchardt ĂŒberzeugt.

Handelsblatt [15]

Die Zukunft des Frackings

Als weiterer scharfer Kritiker der US-Gesetze von 2017 und 2019 hat sich der ehemalige Chef der Deutschen Energie-Agentur (dena), Stephan Kohler [16], hervorgetan. In einem Interview von 2017 weist er darauf hin, dass die USA im CAATSA-Gesetzesentwurf ganz offen mit besseren Marktchancen fĂŒr ihr FlĂŒssiggas argumentierten.

2019 - das GesprÀch mit russischen Informationsplattformen war noch nicht synonym mit einem Karriere-Ende - erneuert Kohler im Interview mit Sputnik seinen Standpunkt und ergÀnzt ihn um eine brisante Dimension:

Was ich viel interessanter finde, ist der politische Aspekt. Ich denke, dass die Amerikaner kein Interesse daran haben, dass Europa und Russland sich wieder annÀhern. Eben genau deshalb werden die Sanktionen erlassen, um den politischen Keil zwischen Europa und Russland weiter hineinzutreiben.

Stephan Kohler

Noch im MĂ€rz 2020 Ă€ußerte sich Kohler mit Blick auf die kritische Situation in der Ukraine und Angela Merkels Beteuerung, man sei mit dem russischen Gas auf dem richtigen energiepolitischem Kurs, dass der Ankauf von amerikanischem Fracking-Gas in Deutschland in absehbarer Zukunft keine Option darstelle, schon allein wegen seines umweltschĂ€dlichen Rufs, den vor allem die GrĂŒnen lange in den Vordergrund ihres politischen Programms [17] stellten – den Ausbau von LNG-Terminals aber dennoch mit vorantrieben.

HĂ€tte sich der Ende Oktober 2020 verstorbene Kohler vorstellen können, dass die Bundesregierung gut anderthalb Jahre spĂ€ter, am 31. Mai 2022, eine kleine Anfrage der AfD zum kĂŒnftigen Ersatz der russischen Erdgaslieferungen mit den folgenden Worten beantwortet [18]?

Sie [die Bundesregierung, d. Red.] geht davon aus, dass neben leicht höheren Lieferungen aus Norwegen, hauptsĂ€chlich FlĂŒssigerdgas (LNG) aus unterschiedlichen HerkunftslĂ€ndern nach Europa und Deutschland geliefert wird. Dazu zĂ€hlen u. a. die USA, Katar, Algerien und LieferlĂ€nder aus Afrika.

Antwort der Bundesregierung [19]

Wohl kaum.

Konflikt beendet den Konflikt

Im November 2021 kommt der Konflikt um die Pipeline scheinbar zum Ende. Deutschland gibt gegenĂŒber seinem transatlantischen VerbĂŒndeten das Versprechen ab, Sanktionen gegen Russland zu verhĂ€ngen, sollte Putin sich jemals dazu entscheiden, Energie als Waffe einzusetzen.

Zuvor war der Pipeline-Betrieb im Juli von PrĂ€sident Biden an die Bedingung geknĂŒpft [20] worden, den Gas-Transit durch die Ukraine fĂŒr weitere zehn Jahre zu sichern.

Im Januar spricht die unter PrÀsident Joseph Biden erneut in Regierungsverantwortung stehende Victoria Nuland, legendÀr durch ihr "Fuck the EU"-Telefonat [21], die Drohung aus, dass die USA Nord Stream 2 unterbinden werden [22], falls Russland in die Ukraine einmarschiere.

Am 7. Februar verspricht Joe Biden, dass man im Falle einer Invasion "fÀhig sein werde", das Projekt zu stoppen. Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland seinerzeit in einem Artikel richtig bemerkte, ist das allerdings nur auf illegalem Wege möglich [23].

Am 22. Februar kĂŒndigt Bundeskanzler Scholz aufgrund des erwarteten Einmarschs in die Ukraine – Bloomberg veröffentlichte (irrigerweise) schon am 4. Februar [24] einen entsprechenden Zeitungsbericht – an, das Zertifizierungsverfahren fĂŒr die Pipeline unverzĂŒglich zu stoppen.

Morgen folgt Teil 2: "Der Keil ist keine LĂŒge"


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7285794

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/verdacht-der-sabotage-justizminister-buschmann-erw-c3-a4gt-ermittlungen-wegen-lecks-in-nord-stream-pipelines/ar-AA12ur9h
[2] https://www.diepresse.com/6196364/nord-stream-lecks-putin-spricht-von-akt-des-internationalen-terrorismus
[3] https://www.t-online.de/finanzen/boerse/ticker/russland-sieht-usa-hinter-pipeline-sabotage/0DAA7C00F55766C7/
[4] https://www.cicero.de/aussenpolitik/ukraine-krieg-kriegsverbrechen-amnesty-menschliche-schutzschilde
[5] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/butscha-russland-kriegsverbrechen-101.html
[6] https://www.rnd.de/wirtschaft/lecks-in-nord-stream-1-und-2-wir-befinden-uns-im-energiekrieg-ein-kommentar-E65AFHLGHJBTJIIFW5X6DSHUTQ.html
[7] https://www.ardmediathek.de/video/fakt/droht-deutschland-eine-deindustrialisierung/das-erste/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy8xNzMxN2Q0NS0xOThkLTRlNmMtYjU0Ni0yMDBlMjMxYWQ3OWQ
[8] http://web.archive.org/web/20220928072747/https:/twitter.com/radeksikorski/status/1574800653724966915
[9] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/nord-stream-2-pipelinestreit-ukraine-polen-bedrohung-100.html
[10] https://www.zdf.de/nachrichten/heute-in-europa/usa-als-schutzmacht-polens-100.html
[11] https://www.ihk.de/hamburg/produktmarken/beratung-service/international/export/ausfuhrkontrallvorschriften/caatsa-sanktionen-russland-3918196
[12] https://www.dw.com/de/us-repr%C3%A4sentantenhaus-will-sanktionen-gegen-pipelineprojekt-nord-stream-2/a-51637067
[13] https://www.rnz.de/politik/topthemen_artikel,-umstrittene-gaspipeline-gabriel-nord-stream-2-geht-usa-nichts-an-_arid,628669.html
[14] http://web.archive.org/web/20200725151922/https:/www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/gasmarkt-mehr-angebot-als-nachfrage-die-lng-blase-droht-zu-platzen/25994658.html?ticket=ST-13160275-hMrDwV3RZq02dVY6GGyt-ap5
[15] http://web.archive.org/web/20200725151922/https:/www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/gasmarkt-mehr-angebot-als-nachfrage-die-lng-blase-droht-zu-platzen/25994658.html?ticket=ST-13160275-hMrDwV3RZq02dVY6GGyt-ap5
[16] https://www.dena.de/newsroom/stephan-kohler-1952-2020-ein-leben-fuer-energie/
[17] https://www.heise.de/tp/features/Die-merkwuerdige-Energiepolitik-der-Gruenen-4906903.html
[18] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Parlamentarische-Anfragen/2021/09/19-32392.pdf?__blob=publicationFile&v=4
[19] https://dserver.bundestag.de/btd/20/021/2002123.pdf
[20] https://www.nzz.ch/international/einigung-im-streit-um-die-gaspipeline-nord-stream-2-nzz-ld.1636670
[21] https://www.bbc.com/news/world-europe-26079957
[22] https://www.stern.de/news/usa-sehen-in-fall-von-russischem-einmarsch-in-die-ukraine-keine-zukunft-fuer-nord-stream-2--31576546.html
[23] https://www.rnd.de/politik/nord-stream-2-bundesregierung-stoppt-zertifizierung-wer-bei-einem-pipeline-aus-geld-verliert-5NOI52UIMREJNJTW3DV3I7ZDHE.html
[24] https://nypost.com/2022/02/04/bloomberg-accidentally-reports-that-russia-invaded-ukraine/