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Nordirak: Wem nützt ein kurdischer Nationalstaat?

Straße von Sulaymaniyaa nach Kirkuk. Foto: Asenger / gemeinfrei

Massoud Barzani will ein Referendum zur Unabhängigkeit Kurdistans abhalten

Vergangene Woche wurde auf einem Treffen verschiedener Parteien unter Vorsitz von "de-facto- Präsident" Massoud Barzani der Termin für das Referendum über die "Unabhängigkeit Kurdistans" beschlossen. Es soll am 25. September abgehalten werden. Die Anhänger von Massoud Barzani im In- und Ausland bejubeln diese Entscheidung.

Mächtiger Gegenwind weht jedoch aus unterschiedlichen politischen Richtungen. Allerdings: Wem nützt ein kurdischer Nationalstaat und ist es angesichts der sich zuspitzenden Lage im Nahen Osten klug, Kräfte in ein solches Projekt zu investieren, anstatt sich auf die Bekämpfung des IS zu konzentrieren?

Größere Legitimationsprobleme beim Referendum

Massoud Barzani hat ein Legitimationsproblem. Im August 2015 endete seine Präsidialzeit. Trotzdem führt er das Amt ohne Mandat bis heute weiter, trifft Entscheidungen, besucht als faktischer Präsident die Welt. Das Parlament der kurdischen Autonomieregion (KRG) tagt seit dem 12. Oktober 2015 nicht mehr, weil sich die einzelnen Parteien auf kein gemeinsames Vorgehen einigen konnten.

Formal gesehen kann nur das Parlament ein Referendum einleiten. Aber es gibt bislang keinen Parlamentsbeschluss. Welche Legitimation hat also das besagte Treffen unter der Leitung der KRG, an dem nicht einmal alle Parteien der Region teilnahmen?

Die Gorran-Bewegung, die zweitstärkste Partei im Parlament, und die Komeleya İslami lehnten die Teilnahme ab [1], mit der Begründung, es fehle der Versammlung die nötige Glaubwürdigkeit. Heftige Machtkämpfe zwischen Barzanis Partei KDP und Gorran führten zur Entlassung der Gorran-Minister und zur Besetzung aller wichtigen Positionen mit Personen aus dem Barzani-Clan.

Der Parlamentssprecher (Gorran-Partei), wurde aus dem Amt gejagt und darf seit über einem Jahr Erbil, die Hauptstadt der KRG, nicht mehr betreten. Regierungschef ist nun Necirvan Barzani, ein Enkel des KDP-Gründers Mustafa Barzani und Neffe von Massoud Barzani. Chef des Geheimdienstes und der Sicherheitspolizei ist der Sohn Massoud Barzanis, [2]Masrour Barzani.

Streit über Gebiete

Das offizielle Gebiet der Region Kurdistan setzt sich aus den irakischen Gouvernements Dohuk, Erbil, Sulaimania und Halabdscha zusammen. Nach Aussagen von Barzani sollen aber auch das Shengal-Gebiet und die Region um Kirkuk einbezogen werden, die beide bisher nicht zum Territorium der Autonomieregion gehören. Diese Regionen werden zwar de facto von der KDP beherrscht, auch die Verwaltungsposten sind mit vielen KDP-treuen Personen besetzt, aber trotzdem gilt dies noch immer als irakisches Territorium.

Demnach müsste die irakische Regierung in Bagdad der Durchführung des Referendums erst einmal zustimmen. Es ist schwer vorstellbar, dass die irakische Regierung diese Gebiete ohne Gegenleistung abgibt, zumal sich auch in der Bevölkerung Widerstand regt. Die Eziden (Jesiden) wollen beispielsweise mehrheitlich weder Teil der KRG sein noch Teil eines autoritär geführten Nationalstaates "Kurdistan" (vgl. Shengal als geopolitisches Schachbrett [3]).

Internationale Reaktionen offenbaren interessante Allianzen

International stößt das Vorhaben von Barzani auf wenig Begeisterung. Bundesaußenminister Gabriel warnte [4] vor einem solchen Schritt:

Die Einheit des Irak infrage zu stellen, ja sogar Staatsgrenzen neu ziehen zu wollen, ist nicht der richtige Weg und kann eine ohnehin schwierige und instabile Lage nur verschärfen, in Erbil genauso wie in Bagdad.

Sigmar Gabriel

Er warb für einen Dialog, um konstruktive Lösungen für die umstrittenen Gebiete zu finden. Damit sprach er wahrscheinlich die umstrittene Region Shengal und das Gebiet Kirkuk mit seinen Ölquellen an. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Annen, befürchtet neue Spannungen [5] in der Region und stellt die Bundeswehr-Mission im Nordirak in Frage. Besorgt sieht er die territoriale Integrität des Iraks in Frage gestellt.

Eine eventuelle Anerkennung eines kurdischen Staates stehe nicht zur Debatte, auch weil die rechtlichen Grundlagen für das angekündigte Referendum fraglich seien. Damit spielte Annen höchstwahrscheinlich auf den Punkt der schwachen Legitimierung von Barzani als Präsident ohne Mandat und mit fehlenden Parlamentsbeschluss an.

Die Grünen lehnen einen kurdischen Staat im Irak ebenfalls ab. Der außenpolitische Sprecher Omid Nouripour sagte: http://www.rojavanews.net/kurdistan/item/519-gruene-gegen-kurdisches-unabhaengigkeitsreferendum [6]: "Der historisch berechtigte Wunsch der Kurden nach Unabhängigkeit steht im Widerspruch zur Dynamik verschobener Grenzen, die die Region noch mehr destabilisieren könnte."

Der Bundesvorsitzende der kurdischen Gemeinde, Ali Ertan Toprak, kritisierte [7] Bundesaußenminister Gabriel: "Das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes gehört nicht in den Zuständigkeitsbereich des deutschen Außenministers." Stimmt, aber Barzani kann auch nicht über das Selbstbestimmungsrecht "des kurdischen Volkes" verfügen. Denn dieses ist über die vier Länder Nordirak, Nordsyrien, Osttürkei und Iran verteilt. Allenfalls kann über die kurdische Bevölkerung im Nordirak gesprochen werden.

Die kurdische Gemeinde in Deutschland, die sich gern als Sprachrohr "aller Kurden" in Deutschland andient, befürwortet die Entscheidung für ein Referendum im Herbst. Mehmet Tanriverdi, stellvertretender Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, sagte [8]:

Mit diesem friedlichen Schritt sendet das kurdische Volk und die in Kurdistan lebenden Minderheiten ein deutliches Signal an die Weltgemeinschaft, dass nur ein unabhängiges und demokratisches Kurdistan zur Stabilisierung des Nahen Ostens beitragen kann.

Mehmet Tanriverdi

Ein unabhängiges und demokratisches Kurdistan?

Die KRG ist zu über 90% von der Türkei abhängig. In der KRG wird kaum etwas produziert. Alle Güter des täglichen Lebens stammen aus der Türkei, selbst das Trinkwasser. Demokratisch? Barzani strebt mit dem Referendum ein Präsidialsystem nach dem Vorbild von Erdogan an.

In der Ablehnung eines "Kurdistan" im Nordirak sind sich die Bundesregierung und die türkische Regierung einig. Aus Ankara hieß es [9], die Bewahrung der territorialen Integrität und der politischen Einheit des Irak sei eine der Grundlagen der türkischen Politik hinsichtlich des Irak. Na sowas: Erdogan und Barzani sind eigentlich gute Freunde und hegen rege wirtschaftliche Beziehungen.

Im Kampf gegen die PKK sind sie sich auch einig. Demokratische föderale Modelle, die Minderheiten mit einbeziehen und Frauenemanzipation vorantreiben, lehnen beide ab. Aber wenn Türken-Präsident Erdogan dem Kurden-Präsident Barzani künftig auf Augenhöhe begegnen sollte, führt das zu weit. Ankara lehnt jede Art von kurdischer Selbstbestimmung ab.

Zu groß ist die Angst, dass die anderen kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, Syrien und in Iran dem Beispiel folgen könnten. Erdogan hat gegenüber Barzani ein wichtiges Instrument in der Hand, um ihn zu lenken: die Versorgung der Bevölkerung im Nordirak und die Öl-Pipeline zum türkischen Hafen Ceyhan, ohne die die KRG ihr Rohöl nicht verkaufen könnte.

Barzani und die despotische Tradition

Im Moment nützt die Diskussion um einen kurdischen Staat im Nahen Osten niemandem außer Barzani. Grundsätzlich ist das Bedürfnis vieler Kurden und Kurdinnen nach einem eigenen Staat nachvollziehbar, es stellt sich nur die Frage, welche Art von Staat. Wird ein zusätzlicher autoritärer Staat gebraucht, den andere ethnische oder religiöse Minderheiten und die Gleichstellung von Frauen wenig interessieren? Braucht der Nahe Osten einen weiteren Despoten?

Die Geschichte hat gezeigt, dass neue Staaten, die auf autoritären Strukturen basieren, meist nur neue Despoten hervorbringen. Längst wird in allen kurdischen Siedlungsgebieten die Forderung nach einem neuen Staat kritisch diskutiert. Immer mehr Kurden setzen sich innerhalb der bestehenden Staaten für föderative und basisdemokratische Modelle ein. Die demokratische Föderation Nordsyrien macht aktuell vor, wie dies aussehen kann.

Tatsächlich ist der Gedanke an ein föderatives Staatsmodell weiter gedacht und sollte international unterstützt werden. Eine föderative Türkei könnte z.B. das Modell eines modernen, offenen Vorzeigelandes im Nahen Osten werden. Würden die kulturellen und sozialen Ressourcen der verschiedenen Ethnien positiv genutzt und zur Entfaltung gebracht, könnte dieses schöne Land prosperieren.


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https://www.heise.de/-3740257

Links in diesem Artikel:
[1] https://isku.blackblogs.org/4384/referendum-fuer-die-unabhaengigkeit-suedkurdistans/
[2] https://www.heise.de/tp/features/Nordirak-Die-kurdische-Autonomieregion-in-der-Krise-3336694.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Irak-Shengal-als-geopolitisches-Schachbrett-3736706.html
[4] https://de.reuters.com/article/deutschland-irak-kurden-idDEKBN18Z24U
[5] http://www.deutschlandfunk.de/kurdisches-referendum-annen-spd-stellt-bundeswehr-mission.2932.de.html?drn%3Anews_id=754731
[6] http://www.rojavanews.net/kurdistan/item/519-gruene-gegen-kurdisches-unabhaengigkeitsreferendum
[7] https://kurdische-gemeinde.de/kurdische-selbstbestimmung-nicht-im-zustaendigkeitsbereich-gabriels/
[8] https://kurdische-gemeinde.de/ja-zur-unabhaengigkeit-kurdistans/
[9] http://www.n-tv.de/ticker/Ankara-kritisiert-Unabhaengigkeits-Referendum-article19882074.html