Norwegens Ölpolitik vor Gericht
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Die Janusköpfigkeit des Landes, das sich gern als Klimavorreiter darstellt
Hat der norwegische Staat sein Grundgesetz verletzt, als er 2015 neue Gebiete in der Barentssee zur Ölsuche ausschrieb? Und hat er bei der Vorbereitung dafür Fehler gemacht? Ja, meinen vier norwegische Umweltorganisationen und haben den Staat verklagt bis in die oberste Instanz. Der Klimaprozess vor dem Obersten Gericht in Oslo, "Klimasøksmålet", ist nun nach sieben Verhandlungstagen beendet. Das Urteil steht noch aus. Das Verfahren zeigte deutlich die Janusköpfigkeit Norwegens, das sich gern als Klimavorreiter darstellt.
Der Paragraf 112 des norwegischen Grundgesetzes besagt, dass alle das Recht auf eine gesunde, produktionskräftige Umwelt und Artenvielfalt haben und dass die Naturressourcen nachhaltig verwaltet werden sollen mit Blick auf kommende Generationen. Hinter der Klage stehen die Organisationen Natur og Ungdom, Greenpeace Norwegen, Besteforeldrenes klimaaksjon (Klimaaktion der Großeltern) und Naturvernforbundet (Naturschutzbund).
Konkret richtete sich die Klage gegen die 23. Konzessionsrunde 2015/2016, bei der der norwegische Staat Lizenzen zur Ölsuche an 13 Unternehmen vergab. Zwar gingen die Prozesse in den beiden vorherigen Instanzen verloren, doch es gab Details in den Urteilsbegründungen, die die Umweltorganisationen ermutigten, weiterzumachen.
Dass das Oberste Gericht Norwegens (Høyesterett) die Sache überhaupt zu einer Verhandlung im Plenum zuließ, war schon ein Gewinn für sie. Kurz vor Beginn des Prozesses erhielten sie außerdem einen unerwarteten Joker für ihre Argumentation: Der staatseigene Fernsehsender NRK machte öffentlich, dass das Ministerium dem Parlament 2013 eine Berechnung vorenthalten hatte, nach der eine Ölförderung im Bereich Barentssee Südost wirtschaftlich weniger lohnend sein könnte, als bis dahin angenommen.
Zudem gab es E-Mails, in denen das Ministerium seine Öl-Behörde (Oljedirektoratet) davor warnte, das Gebiet Barentssee Südost (Barentshav sørøst) schlecht zu reden. Als die norwegischen Parlamentarier im Juni 2013 grundsätzlich über eine zukünftige Ölförderung in der südöstlichen Barentssee abstimmten, gingen sie davon aus, dass der Staat sich so weiter Steuereinnahmen sichern würde. Drei Lizenzen, die in der 23. Konzessionsrunde letztlich vergeben wurden, beziehen sich auf das Gebiet Barentssee Südost, andere liegen nördlich der schon vorher erschlossenen Gebiete in der Barentssee.
Elektroautos und Ölexporte
Die hohe Zahl von Elektroautos in Norwegen gilt manchen als Beweis dafür, dass Norwegen in der Umstellung auf fossilfreie Energieformen fortgeschritten ist. Öl ist aber nach wie vor das Haupt-Exportgut - und auch norwegische Ölprodukte erzeugen bei der Verbrennung CO2. Während deutsche Fridays-for-Future-Jugendliche gegen Kohlekraftwerke und Autobahnen durch Waldstücke protestieren, gehen norwegische Jugendliche gegen die fortgesetzte Ölsuche auf die Straße. Dass die Umweltorganisationen konkret gegen die 23. Konzessionsrunde klagen, wird folgendermaßen begründet: Es ist die erste Konzessionsrunde, die nach dem Klima-Abkommen von Paris 2015 zugeteilt wurde.
Die ausgeschriebenen Blöcke in der Barentssee liegen sehr weit abseits bisheriger Infrastruktur und einige davon auch nahe der schwer zu definierenden Eiskante mit besonders empfindlicher Natur. "Nein zu arktischem Öl" ist deshalb eine der Parolen in Zusammenhang mit diesem Prozess. Und selbst wenn dort lohnende Vorkommen gefunden würden, so würden die ersten Tropfen erst zu einer Zeit fließen, in der die Welt sich nach dem Abkommen von Paris eigentlich abwenden wollte vom Öl - nach 2030. Allein die Förderung von Öl und Gas in Norwegen erzeugt aktuell 14 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent jährlich.
Mit der 23. Konzessionsrunde verletze der Staat das im Paragraf 112 des Grundgesetzes garantierte Recht heute junger Menschen und kommender Generationen auf eine gesunde Umwelt. Die Klimaauswirkungen der Ölproduktion dort seien bei der Ausschreibung nicht berücksichtigt worden. Dazu gehöre auch die Verbrennung in anderen Ländern. Die Wirkung eines in Norwegen hergestellten Produktes sei in Norwegen zu bewerten - bei anderen Produkten sei das schließlich auch so.
Das Abkommen von Paris verlange außerdem von allen Ländern größtmögliche Anstrengungen. Norwegen komme dem nicht nach, wenn weiter Öl gesucht werde, obwohl es bereits mehr erschlossene Vorkommen gebe, als man innerhalb der Klimaziele verbrennen könne. Zum Abschluss appellierte Klägeranwältin Cathrine Hambro an die Richter, eine Entscheidung zu treffen, auf die auch ihre Enkelkinder stolz sein könnten.
Die Klage wurde 2016 eingereicht und hat auf dem Weg durch die Instanzen (Urteil Oslo Tingrett 2018, Urteil Borgarting Lagmannsrett 2019) an Bekanntheit gewonnen - wie auch das Klima-Thema insgesamt weltweit. Der Prozess finanziert sich durch Spenden. Zu diesen Spendern gehört auch Greta Thunberg, die 2019 den Preis der privaten norwegischen Stiftung Fritt Ord erhielt und das Geld dem Klimaprozess stiftete. Sie hätte 2019 auch den Umweltpreis des Nordischen Rates bekommen sollen. Diesen lehnte sie mit Hinweis auf die norwegische Ölförderung ab.
Passend zum Ende des Prozesses erschien in Norwegen ein Bericht der Prüfgesellschaft DNV GL: Mit den aktuellen Maßnahmen habe Norwegen keine Chance, die selbstgesetzten Klimaziele zu erreichen.
Die Argumentation des Regierungsverteidigers Fredrik Sejersted geht wie folgt: Der Paragraf 112 sei für diese Zwecke nicht geeignet. Er beinhalte kein materielles Recht und sei außerdem für konventionelle Umweltfragen gedacht, nicht für Klimafragen. Und selbst wenn er materielles Recht beinhalten würde, so beträfe dies nur Dinge, die innerhalb der Grenzen Norwegen geschehen, nicht die Verbrennung von Öl im Ausland.
Der Staat Norwegen handle zudem klimabewusst. Er beteilige sich am CO2-Quotensystem und unterstütze CCS-Projekte. Dass bei der Entscheidung zur Öffnung der südöstlichen Barentssee das Dokument mit der Wirtschaftlichkeitsberechnung nicht vorgelegen habe, sei ohne Bedeutung, denn diese sei ohnehin mit großen Unsicherheiten behaftet gewesen.
Der Unterschied zwischen der Barentssee und anderen norwegischen Ölfördergebieten wurde heruntergespielt: Der Golfstrom-Ausläufer halte das Gebiet eisfrei. Außerdem habe ein Verzicht Norwegens auf eine fortgesetzte Ölförderung vermutlich keine positiven Auswirkungen auf das Klima, denn dann würden andere das Öl liefern. Sejersted empfahl den Zuhörern die Serie "Okkupert" (Besetzt) - darin besetzt Russland mit Zustimmung der EU Norwegen, um die heruntergefahrene Öl- und Gasindustrie wieder anzukurbeln.
Die vorherige Instanz, Borgarting Lagmannsrett, hatte zumindest einen Teil von Sejersteds Argumentation verworfen, obwohl es den Staat letztlich freisprach: Paragraf 112 beziehe sich sehr wohl auch auf Klimaschäden. Und die Förderung von Öl sei von seiner Verbrennung nicht zu trennen - dies sei ja sein Zweck. Für die Klimawirkung sei es auch unerheblich, ob es in Norwegen oder im Ausland verbrannt werde.
Exkurs: Öl- und Gasförderung in der Barentssee
Worin unterscheidet sich die Öl- und Gasförderung in der Barentssee von Norwegens anderen Fördergebieten? 2007 wurde dort das Gasfeld Snøhvit (Schneewittchen) eröffnet. Das Gas wird über eine 160 Kilometer lange Pipeline zur Verarbeitung nach Melkøya vor Hammerfest geliefert. Betreiber ist die staatseigene Gesellschaft Equinor (früherer Name Statoil). Der Ertrag ist stabil und es gibt weitere Vorkommen, die über die Einrichtung erschlossen werden können.
Die Anlage auf Melkøya liegt allerdings gerade still nach einem Brand Ende September. Die erste und bisher einzige Ölbohrinsel in der Barentssee ist Goliat, die 2016 in Betrieb ging. Sie liegt etwa 85 Kilometer nordwestlich von Hammerfest. Der Start war mit zahlreichen Pannen behaftet.
Bisher ist der Ertrag geringer als erwartet. Das Öl wird mit Tankschiffen abtransportiert. Betreiber ist heute Vår Energi AS; Equinor ist zu 35 Prozent beteiligt. Bereits im Bau ist außerdem die schwimmende Produktionsanlage für das Feld, Johan Castberg, etwa 100 Kilometer nördlich von Snøhvit. Betreiber Equinor rechnet mit 400 bis 650 Millionen Fass Öl, verteilt auf drei Fundorte. An der Anlage wurde lange geplant, damit sie auch bei niedrigem Ölpreis wirtschaftlich ist. Nun hat sich der Start bereits verschoben und es wird teurer - teilweise aufgrund Baumängeln und eines Konstruktionsfehlers, teilweise aufgrund von Corona-Einschränkungen der Werft in Singapur. Der Start soll jetzt 2023 sein.
All diese Projekte sind älter als die 23. Konzessionsrunde und wären von einem Gerichtsentscheid zugunsten der Kläger nicht betroffen. Goliat und Snøhvit liegen vergleichsweise nah an der Küste. Johan Castberg liegt schon deutlich weiter nördlich. Mehrere Gebiete der 23. Konzessionsrunde liegen noch nördlicher oder sehr viel weiter östlich. Die Wege dorthin sind weit, was bei schlechtem Wetter zum Problem werden kann - sowohl für den regulären Betrieb als auch für den Einsatz bei Notfällen. Dazu kommen niedrigere Temperaturen, die Gefahr von Vereisung der Anlagen und im Winter eine längere Zeit der Dunkelheit. Je nördlicher, desto größer ist außerdem das Risiko von Meereis.
Erst vor kurzem gab es einen politischen Streit um die Eiskante in der Barentssee. Denn grundsätzlich sollen sich Norwegens Ölanlagen nur südlich davon ansiedeln, aber die Eiskante ist ja keine feste Grenze wie die Küstenlinie. Die Mehrheit des norwegischen Parlamentes stimmte dafür, im neuen Verwaltungsplan die Eiskante dort festzulegen, wo in der Referenzperiode von 1988 bis 2017 mit 15-prozentiger Wahrscheinlichkeit Meereis anzutreffen war.
Diese Lösung hatte den Charme, dass davon keine bereits vergebenen Suchlizenzen betroffen waren. Fachbehörden wie das norwegische Polarinstitut und das Meeresforschungsinstitut hatten für eine Grenze dort plädiert, wo die Wahrscheinlichkeit nur noch 0,5 Prozent betrug, also weiter südlich. Die Eiskante gilt als ein biologisch sehr aktiver und wichtiger Lebensraum, der bei einem Ölunfall massiv und langfristig geschädigt würde. Diese Linie hätte bereits vergebene Lizenzen betroffen.
Die Ölsuchgebiete in der südöstlichen Barentssee haben zudem eine spezielle Geschichte. Denn die Seegrenze zu Russland wurde erst 2010 unter Jens Stoltenberg endgültig ausgehandelt. Erst danach konnte man so weit östlich Untersuchungen vornehmen. Ein interessantes Detail während des Klimaprozesses war deshalb die Bemerkung des Regierungsverteidigers, mit der Öffnung von Barentssee Südost habe man auch norwegische Präsenz dort zeigen wollen.