Nuklearterrorismus
Die "International Atomic Energy Agency" (IAEA) mit neuen Erkenntnissen zum "Nuklearterrorismus"
Während sich die Kampfzone "Cyberspace" ausweitet und Crackerangriffe zum Standardarsenal des Terrorismus avancieren, wird auch eine vormals oft beschworene Gefahr wieder aktuell: der Nuklearterrorismus. Verkündete die "Bombe" noch stolz am Konferenztisch des Kalten Kriegs "Der Friede bin ich", kann das nach der Demontage der Blöcke mit ihren vielfachen Overkill-Kapazitäten nicht länger gelten. Die neue Angst von Gesellschaften vor nuklearen Bedrohungen regt sich nicht nur gegenüber "Schurkenstaaten", sondern auch gegenüber Terroristen.
Nach neuen Zahlen der UN-Organisation "International Atomic Energy Agency" (IAEA) haben sich die Versuche, radioaktives Material länderübergreifend zu transportieren, in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Die IAEA ist ein internationales Forum mit der Aufgabe, die Möglichkeiten staatlicher Kooperation im wissenschaftlichen und technischen Nuklearbereich zu entwickeln. Zugleich überprüft die IAEA nukleare Sicherheitsvorkehrungen und zivile Nuklearprogramme.
Eine jetzt von der IAEA initiierte Konferenz in Stockholm mit internationalen Teilnehmern aus aller Welt befasst sich mit der weit reichenden Thematik der Vorbeugung und Bekämpfung des illegalen Einsatzes nuklearer Materialien. Die IAEA verzeichnet seit 1993 insgesamt 550 Vorfälle von illegalem "Nuklear-Verkehr". Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden 20 Fälle bestätigt, darunter der Diebstahl von radioaktivem Material in Deutschland, Rumänien, Südafrika und Mexiko. Die Mehrzahl der Fälle bezog sich zwar auf Material wie etwa kontaminierte Restmetallen, das nicht erfolgreich zur Bombenfabrikation eingesetzt werden könnte. Aber seit 1993 wurden auch 15 Fälle protokolliert, in denen es um Plutonium oder angereichertes Uran ging, das zum Bau nuklearer Vernichtungswaffen verwendet werden könnte.
Kernwaffen benötigen sogenannte "kritische Massen" von Plutonium oder hochangereichertem Uran. Es handelt sich dabei um die Menge an spaltbarem Material, das eine Kettenreaktion der Kernspaltung auslöst, die so lange fortlaufen muss, bis es zur Explosion kommt. Die Menge des Materials hängt von der jeweils eingesetzten Technik ab. Je nach seiner Isotopenzusammensetzung wird zwischen diversen Qualitätsstufen "weapon grade", "fuel grade" oder "reactor grade" unterschieden. Ca. 8 kg Plutonium werden für den Waffenbau zumindest vorausgesetzt. Bei den von der IAEA jetzt mitgeteilten Fällen wäre keine einzelne Tat ausreichend, um eine Atombombe zu bauen. Aber für die IAEA erschien es besonders beunruhigend, dass in Georgien bei einem Vorfall im April 2000 eine Menge von immerhin fast einem Kilo angereichertem Uran betroffen war.
Seit 1991 kursieren zahlreiche Geschichten aus Russland, aber auch aus anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion über gravierende Sicherheitsmängel bei der Lagerung und dem Betrieb kerntechnischer Anlagen. Selbst Regierungsvertreter räumen ein, dass die Gefahren erheblich sind. So sagte etwa Anfang 1997 der damalige stellvertretende Atomminister Ryabew, dass die Haushaltssituation eine zufriedenstellende Lösung der Schlüsselprobleme nuklearer Sicherheit nicht ermögliche. Besonders bizarr war ein Vorfall, der sich beim "Projekt Saphir" in Kasachstan ereignet hatte: Amerikaner fanden für den Bau von Waffen ausreichende Mengen von Nuklearmaterial, das in Blechschuppen gelagert und mit einem einfachen Vorhängeschloss "gesichert" wurde.
Das Risiko des Nuklearterrorismus gehört nach Ansicht von Morten Bremer Maerli vom norwegischen Institut für Internationale Angelegenheiten in Oslo zu den schlimmsten aller Albträume. Die Nachwehen des Kalten Kriegs bestehen darin, dass die Welt mit dem furchterregenden Vermächtnis von drei Millionen Kilogramm spaltbarem Material leben muss - genug, um 250.000 Bomben herzustellen. Aber wie real sind die Bedrohungen des Nuklearterrorismus wirklich?
Sowohl die Osama Bin Laden Gruppe "Al Qaida" als auch die Anhänger des "Aum Shinrikyo" Kults in Japan haben versucht, ihre terroristische Potenz mit Hilfe nuklearer Schlagkraft aufzurüsten. Dabei haben gerade die Anschläge der Aum-Sekte in Japan 1995 mit chemischen Waffen (Sarin) Politiker für terroristische Bedrohungen mit Massenvernichtungswaffen besonders sensibilisiert. "Aum Shinrikyo" war weiland eine Organisation mit über 40.000 Mitgliedern und verfügte über finanzielle Ressourcen von schätzungsweise einer Milliarde US$, die unter anderem dafür eingesetzt wurden, wissenschaftliche und technische Experten aus verschiedenen Ländern für die "Terrorarbeit" zu rekrutieren.
Schätzungen der IAEA zufolge kommen gegenwärtig ca. 130 terroristische Gruppen in Betracht, von denen atomare Bedrohungen ausgehen könnten. Der Kern des Problems besteht darin, dass die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen nationalstaatlich abgestimmt werden müssen. Auch der beste Schutz in avancierten Industriestaaten wird bedeutungslos, wenn ein Leck reicht, um das Fass zur Explosion zu bringen. Rolf Ekeus, Chef des "Stockholmer Instituts für Internationale Friedensforschung" (SIPRI) fordert daher die Inkorporation der IAEA-Richtlinien in die nationalen Gesetzgebungen und die Harmonisierung einzelstaatlicher Maßnahmen zu einem globalen Gesamtkonzept. Letztlich solle die IAEA eine Führungsfunktion übernehmen, weil Staaten in Eigenregie hoffnungslos überfordert seien. Die Meinung scheint einhellig zu sein. IAEA Direktor General Mohamed El Baradei verwies in einer ähnlichen Stellungnahme auf diese Notwendigkeiten, die sich schon allein im Blick auf den grenzüberschreitenden Aktionsfelder terroristischer Gruppen ergeben. Auch die G8-Staaten beschlossen auf dem Treffen ihrer Außenminister im Juni 1999 in Köln in Zukunft gemeinsam gegen Akte des Nuklearterrorismus vorzugehen.
Auch wenn das Wissen um die technische Konstruktion einer Atombombe angeblich mit öffentlich zugänglichen Quellen möglich sein soll, dürften Bau und Einsatz potenter Nuklearwaffen erheblich schwieriger sein, als es das Menetekel vom Open-Source-Wissen der Vernichtung will. Wenn selbst Staaten mit gewaltigen Mitteln und technischem Know-how - wie etwa der Irak - bislang wohl erfolglos versuchten, nukleare Massenvernichtungswaffen herzustellen, stellt sich das Problem für Terroristen noch erheblich schwieriger dar. Nach wie vor dürfte die Konstruktion einer Kaffeekanne jedenfalls weniger Kopfzerbrechen bereiten als die erfolgreiche Konstruktion einer Nuklearwaffe. Selbst der japanische Sekte "Aum Shinrikyo" gelang es trotz ihrer Anwerbung von Wissenschaftlern und Technikern nicht, diese Waffen herstellen. Vor allem ist es für Terroristen, die im Verborgenen operieren müssen, äußerst schwierig, Testläufe ihrer Wunderwaffen durchzuführen. Ein amerikanischer Waffenspezialist soll gesagt haben: "Die Produktion von einer Million Automobile ist weniger teuer und technisch leichter als einige wenige Rohr-Sprengsatz-Kernwaffen". Gleichwohl dürfte diese Besänftigung einer verunsicherten Öffentlichkeit nicht allzu weit reichen, da neben den Risiken des Eigenbaus weiterhin die Gefahr besteht, dass terroristische Gruppen sich mit gewaltsamen Mitteln den Besitz einsatzfähiger Kernwaffen verschaffen.
Terrorismus-Forscher verwiesen bisher oft auf die sog. "Jenkins-Doktrin". Brian Jenkins, Terrorismus-Experte der amerikanischen Rand-Corporation, entschärfte das explosive Verhältnis von Terroristen zu Massenvernichtungswaffen in dem Motto: "Terrorists want attention, not corpses". Schon Friedrich Hacker hatte 1973 (Vgl. "Terror - Mythos, Realität, Analyse", Zürich 1973, S. 307 ff.) im Blick auf die fatalen Multiplikationseffekte von Massenmedien den Kampf gegen die Aufmerksamkeitsherrschaft von Terroristen durch Informationsbeschränkung und -verzögerung als ein wesentliches Medium erfolgreicher Gegenwehr beschrieben.
Aber apokalyptische Unternehmen, die sich wie "Aum Shinrikyo" oder sonstige Auserwählte ihres jeweiligen Herrn für mehr als Aufmerksamkeitsherrschaft interessieren, lassen diese vormals herrschende Doktrin inzwischen fragil erscheinen. Quasirationale Zielsetzungen von terroristischen Gruppen - etwa die Anerkennung durch die Weltgemeinschaft oder die Durchsetzung minoritärer Interessen, mit der grundsätzlichen Bereitschaft nach ihrem Taterfolg, wieder in den Schoß der Weltgemeinschaft zurückzukehren - können längst nicht mehr für alle Gruppen reklamiert werden. Inzwischen stellt sich das Phänomen in seinen politischen, religiösen und psychologischen Dimensionen so vielfältig dar, dass eine einzelne Kategorie nicht in der Lage ist, sämtliche Motive und Ziele des internationalen Terrorismus zu erfassen (Zur "Veränderung des weltweiten Terrorismus" vgl. etwa Kai Hirschmann. Die Lust an der Zerstörung, herostratischer Terrorismus, die Selbstermächtigung, den überfälligen Weltuntergang einzuleiten oder ähnlich grenzenlose Missionsaufträge von Fanatikern vereinbaren sich nicht mehr mit dem Typus des mehr oder minder berechenbaren Terroristen.
Doch selbst die realen Bedrohungen mit vielfältigen Motivationshintergründen der Akteure sind längst nicht die einzige Gefahr. Sun-Tzu hatte schon vor zweieinhalbtausend Jahren in der "Kunst des Krieges" konstatiert: "Jede Kriegführung gründet auf Täuschung". Eine ohnehin durch Informationsfluten irritierte Öffentlichkeit ist durch Täuschungen über die Existenz von potenten Massenvernichtungswaffen gefährlich zu manipulieren. In Verbindung mit den Publikationsoptionen eines grenzenlos erscheinenden Cyberspace, der auch Einzelnen oder Kleingruppen flächendeckende Multiplikationseffekte beschert, wird die Täuschung als ältestes Medium des Kriegs gefährlich hochgerüstet. Friedrich Hacker hatte noch die Massenmedien als Herolde und Helfershelfer des Terrorismus denunziert, weil beide die Sensation suchten. Doch auch wenn die Medien aus diesem Grund gelernt haben mögen, "die Bombe zu lieben", sind die Terroristen inzwischen längst ihre eigenen Herolde geworden. So mag auch für diese real-virtuelle Informationsherrschaft die Regel des Schachspielers Aaron Nimzowitsch gelten: "Die Drohung ist gefährlicher als die Ausführung". Hierin liegt gegenwärtig vielleicht die unmittelbarste Gefahr des Nuklearterrorismus - jenseits berechenbarer Vernichtungskapazitäten und vehementer Anstrengungen zu ihrer Bekämpfung.