Nummern zum Verrückt werden

Bestimmte Lebensmittelzusätze sollen Kinder hyperaktiv machen

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Unruhige, ungeduldige und aggressive Kinder, die sich nicht konzentrieren oder ihr Verhalten nur schwer kontrollieren können, kennt jeder. Hyperaktiv nennt man das seit einigen Jahren, obwohl fast jedes zweite Kind vorübergehend und meist aus sozialen Ursachen heraus an Konzentrationsschwäche, Nervosität, Schlafstörungen und Hibbeligkeit leidet. Ob es sich dabei immer gleich um das Symptom einer genetisch veranlagten Krankheit handelt oder lediglich um eine Bezeichnung für eine Anzahl von gängigen Verhaltensstörungen im Kindesalter, ist wissenschaftlich und gesellschaftlich noch nicht abschließend geklärt. Trotzdem schätzt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, dass drei bis fünf Prozent aller Kinder unter krankhafter Hyperaktivität leiden, bereits 40.000 Kinder bekommen in Deutschland die umstrittene Psychopille Ritalin, ein Psychostimulans mit zahlreichen Nebenwirkungen.

Einen Ansatz, der in Selbsthilfegruppen auch hierzulande schon seit Jahrzehnten diskutiert wird, bringt jetzt die unabhängige britische Verbraucherorganisation Food Commission wieder in die Öffentlichkeit. Eine von ihr an das Asthma and Allergy Research Centre in Auftrag gegebene Studie ("The Food Magazine", 25.10.2002) kommt zu dem Ergebnis, dass durch den Verzicht auf bestimmte E-Nummern in Lebensmitteln, im Wesentlichen Farb- und Konservierungsstoffe, die Rate von Hyperaktivität von einem in sechs Kindern auf eines in siebzehn Kindern reduziert werden könnte.

Die britischen Wissenschaftler untersuchten hierbei die Farbstoffe Tartrazin (E102), Gelborange S (E110), Azorubin (E122), Cochenillerot A (E124) und den Konservierungsstoff Natriumbenzoat (E211) - alles Zusatzstoffe, die besonders häufig und in vielen von Kindern verzehrten Lebensmitteln verwendet werden, wie zum Beispiel Süßigkeiten, Snacks oder Limonaden. Zwei Wochen lang verabreichten die Wissenschaftler einer Gruppe von 277 dreijährigen Kindern einen Orangensaft mit einer Dosierung der Zusatzstoffe, wie sie auch in herkömmlichen Nahrungsmitteln vorkommt. In den zwei darauf folgenden Wochen erhielten die gleichen Kinder einen genauso aussehenden Orangensaft, allerdings ohne diese Zusatzstoffe. Die Eltern der Kinder protokollierten deren Verhalten in dieser Zeit. Die Auswertung ergab, dass nach Beobachtungen der Eltern die Gabe der Zusatzstoffe bei jedem vierten Kind sein Verhalten hinsichtlich Konzentration, Schlafproblemen, aggressiven Verhaltens oder zeitweisen Tobens signifikant negativ beeinflusste.

Vertreter der britischen Nahrungsmittelindustrie hingegen beurteilen die Studie und ihre Ergebnisse als nicht wissenschaftlich. Alle E-Nummern seien vor ihrer Zulassung in der EU auf ihre toxikologische Sicherheit hin geprüft, so die regierungs- und industrieabhängige British Nutrition Foundation. Außerdem sei es schwierig zu definieren, wie Hyperaktivität bei Kindern aussähe. Bei der Zulassung von Zusatzstoffen wird deren Auswirkung auf den kindlichen Organismus allerdings nicht getestet. Immerhin fast 40 Prozent der Lebensmittel, die ein Kind durchschnittlich zu sich nimmt, sind nach einer Umfrage der Food Commission mit Zusatzstoffen versehen, viele Getränke und Lebensmittel für Kinder enthalten mindestens einen der getesteten Zusatzstoffe, wobei insbesondere die Farbstoffe Süßigkeiten für Kinder attraktiv machen sollen.

Bereits im November 2001 hatte Gordon Walker, Lehrer an der Tywardreath School in Cornwall, mit bestimmten E-Nummern gefärbte und konservierte Süßigkeiten versuchsweise für eine Woche aus seiner Klasse und im Einvernehmen mit den Eltern auch zu Hause verbannt. In dieser Zeit seien die Kinder nicht nur ruhiger und konzentrierter gewesen, sondern hätten dadurch auch bessere Schulleistungen erbracht. Zu vergleichbaren Ergebnissen kamen auch Schulen in Cornish, Sussex und das Seaford College bei ähnlichen Experimenten. Auch der Chemieanalytiker Neil Ward von der Universität von Surrey, der die britische Hyperactive Children's Support Group seit fünfzehn Jahren wissenschaftlich berät, hat bei der Auswertung von vier unabhängigen Studien eindeutige Hinweise dafür gefunden, dass Farbzusatzstoffe und Konservierungsmittel einen schädlichen Effekt auf das Verhalten von Kindern haben.

Die Food Commission empfiehlt daher besorgten Eltern, beim Einkauf auf die Zutatenliste zu achten, auf der in ganz Europa einheitlich E-Nummern vermerkt werden müssen(EU: Lebensmittelzusatzstoffe und Aromen). Das würde allen Kindern zu Gute kommen, und nicht nur jenen, die bereits hyperaktive Symptome aufzeigen. Mehr Überzeugungsarbeit wird die Organisation noch bei den Behörden leisten müssen, um die Lebensmittelindustrie zumindest dazu zu bewegen, dass sie aus kindertypischen Lebensmitteln die umstrittenen Zusatzstoffe herausnimmt. Zumindest in den USA, Dänemark und Norwegen ist der Gebrauch der getesteten Zusatzstoffe zum Schutz der Kinder stark bereits eingeschränkt worden.