Nun gehts ans Eingemachte
Die solidarische "Soylent-Green"-Gesellschaft
In dem Sciencefiction Soylent Green (1973) mit dem erzkonservativen Waffennarr Charlton Heston in der Hauptrolle wird das Problem der Nahrungsmittelknappheit im Jahre 2022 auf ungewöhnliche Weise gelöst: Die Leichen alter, sanft eingeschläferter Menschen werden zu nahrhaftem "Soylent Green" verarbeitet.
Auch wir müssen sparen. Die Kosten der Gesundheitspflege steigen im letzten Lebensjahr so exorbitant an, dass sie angeblich um ein Vielfaches höher liegen als in der gesamten vorherigen Lebenszeit. Welche Zahlen auch immer richtig sein mögen, Moribunde sind jedenfalls ein extremer Kostenfaktor unserer kranken Kassen.
Der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, outete sich nun mit einem konkreten Sparvorschlag: 85-Jährige erhalten von der Krankenkasse keine Hüftgelenke und Rentner keinen Zahnersatz mehr. Was auf den ersten Blick als höchster Ausdruck einer darwinistischen "Catch-as-catch-can"-Gesellschaft erscheint, könnte auf den zweiten Blick etwas plausibler werden. Zumindest alte Menschen mit hoher Rente könnten durchaus hin und wieder in die eigene Tasche greifen, um die vermeintliche Solidargemeinschaft zu entlasten.
Man könnte das rational diskutieren, von Einkommenshöhe und Vermögen abhängig machen, von der Frage, welche gesundheitlichen Maßnahmen bereits Luxus sind, etc. Mißfelders Vorschlag ist in der Tat dagegen etwas platt und politstrategisch anfängerhaft, wenn er sich auf den Konflikt "Generation Mißfelder gegen Generation Hüftgelenk" (Mathias Zschaler, Die WELT) reduziert. Mißfelders Alten-Sparmodell transpiriert den modrigen Duft von "Soylent Green" und der ist für Populisten und Wahlkämpfer geradezu tödlich. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Karl Hermann Haack, labelte die Diskussion als "schleichende Euthanasiedebatte".
So wird also Mißfelder mies gemacht, weil er vor allem ein politisches Verkaufsprinzip verletzt hat: Alle sollen den Gürtel enger schnallen, konkret darf aber keiner getroffen werden. So will es das Gesetz der paradoxen Demokratie, das jederzeit verdeckt, dass Solidargemeinschaften sich entsolidarisieren, wenn es schließlich um mehr als die Solidarität nackter Männer gehen soll, denen ohnehin niemand mehr in die Tasche greifen kann.
Melkanlagen der frommen Schenkungsart
Mißfelders Vorschlag ist viel zu konkret, weil er eine ganze Gruppe dieser Gesellschaft benennt. "Das ist unter aller Sau", kommentierte Stoiber. Freilich wird der Satz erst rund, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es bald den meisten "unter aller Sau" gehen könnte. In einer populistischen Demokratie wird so lange umverteilt, mit der einen Hand gegeben, mit der anderen genommen, bis es einem schwindlig wird. Sozialpolitiker aller Klassen haben dann ihre rhetorischen Erfolgsmeldungen, verkaufen ihren diabolischen Pakt mit den Verhältnissen als harmonieträchtigen Gesellschaftsvertrag, auch wenn das private Säckel des Bürgers dadurch zum geringsten anschwillt.
"Generationenvertrag" ist eine dieser wunderbaren, Gerechtigkeit verheißenden Formeln der temporären Umverteilung, die in Wirtschaftswunderzeiten noch Sinn machte. Heute gibst du und morgen wird dir gegeben werden. Fast biblisch. Wenn diese und andere Formeln sich aber an den Fakten stoßen, kann aus den Solidargemeinschaften, die alle einschließen, sehr schnell ein Krieg aller gegen alle werden.
Mißfelder hatte sich angesichts dieses anschwellenden Krieges darüber mokiert, dass die Alten eine gute Lobby hätten, während die Jungen schlecht repräsentiert seien. Allerdings steht Mißfelder nicht ganz allein da. Auch der christliche Sozialethiker Friedhelm Hengsbach sieht in dem "Stich ins Wespennest" das richtige Signal, wenn es auch verwerflich wäre, allein am Alter als Kriterium anzusetzen und nicht etwa an der Lebensführung unserer Mitmenschen.
Und hier wird dann auch die wahre Frontlinie deutlich markiert: Aus Solidargemeinschaft, Generationenvertrag und den übrigen Melkanlagen der frommen Schenkungsart wird also über kurz oder lang die Sozialneid- und Lebensführungsschuld-Gesellschaft. Das mag man dann als neue Soziallehre einer budgetschwachen Gesellschaft verkaufen, wenn schon sonst nicht mehr viel zu verkaufen ist. Doch das ändert nichts daran, dass wir ab jetzt bereit sein müssen, am Anderen zu sparen. Misstrauisch werden wir nun Einzelne und gesellschaftliche Gruppen danach bewerten, was sie sich aus dem drögen Kuchen noch herausschneiden.
Verteilungskämpfe in einer Wertegemeinschaft, der das Geld ausgeht
Gute Gründe für den Verzicht der Anderen gibt es, gottlob, genug. Ihre moralische Unzulänglichkeit wird zum Ausschlusskriterium für Sozial- und Gesundheitspflegeleistungen: Kranke aller Sorten, Alkoholiker, Raucher, Extremsportler, Verschwender, Behinderte, Asylbewerber stehen also demnächst auf dem sozialethischen Prüfstand, der zugleich zur sozialethischen Prüfung der Prüfer werden dürfte.
Das Ressentiment als neues gesellschaftliches Grundprinzip feiert dann fröhliche Urständ. Immer in Verkennung des Umstands, dass jeder irgendeiner Gruppe angehört, die es nach irgendwelchen Kriterien "verdient" hat, ein wenig kürzer zu treten. Denn letztlich führt diese Diskussion zu nichts anderem als zu der Frage, welche Lebensqualitäten Vorrang vor anderen haben. An sich sind diese Erörterungen in diesem Land hinlänglich bis unerträglich und, wie es schien, abschließend geführt wurden.
Was aber seinerzeit dem Wahn eines faschistischen Vitalismus-Denkens entsprang, kehrt nun auf dem Umweg über die Nöte öffentlicher wie privater Haushalte als scheinmoralische Einsicht in die Notwendigkeit zurück. Und gleich welchen Ursprung diese Sparmodelle auch haben, ihre Unsäglichkeit wird darin enden, dass es sich regelmäßig nicht um Kriterien handelt, die einer Ethik, die diesen Namen verdient, zugänglich wären. Mit einem Wort: Es geht um Verteilungskämpfe, wenn die Ratten das Schiff verlassen und die Boote knapp werden. "Kinder und Frauen zuerst" oder doch erst die Alten und Schwachen oder sowieso nur die Jungen und Starken? Wer möchte das noch entscheiden?
Mißfelder zu prügeln, weil die Verhältnisse die einstigen Spielräume hochtönender Moral schrumpfen lassen, ist allzu billig. Diese Gesellschaft ist eben auf dem besten Wege, sich auch ihren ethischen Standard, der dem Lebensstandard auf dem Fuße folgt, nicht mehr leisten zu können. Da wird es viele fromme Erwägungen geben, die alle nicht darüber hinweg täuschen, dass unsere vorgebliche Wertegemeinschaft, unsere egalitäre Demokratie ohne Geld eben auch diese Werte verkaufen muss. Und wer nun zur Rettung des Generationenvertrags biertischselig dafür plädiert, mehr Kinder zu zeugen, muss dann nur noch zeugungswillige Eltern heranschaffen, die sich von der hiesigen Familienpolitik nicht weiter schrecken lassen.
Wer "Soylent Green" degoutiert, mag vielleicht dann noch einem bescheidenen Vorschlag von 1729 sein Ohr leihen: "Ich persönlich freilich empfehle eher, die Kinder lebend zu kaufen und gleich nach dem Schlachten herzurichten, wie wir es mit Spanferkeln machen." So beantwortete Jonathan Swift die soziale Frage, wie man verhüten kann, dass die Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen. Das war freilich Satire, die sich ihre Moral noch leisten wollte. Swift sicherte sich im Übrigen gegen übel wollende Kritiker seines "Vorschlags" ab: "Ich selbst habe keine Kinder, durch die ich auch nur einen Heller verdienen könnte."