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"Nur Laien können Experten kontrollieren"

Der Wissenschaftstheoretiker Peter Finke über Citizen Science und die Enge des etablierten Wissenschaftsbetriebs

Sie sammeln Daten, forschen über Lokalgeschichte, bieten mit fundiertem Wissen der Atom-Lobby Paroli oder arbeiten emsig an frei zugänglichen Enzyklopädien wie Wikipedia mit: die Laien-WissenschaftlerInnen. Peter Finke, pensionierter Professor für Wissenschaftstheorie und Kulturökologie, hat diese "Forscher-Szene" in dem Buch "Citizen Science - Das unterschätzte Wissen der Laien" [1] analysiert. Im Telepolis-Email-Interview erklärt Finke, warum er heute nicht mehr studieren möchte und akademische ebenso wie politische Maßstäbe neu justiert werden müssen, um eine echte Wissensgesellschaft zu formen.

Herr Professor Finke, Sie sind Wissenschaftstheoretiker und lehrten ab 1982 an der Universität Bielefeld. Im Jahr 2006 traten Sie aus Protest gegen die Bologna-Reform aus dem regulären Dienst aus. - Was hat Sie damals besonders geärgert, was waren Ihre Befürchtungen?
Peter Finke: Die Selbstverständlichkeit, mit der die Politik von der Wissenshaft verlangt hat, sie solle europaweit die Universitätsstrukturen so umbauen, wie sie es vorschreibt, einheitlich noch dazu: Das fand ich unmöglich, frech, unzumutbar. Das ist erstens Fremdbestimmung, passt nicht zu den Lobreden auf die Freiheit der Wissenschaft, und zweitens ist es dumm, denn niemand kennt die beste Struktur; man muss Vielfalt zulassen und Verschiedenes ausprobieren dürfen. Es war also weniger meine Kritik an der Bachelor-Master-Struktur (die nur in zweiter Linie), sondern die am Übergriff der Politik auf einen Bereich, wo sie nichts zu suchen hat.
Meine Befürchtungen waren: (1) Wenn die Wissenschaftler das hinnehmen, dann machen die Politiker das immer wieder, und (2) dass durch die Reform, die Verwaltung abbauen und alles international vereinfachen sollte, das Gegenteil bewirkt wird. Und so ist es gekommen: Nichts ist dadurch so gewachsen wie die Verwaltungsebenen und Evaluierungskommissionen.
Wenn Sie die Entwicklung an den Universitäten beobachten: Was stört Sie heute am meisten?
Peter Finke: Am meisten stört mich die Lethargie der Wissenschaftler. Wir haben uns früher noch immer gegen das meiste gewehrt, was aus den Ministerien kam. Jetzt nimmt man alles meist schulterzuckend hin. Fremdbestimmung pur. Freiheit der Wissenschaft? Dass ich nicht lache.
In tendenziell links orientierten Kreisen rund um Theodor W. Adorno bemängelte man bereits vor einigen Jahrzehnten, dass sich eine gewisse "Produktionslogik" [2] an den deutschen Universitäten breit machen würde. Sind Freiräume für Studierende und Lehrende verloren gegangen?
Peter Finke: Aber hallo. Ich möchte heute nicht studieren. Zeit ist das erste, was sie den Studierenden gestohlen haben. Ein Hamsterrad der Jagd nach "credit points" bewirkt, dass sie alles, was nach Blick über den Tellerrand aussehen könnte, schon aus Zeitgründen meiden. Ich habe Seminare über Kreativität und Transdisziplinarität angeboten (als Wissenschaftstheoretiker ja wohl erlaubt), wurde aber von Kollegen gemobbt, ich würde nicht sorgfältig die Grenzen der Fakultät beachten. Kreative Wissenschaft muss immer eine gewisse Subversivität zulassen. Aber wir haben ein Aufpassertum unter Wissenschaftlern herangezüchtet, wie lachhaft!

Kollegen sind in erster Linie Konkurrenten

Selbst in den geistes- bzw. sozialwissenschaftlichen Fächern kann heute ein Trend zum "Produzieren von Papieren" beobachtet werden. Inwieweit kann man in solch einem Umfeld überhaupt noch echte innovative, kreative - oder auch subversive, gesellschaftskritische - Gedanken und Konzepte entwickeln?
Peter Finke: Natürlich kaum. Die meisten jungen Wissenschaftler sitzen auf Zeitstellen. Sie müssen an ihre Karriere denken, Quantität geht vor Qualität. Subversivität ist gefährlich, also lässt man das gleich. Kollegen sind nicht nur Kooperationspartner in Teams, sondern in erster Linie Konkurrenten um die immer zu wenigen Stellen.
Dass es in der Wissenschaft nur um die Wahrheit ginge, scheint eine schöne Erinnerung an längst vergangene Zeiten zu sein. Es geht um Macht, darum, ein Zipfelchen davon abzubekommen. Nur Papiere in bestimmten Journalen zählen, anderes ist Zeitverschwendung. Man muss auf Englisch schreiben, Deutsch ist als Wissenschaftssprache out. In der TU München sollen ab spätestes 2020 sogar alle (!) Lehrveranstaltungen in allen Fächern (!) auf Englisch gehalten werden. Das haben dort auch die Sozialwissenschaftler mit beschlossen. Faktisch ist dies schlechtes Englisch. Ob die Wissenschaft dadurch besser wird? Mit Sicherheit nicht.
Sie haben sich nach Ihrem Rückzug aus dem universitären Betrieb den "Bürgerwissenschaften", der "Citizen Science" verschrieben. Wie würden Sie als Wissenschaftstheoretiker dieses Gebiet genau definieren?
Peter Finke: Sie sind im Irrtum. Ich habe mich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr - also weit länger als in meiner Universitätskarriere - in Vereinigungen und Bürgerinitiativen zu geschichtlichen, sozialen und naturwissenschaftlichen Fragen engagiert, weil mich alte Häuser, fremde Kulturen und Vögel und Frösche interessiert haben. Und wen habe ich dort getroffen? Zu meiner eigenen Überraschung? Volksschullehrer, Verwaltungsangestellte, Hausfrauen, Ärzte, Richter, Verkäuferinnen, hervorragende Regionalhistoriker, Brückenbauer zwischen den Kulturen, Kartierer der heimischen Pflanzen- und Tierwelt waren. Sie waren Wissenschaftler, aber nicht von Beruf, sondern aus purer Leidenschaft und mit großen, selbst erworbenen Fähigkeiten. Zwei bekamen später sogar einen Ehrendoktor.
Die Definition ist ganz einfach: Es ist ehrenamtlich betriebene Forschung, nicht Berufswissenschaft auf einer Stelle. Sie findet nicht wie bei jener an einer Institution nach deren Bedingungen statt, sondern frei, allein durch Interessen und Fähigkeiten der Personen bestimmt.

Lebensnähe als Prinzip

In Ihrem Buch "Citizen Science - Das unterschätzte Wissen der Laien" schreiben Sie über "Lebensnähe als Prinzip". Ist diese Lebensnähe der traditionellen Wissenschaft abhanden gekommen?
Peter Finke: Natürlich ist die Lebensnähe der akademischen Wissenschaft abhanden gekommen, schon deshalb, weil Nähe dort kein Kriterium mehr ist. Wer den Fortschritt der Wissenschaft nur in Einzeldisziplinen und auf internationaler Ebene sieht, nimmt nicht mehr wahr, dass die penible Dokumentation des alltäglichen Wandels um uns herum eine wichtige, aktuelle Aufgabe ist. Wer sich nur an abstrakten, komplexen Problemen abarbeitet und nur noch mit Profikollegen redet und für diese schreibt, verliert den Blick für die Nähe, das was um ihn herum vor sich geht. Lebensnähe ist tatsächlich keine Stärke der akademischen Wissenschaft, und das ist ein Mangel.
Ich fordere nicht für alles und jedes Lebensnähe, aber das Bemühen, diese nicht völlig zu vergessen, muss jeden Wissenschaftler leiten, auch wenn er noch so abstrakte Fragen bearbeitet. Man kann das nicht als belanglos abtun, wie etwas, das vielleicht ganz nett wäre, aber meist leider unerfüllbar. Wer sich gar nicht mehr darum bemüht, entfernt sich von den Erfahrungen der Menschen auf einen fernen Planeten, auf denen er mit seinen Fachkollegen glücklich zu werden hofft.
Soweit ich das Ihrem Buch entnehme, gibt es bisher vor allem im Bereich der Pflanzenwissenschaften evidente Leistungen der Citizen Science. Wie ist das zu erklären?
Peter Finke: Das ist völlig falsch. Richtig ist, dass es im ganzen Bereich des naturkundlichen Wissens große Leistungen gibt. Und woran liegt das? Zum Teil daran, dass hier Entdeckerfreuden im regionalen Umfeld auch heute noch möglich sind, aber auch daran, dass dies angesichts der grassierenden Biodiversitätsverluste bruchlos in den Wunsch nach Erhaltung übergehen kann. Dann auch daran, dass hier die Profis als erste eingesehen haben, welch große Hilfe ihnen die kenntnisreichen Laien sind, denn ohne diese stünden sie auf verlorenem Posten da.
Aber es ist auch falsch, nur dies zu sehen. Regionalgeschichtliche Werkstätten haben viele Forschungen vor Ort ermöglicht, für die Profihistoriker nie Zeit gehabt hätten. Wenn in Berlin eine Straßengemeinschaft beschließt: Wir schreiben zusammen ein Buch über die Geschichte unserer interessanten Straße, ist das eine großartige Sache. Wenn die AKWs bei uns der Reihe nach abgeschaltet werden, ist das auch ein Erfolg der hartnäckigen Aktivisten. Wenn die DDR zusammengebrochen ist, haben auch die engagierten Leute in den Umweltbibliotheken ihren Anteil daran. Wenn Josef Gens in Köln als Schüler das Poblicius-Grabmal ausgegraben hat, ist das ein spektakulärer Erfolg eines Hobbyarchäologen. Wenn die Hausfrau Ursula Sladek im Schwarzwald ein eigenes, nur mit Naturkraft betriebenes Stromnetz aufgebaut hat, dafür den deutsche Gründerpreis, den deutsche Umweltpreis und das Bundesverdienstkreuz bekommt, ist das doch wohl ein Erfolg, der mit "Pflanzenwissenschaften" nichts zu tun hat!
Liebhaberei, so erklären Sie, sei eine Triebfeder für Forschungstätigkeit außerhalb des etablierten Betriebes. Als zentrales Motiv orten sie jedoch das "bürgerschaftliche Engagement". Das heißt, soweit ich Sie verstanden habe, dass das Engagement für gesellschaftspolitisch relevante Bereiche Laien anspornt, sich selbst in komplizierte Materien zu vertiefen. Kann man diese These quantifizieren?
Peter Finke: Nein. Es gibt keine empirischen Untersuchungen, die das zu quantifizieren erlauben würden. Es ist eine Erfahrungsaussage aus vierzig Jahren eigener Aktivität in solchen Netzwerken und Initiativen. Ich kann sie durch viele Einzelaussagen und Biographien belegen, aber nicht quantifizieren. Warum gibt es solche Untersuchungen nicht? Weil die ganze Ebene der Bürgerwissenschaft bislang angesichts einer Art "Alleinvertretungsanspruchs" der Profis für Wissenschaft negiert, übersehen, gering geschätzt wurde und weiter wird.
Welches bürgerschaftliche Engagement hat Sie persönlich besonders beeindruckt?
Peter Finke: Man kann kaum eines allein herausheben. Der Schweizer Volksschullehrer Felix Amiet hat eine sechsbändige Wildbienenfauna der Schweiz geschrieben, für die ihm die Uni Bern den Ehrendoktor verlieh. Frau Sladek habe ich bereits erwähnt, ihre Leistung ist großartig. Unsere Bielefelder Botanikerin Irmgard Sonneborn hat mit fünfzig angefangen, sich einzuarbeiten; heute ist die 92 und noch immer aktiv.
Der Tonmeister Horst Linke hat allein 2008 auf Sumatra acht neue Fischarten entdeckt. Der Uhrmacher Guido Reitz hat im Hunsrück viele Sprachen gelernt, ihre Grammatik studiert und wurde zu einem Privatgelehrten, dessen Nachlass nun in Marburg verwaltet wird. Der Priener Berufsschullehrer Christian Gelleri hat den "Chiemgauer" erfunden, eine äußerst erfolgreiche Regionalwährung, die viele Nachfolger anderswo gefunden hat. Der Dresdner Landwirt Michael Beleites hat schon zu Stasizeiten, weil man ihn nicht studieren ließ, ein Buch "Pechblende" über den ungeschützten Uranabbau in der DDR geschrieben; später wurde er zum sächsischen Beauftragten für die Stasiunterlagen. Heute hat er schon sein viertes Buch (über Evolution) geschrieben; usw. ..

Es gibt keine scharfe Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft

Wie könnte man "Citizen Science" besser in die Wissenschaft einbinden?
Peter Finke: In mehreren Schritten. Der erste Schritt wäre, dass die Akademische Wissenschaft sich gegenüber kenntnisreichen Laien stärker öffnet und deren Expertisen nicht als zweit- oder drittrangig anerkennt. Ohne dies geht es nicht. Dies ist aber gleichbedeutend damit, dass die in Festreden zu hörenden Töne gegen zu viel Bürgereinfluss auf "d i e" Wissenschaft (z.B. der Bonner Rektor Fohrmann, der Brandenburger Akademiepräsident Stock) aufhören, die besagen: WIR sind die Wissenschaft, IHR seid nur die Bürger/Nichtwissenschaftler. Das ist falsch. Es gibt keine scharfe Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft, wohl eine Übergangszone.
Zweitens müsste man Foren schaffen und Brücken bauen, wo sich Profis und Laien auf Augenhöhe begegnen und miteinander kommunizieren können (also nicht: wo die Profis den Laien die Wissenschaft erklären, sondern wo sich im Prinzip auch Profis in der "Lernerrolle" wiederfinden können).
Drittens müssten viele Freiheitseinschränkungen der akademischen Wissenschaft aktiv abgebaut und flexiblere Strukturen etwa an Universitäten geschaffen werden, die nicht Stimmrechte für "gesellschaftliche Gruppen" vorsehen (dazu gehören heute in vielen Universitätssenaten nicht nur Umweltverbände, sondern z.B. auch politische Parteien (!!!)), sondern schlichte Mitsprachestrukturen, wo Laien ihre Interessen, Wünsche und Sorgen artikulieren können.
Aber: Eine völlige "Einbindung" halte ich nicht für wünschenswert. Ehrenamtliche Forschung wird und soll immer freier sein als berufliche; sie ist auch eine Art wichtiger, dauernder "Stachel im Fleische" der Berufswissenschaft, und das ist gut so.
In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage nach dem "lieben Geld". Wie die jüngsten Aktionen prekär Beschäftigter an Universitäten zeigen, arbeiten viele in diesem Bereich zu Konditionen, die kein echtes Auskommen (Deckung der Lebenshaltungskosten) gewährleisten.
"BürgerwissenschaftlerInnen" arbeiten überhaupt oft ehrenamtlich, also ohne finanzielle Vergütung. Sie greifen die Problematik in einem Buchkapitel auf. - Nicht auf Geld angewiesen zu sein, gewährleistet zwar Freiheit, wenn man als "Citizen Scientist" aber - salopp formuliert - als billiger Daten- oder Wissenszulieferer ge- bzw. missbraucht wird, erscheint mir das nicht sonderlich fair zu sein. - Sie schreiben, dass es man Konzepte entwickeln müsste, die "Rechte an den Daten, aber auch ihren monetären Wert klarer festlegen und eine Schutzbarriere gegen die Aushöhlung der Ehrenamtlichkeit durch unterstellten Allgemeinanspruch und eine vermeintliche Kostenlosigkeit errichtet". Sie skizzieren einige Lösungsansätze. Könnten Sie einen - ihrer Meinung nach vielversprechenden - Ansatz unseren Lesern näher erläutern?
Peter Finke: Die Ehrenamtlichkeit darf nicht angetastet werden. Aber Behörden, die auf solche Daten geradezu angewiesen sind (Umweltämter, Sozialämter, Kulturbeauftragte, Behörden für Regionalgeschichte etc.) und sie jetzt den Bürgerwissenschaftlern abbetteln müssen, müssen in die Lage versetzt werden, hierfür angemessene Aufwandsentschädigungen zu zahlen. Bisher haben sie hierfür (angeblich?) kein Geld. Das Prinzip "Wer etwas erforscht hat, ist der Rechtebesitzer daran" muss uneingeschränkt gelten. Bisher wird moralischer Druck ausgeübt nach dem Motto "Ist doch ehrenamtlich, was Du da gemacht hast, also offenbar kostenlos, also her mit den Daten!" Weiterbildung muss gefördert werden. Vereinspublikationen können heute oft nicht mehr regelmäßig erscheinen, weil sie zu teuer geworden sind. Das muss gefördert werden. Besonders herausragende Leistungen (auch bestimmter Gruppen: Schüler, mutige Forschung gegen Lobbygruppen, originelle Fragestellungen etc.) sollten mit Preisen geehrt werden.
Sie veranschlagen für Deutschland einen Förderbedarf von 50 bis 80 Millionen Euro, um schwerpunktmäßig "Citizen Science" anzuschieben. Welche "sinnvollen Projekte" sollten damit schwerpunktmäßig gefördert werden?
Peter Finke: Es geht nicht um einzelne Disziplinen, sondern um Wissenszusammenhänge. - Teilweise habe ich oben Beispiele genannt. - Was sinnvoll ist und was nicht, müssen die Bürger selbst mitentscheiden dürfen. Sicher ist insbesondere alles sinnvoll, was versucht, drohende natürliche oder kulturelle Verluste rechtzeitig zu dokumentieren und durch Gegenstrategien aufzuhalten. Was attraktive Alternativen des Verhaltens eröffnet. Was Geldverschwendung vorzubeugen versucht. Was Freiheiten des Verhaltens sichert, statt sie einzuschränken. Allein die unvoreingenommene Bestandsaufnahme (Was gibt es auf diesem Gebiet eigentlich bei uns? Wo gibt es das? Welche Risiken sind gegeben, dass die guten Ansätze verschwinden, wenn man nichts tut?) würde vieles ans Licht bringen können, was erhaltenswert und vorbildhaft ist.
Die Idee, die leider heute vorherrscht: "Wir müssen Citizen-Science-Projekte schaffen, entwickeln, aktiv durch Geld fördern" ist falsch. Man muss unvoreingenommen erheben, wo es selbstorganisierte Forschung, Initiativen, Ansätze gibt und warum und wodurch könnten sie gefährdet sein. Und wenn man dies getan hat, braucht man eigentlich nur auf eine Selbstentwicklung zu setzen. Wenn die Rahmenbedingungen hierfür gesichert und verbessert werden, wird sich diese einstellen.
Wie müssten die Mittel konkret eingesetzt werden, sodass auch tatsächlich "Bürger-Wissenschaft" entsteht. Welche Strukturen sind dafür notwendig?
Peter Finke: Vor allem müssen aus einem Topf für Bürgerwissenschaft Laien und Amateure gefördert werden und nicht in erster Linie Profis; genau das aber geschieht gegenwärtig. Man muss den Akzent auf das legen, was ich Citizen Science proper nenne und nicht auf Citizen Science light. Wir brauchen weniger neue Strukturen, als ein neues Denken. Das Elfenbeinturmdenken beherrscht bisher den ganzen Blätterwald. Aber nochmal: Es geht weniger darum, Bürgerwissenschaft aktiv zu fördern, als vielmehr die behindernden Rahmenbedingungen für ihre Selbstentwicklung zu minimieren. Beispielsweise durch Weiterbildung von Wissenschaftsjournalisten, damit diese nicht nur als Reporter der jeweiligen Akademischen Marktlage tätig werden, sondern als kritische Begleiter der gesamten Wissenschaftslandschaft.

Citizen Science ist "direkte Demokratie in der Wissenschaft"

Wissensgesellschaft ist mit dem Begriff Freiheit verknüpft. Was würde eine souveräne Integration von "Citizen Science" an Freiheit für die Gesellschaft bringen?
Peter Finke: Citizen Science ist Wissenschaft, die noch wirklich frei ist. Wer diese wirklich ernst nimmt und nicht als zweitrangig versteckt, schafft eine Herausforderung für die Profis, sich ihrer heutigen Unfreiheit bewusst zu werden und sich genauer zu überlegen, wessen Geld man annimmt, wessen Aufträge man ausführt und von sich aus zu wünschen, dass manches Hochschulgesetz novelliert wird. Bisher geht dies fast ausschließlich von der Politik aus mit dem Ergebnis, dass die Wissenschaftsfreiheit noch weiter eingeschränkt wird (s. NRW).
Aber das wichtigste Resultat für die Gesellschaft bestünde in einer Stärkung der Demokratie. Bürger als gleichberechtigte Gesprächspartner der Experten anzuerkennen, ist der erste, notwendige Schritt, die Fahrt in die Expertokratie zu bremsen. Nur Laien können Experten kontrollieren; dies ist die wichtigste Funktion von Citizen Science. Die Gesellschaft hat davon einen ungeheuren Gewinn: Es ist der Abbau von Privilegien einzelner Gruppen, die sich ihre Angelegenheiten nicht hineinreden lassen wollen. Ich stimme Popper zu, dass die wahren Feinde einer offenen Gesellschaft diejenigen sind, die in einer offenen Gesellschaft (= einer Demokratie) "geschlossene Gesellschaft" spielen wollen. Das geht nicht; es ist der Anfang vom Ende einer Demokratie, wenn man das zulässt. Citizen Science ist ein Modell einer konsequenten Demokratie in der Wissenschaft; oder, wie der Schweizer Journalist Adolf Reichwarth gesagt hat, sie ist "direkte Demokratie in der Wissenschaft". Das ist ein ungeheuer starkes Modell, das die Gesamtgesellschaft nicht kalt lassen kann.
Wäre die Etablierung von Bürgerwissenschaft Ihrer Meinung nach auch ein Schritt in Richtung freiheitlich verfasster Bürgergesellschaft?
Peter Finke: Natürlich. Aber noch einmal: Es geht nicht um die "Etablierung der Bürgerwissenschaft". Es geht um ihre Wahrnehmung und ihre Respektierung als legitimer, wichtiger Basisbereich der Wissenschaft. Es gibt sie, wir brauchen sie nicht zu schaffen. Insofern ist das Bild, das der Gesprächsleiter der Citizen-Science-Gespräche im BMBF benutzt hat, an denen ich anfangs teilgenommen habe, es ginge ihnen um eine Art "Geburtshilfe" in Deutschland, schlicht falsch. Die Kinder sind längst auf der Welt, man hat sie nur bisher nicht bemerkt und ihnen die Aufmerksamkeit gezollt, die sie verdienen, wenn sie sich gut entwickeln sollen. Man verwechselt den neuen Begriff ("Citizen Science") mit einer angeblich neuen Sache. Aber die Sache ist nur in Teilaspekten neu (Internet). Im Wesentlichen ist sie alt. Es gibt das Gewünschte mindestens seit gut zweihundert Jahren. Man muss nur der Aufklärung einen neuen Schub verleihen wollen. Daran scheint es zu hapern.

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[2] http://www.youtube.com/watch?v=OMrtcGBFdMA