Nutzung freier Technologien: "Da sehe ich ein Wissensdefizit in der Bevölkerung"

Warum wir eine digitale Gegenwelt brauchen und wie diese sich auch gegen eine übermächtige Konkurrenz durchsetzen kann. Die Rolle der IT-Freelancer. Interview mit Stefan Mey.

In seinem Buch "Der Kampf um das Internet – Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Internet-Giganten" (C. H. Beck, 2023) entwirft IT-Investigativjournalist Stefan Mey ("Darknet", 2017) eine "Typologie der Digitalen Gegenwelt", die die Errungenschaften der Informationstechnologie gegen staatliche sowie privatwirtschaftliche Angriffe verteidigt und dem kommerziellen Softwareangebot der digitalen Großkonzerne eine gemeinfreie Alternative entgegensetzt.

Neben Kurzporträts einzelner Initiativen und Anwendungen sowie einem Anhang, der Interviews mit bedeutenden Protagonisten der Commons-Szene enthält, liefert Meys Buch zugleich einen Einblick in die Organisationsstrukturen, die Herausforderungen und die soziale Dynamik innerhalb der non-kommerziellen, meist ehrenamtlichen Projekte der digitalen Zivilgesellschaft.

"Eine kleine, feine Szene von digitalen Projekten, die anders funktionieren"

Telepolis hat mit dem Autor über die Herausforderungen gesprochen, vor denen die Gegenwelt steht, wenn sie ein wirkliches Gegengewicht zu den etablierten Strukturen bilden will.

Herr Mey, die technologische Gegenkultur, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, birgt eine "Verheißung", schreiben Sie, und zwar im Hinblick auf eine "Befreiung der Gesellschaft" von der "Übermacht von Konzernen und staatlichen Überwachungs- und Zensurapparaten". Inwiefern ist die Gegenkultur fähig, das zu leisten?
Stefan Mey: Also zumindest sorgt sie dafür, dass es zu fast jedem Big-Tech-Produkt eine Alternative gibt. In der Digitalwelt von heute haben wir auf der einen Seite die extrem mächtigen IT-Konzerne Alphabet, Apple, Meta, Microsoft und Amazon.

Die haben sich die wichtigsten Märkte aufgeteilt. Sie dominieren unter anderem den Markt der Suchmaschinen, der Betriebssysteme, der Browser, der App-Marktplätze, der Onlinewerbung oder der Cloud-Dienste.

Dem gegenüber steht eine kleine, feine Szene von digitalen Projekten, die anders funktionieren: Sie sind meistens nicht-kommerziell, allerdings nicht immer. Typischerweise sind sie datensparsamer, transparenter und demokratischer organisiert.

Sie alle produzieren Gemeingüter, die unter freien Lizenzen stehen und deshalb von allen für alle Zwecke genutzt werden können. Ich nenne dieses Ökosystem die digitale Gegenwelt.

"Wie viel Datenerfassung ist vertretbar, und wo liegen die Grenzen?"

Der Datenschutzbeauftragte Hamburgs erklärte im März, dass die Datensparsamkeit, die Sie als Kernwert der digitalen Gegenwelt bezeichnen, angesichts des wachsenden Gemeinwohlinteresses nicht mehr aufrechtzuerhalten sei.
Stefan Mey. Bild: Sergei Magel
Stefan Mey: Klar, der Zugriff auf Datenmassen ermöglicht tolle, individuell angepasste Funktionen. Und er hilft, mittels Big Data und KI wissenschaftlich und ökonomisch weiterzukommen. Maschinen gelangen auf Basis von Daten zu Erkenntnissen und Fähigkeiten, die für die begrenzten Möglichkeiten des menschlichen Geists verschlossen sind.

Man muss also stets sorgfältig abwägen: Wie viel Datenerfassung ist vertretbar, und wo liegen die Grenzen, die Unternehmen und Regierungen respektieren müssen?

Ich persönlich bin der Meinung, dass man den Datenschutz hoch hängen sollte. Ich bin in der DDR geboren. Dort gab es den berüchtigten Inlandsgeheimdienst Stasi. Der hat mit kläglichen technischen Mitteln und einer Armada von Spitzeln versucht, seine Bevölkerung auszuspähen. Das entstandene Bild war stets lücken- und fehlerhaft.

Allein beim Alphabet-Konzern würden wenige Klicks in Datenbanken und Archiven genügen, um über viele Menschen der Welt herauszufinden, wie sie politisch ticken, wie ihre Religion und sexuelle Orientierung ist, wie es ihnen gesundheitlich und wirtschaftlich geht, wen sie kennen und teilweise sogar, wann sie sich wo aufgehalten haben.

Ich halte das für gefährlich. Macht über Daten ist Macht über Menschen. Und Macht kann stets missbraucht werden.

Riesige Abteilungen hier und Ehrenamtliche dort: "Eine David-gegen-Goliath-Konstellation"

Beklagenswert sind auch die von der "Gegenwelt" angegriffenen Monopolstrukturen. Deren Entstehung lässt sich allerdings vielleicht auch vor dem Hintergrund der Gleichung "mehr Daten, mehr Effizienz" nachvollziehen. Die Nutzer wählen schlicht die bequemste Lösung. Wie begegnet die Commons-Kultur dieser Herausforderung?
Stefan Mey: Einige wenige Projekte sind sehr erfolgreich. Wikipedia hat ein Quasimonopol auf dem Markt der Online-Enzyklopädien. Der Browser Firefox, der Messenger Signal, die Bürosoftware LibreOffice und der MediaPlayer VLC kommen zumindest auf jeweils mehr als 100 Millionen regelmäßige User.

Bei vielen Projekten bewegt sich die Nutzung aber tatsächlich im niedrigen einstelligen Prozent – oder gar im Promillebereich.
Wo zum Beispiel?
Stefan Mey: Zum Beispiel bei Linux auf PCs, bei E-Mail-Verschlüsselung, bei Mastodon, beim Antizensur- und Anonymisierungs-Browser Tor oder bei alternativen Android-Systemen. Das ist schlicht eine Frage von Ressourcen. Wir haben eine David-gegen-Goliath-Konstellation.

Die IT-Konzerne verfügen über riesige Abteilungen, in denen sie innovative Funktion entwickeln und testen und an der berühmten Usability arbeiten können. Deshalb machen die Programme und Dienste der Big-Tech-Unternehmen so viel Spaß. Und sie können auf große Budgets für Marketing zurückgreifen.

Einige Projekte der digitalen Gegenwelt haben durchaus Geld, etwa Wikipedia, Firefox und Signal. Die meisten bewegen sich Ressourcen-technisch aber auf einem extrem niedrigen Niveau. Viel Arbeit spielt sich ehrenamtlich ab.

Große Unternehmen oder Unternehmensverbände sind auch gefragt

Wie kann die "Gegenwelt" dann überhaupt mit den großen Konzernen in Wettbewerb treten?

Stefan Mey: Mehr öffentliche Förderung freier Projekte halte ich für sinnvoll. In dem Bereich passiert etwas, da ist aber noch viel Luft nach oben. Auf EU-Ebene gibt es mittlerweile Fördertöpfe, über die auch kleine Projekte niedrigschwellig an Gelder kommen. Hierzulande vergibt der Prototype Fund Gelder der Bundesregierung.

Vielleicht könnten auch große Unternehmen oder Unternehmensverbände eigene Fördertöpfe aufsetzen. Auch die hadern mit den aktuellen Machtverhältnissen in der digitalen Welt und haben denen – anders als die freien Projekte – kaum Konzepte entgegenzusetzen.

"Mehr Aufklärung"

Tolle Konzepte nutzen aber auch wenig, wenn niemand sie kennt. Oder niemand Lust hat, sich damit auseinanderzusetzen und – aus Bequemlichkeit – lieber die populärsten Produkte nutzt.
Stefan Mey: Ja, da sehe ich schlicht ein Wissensdefizit in der Bevölkerung. Viele Menschen außerhalb von Tech-Szenen wissen nicht, wie groß die Vielfalt der freien Projekte ist, was deren Vorteile sind und dass die Nutzung nicht immer so kompliziert ist, wie sie vielleicht denken.

In dem Punkt könnte es mehr Aufklärung geben. Da sehe ich auch meine eigene Rolle als Journalist. Und ich glaube, dass es Sinn machen könnte, wenn gesellschaftliche Multiplikatoren in die Nutzung freier Technologien einsteigen.
Welche Multiplikatoren?
Stefan Mey: Also wenn zum Beispiel öffentliche Verwaltungen mit ihren Hunderttausenden Angestellten mehrheitlich dazu übergehen würden, Linux zu nutzen, würde das sehr viel Menschen an die Software heranführen.

Auch große zivilgesellschaftliche Akteure wie Kirchen oder Umwelt-Verbände könnten sagen: Wir schauen nicht nur, dass der Strom, den wir beziehen, ökologisch sauber und die Schokolade, die wir essen, fair gehandelt ist. Wir legen auch Wert darauf, dass wir freie Digitalprojekte nutzen und damit diese Welt stärken.

Die produktive Rolle von Open-Source-Geschäftsmodellen

Spielt die berüchtigte "Tragödie der Allmende" (engl. tragedy of the commons), die Verwahrlosung von Gemeinschaftsbesitz durch widerstreitende Nutzerinteressen, eine Rolle?
Stefan Mey: Nein, das klassische Allmende-Problem gibt es in der digitalen Welt nicht. Anders als bei einer öffentlichen Grünfläche macht man sich bei der Nutzung digitaler Güter keine Konkurrenz. Mein eigener Nutzen von Wikipedia, LibreOffice oder Linux wird nicht dadurch geringer, das Millionen andere Menschen dieses Gut zeitgleich konsumieren.
...aber problematisch ist es, wenn nur wenige den Wert schaffen, von dem alle profitieren.
Stefan Mey: Ja, das ist natürlich das alte Problem. Ich habe allerdings den Eindruck, dass das erstaunlich gut klappt. In Wikipedia-Communities hört man regelmäßig die Klage über zu wenig Nachwuchs. Trotzdem enthält die deutschsprachige Wikipedia mehr als 2,8 Millionen Artikel, die oft sehr ausführlich, detailliert, korrekt und auch aktuell sind.

Hinzu kommt die produktive Rolle von Open-Source-Geschäftsmodellen. Die digitale Gegenwelt ist auch deshalb so groß, weil Unternehmen bereitwillig Ressourcen bereitstellen. Hinter dem freien Content-Management-System Wordpress steht maßgeblich das Milliarden-schwere Unternehmen Automattic.

Im Linux-Kosmos tummeln sich zwar viele Menschen, die sich als anti-kommerzielle Hacker verstehen, Hoodies tragen und am liebsten in Hacker Spaces abhängen. Unternehmen spielen aber ebenfalls eine Schlüsselrolle. Linux Ubuntu, Fedora sowie openSuse sind allesamt Gemeinschafts-Entwicklungen von Firmen und Communities.

Und auch auf der Ebene von Einzelpersonen gibt es Open-Source-Geschäftsmodelle.
Wie geht das?
Stefan Mey: In den Communities freier Softwareprojekte sind viele IT-Freelancer aktiv. Denen gelingt es oft sehr gut, ihre ehrenamtliche Arbeit mit ihrer Erwerbsarbeit zu verbinden. Durch das Know-how, das sie im Projekt erwerben, und durch das Netzwerk kommen Sie leichter an gut bezahlte Aufträge.

Leute in der analogen Zivilgesellschaft können von einer solchen Dynamik nur träumen. Wer sich bei der Letzten Generation, der Freiwilligen Feuerwehr oder der Antifa engagiert, profitiert davon nicht automatisch in seinem Erwerbsleben.

"Viel läuft in IT-Projekten über Meritokratie"

Eine Frage, die sich bei den Alternativprojekten auch aufdrängt: Wie kommt (zielgerichtete) Ordnung in dezentrale Systeme? Wie schützen sich Initiativen wie das, wie Sie schreiben, "glamouröseste" Vorzeigeprojekt Wikipedia gegen Einflussnahme und schließlich dagegen, dass die versprochene Demokratisierung nur ein Scheinversprechen ist?
Stefan Mey: Die digitalen Communities stehen vor der gleichen Herausforderung wie analoge Bewegungen. Man will möglichst offen und partizipativ sein.

Andererseits geht es aber nicht gänzlich ohne formale Machtstrukturen. Die stellen sicher, dass die Qualität der Software oder des Inhalteprojekts stimmt und dass nicht undemokratische, informelle Strukturen den Ton angeben.

Viel läuft in IT-Projekten über Meritokratie. Dieses "Wer mitmacht, darf mitbestimmen"-Prinzip ist meiner Meinung nach der sinnvollste und fairste Mechanismus, Macht zu verteilen. Auf der deutschsprachigen Wikipedia beispielsweise hat man ab 150 eigenen Beiträgen Schreibrecht: Eigene Veränderungen sind sofort sichtbar und müssen nicht erst von anderen freigeschaltet werden. Ab 300 Beiträgen ist man "Sichter" und kann Änderungen von Neulingen freischalten oder verwerfen.

Das wichtigste Machtgremium bei Libreoffice ist das Mitglieder-Kuratorium, das den Vorstand der Stiftung The Document Foundation wählt. Anspruch auf einen Sitz in diesem Kuratorium hat laut Satzung, wer "dem Stiftungszweck über mehr als drei Monate nachweisbar Zeit und geistige Arbeit gewidmet hat."

Neben den Communities gibt es oft Organisationen als zweite Säule des Projekts. Bei denen muss man genau hinschauen, wie offen oder geschlossen die Machtstrukturen sind.

Offene Machtstrukturen

Was verstehen Sie unter einer "offenen" Machtstruktur?
Stefan Mey: Die Wikimedia Foundation zum Beispiel, die hinter Wikipedia steht, bemüht sich um eine Einbeziehung der Community. An der Spitze steht ein Vorstand, der sich zur Hälfte selbst wählt, die andere Hälfte der Sitze wird über Community-Wahlen vergeben.

Bei der Organisation hinter dem Browser Firefox hingegen ist das oberste Machtgremium ein Vorstand, der sich ausschließlich selbst ernennt und kontrolliert.

Die Strukturen bei den freien Projekten sind nicht immer so offen und partizipativ, wie man es erwarten könnte. Auch das ist in der analogen Zivilgesellschaft nicht per se anders.

Der Kampf um das Internet – Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Internet-Giganten herausfordern
236 S. C. H. Beck, 2023, 18 Euro
ISBN 978-3-406-80722-0

Zuletzt erschien von Stefan Mey ("Darknet", 2017) das Buch "Der Kampf um das Internet – Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Internet-Giganten herausfordern" (C. H. Beck, 2023). Darin entwirft er eine "Typologie der Digitalen Gegenwelt", die die Errungenschaften der Informationstechnologie gegen staatliche sowie privatwirtschaftliche Angriffe verteidigt und dem kommerziellen Softwareangebot der digitalen Großkonzerne eine gemeinfreie Alternative entgegensetzt.

Neben Kurzporträts einzelner Initiativen und Anwendungen sowie einem Anhang, der Interviews mit bedeutenden Protagonisten der "Commons"-Szene enthält, liefert Meys Buch zugleich einen Einblick in die Organisationsstrukturen, die Herausforderungen und die soziale Dynamik innerhalb der non-kommerziellen, meist ehrenamtlichen Projekte der digitalen Zivilgesellschaft.

Telepolis hat einen Auszug veröffentlicht: "Wer das freie Internet gegen Staat und Konzerne verteidigt"