Oberhaupt der Jesiden gestorben

Archivbild: Ein Plakat mit Nadia Murad, der Friedensnobelpreisträgerin und weltweit bekanntesten Jesidin am Heiligtum in Lalisch, Irakisch-Kurdistan. Foto: Michael Blume / CC BY 3.0

Die größte Anzahl der Jesiden der Diaspora in Deutschland

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Seit 4.000 Jahren leben die Jesiden (auch: Eziden, Esiden oder Êzîdî geschrieben) in Mesopotamien, das Hauptsiedlungsgebiet ist das Schengal-Gebiet im Nordirak. Das Hauptheiligtum Lalisch befindet sich in der Region Sheikhan im Nordirak und ist die Residenz des weltlichen sowie des religiösen Oberhauptes der Jesiden. Seit 300 Jahren ist dieses Gebiet der Jesiden unter dem Namen Fürstentum Sheikhan bekannt.

Die religiöse Minderheit, die vorchristliche Wurzeln hat und ethnisch den Kurden zugehörig ist, war immer wieder in ihrer Geschichte Massakern und Zwangsislamisierung ausgesetzt, zuletzt 2014 durch den IS im Nordirak. In den 1980er/1990er Jahren wanderten fast alle jesidischen Familien aus der Türkei nach Europa aus, nachdem das türkische Militär im Südosten der Türkei über 5.000 Dörfer niederbrannte und die Bevölkerung vertrieb.

Nach Informationen der Bundeszentrale für politische Bildung lebt die größte Anzahl der Jesiden der Diaspora in Deutschland - rund 150.000 bis 200.000 Menschen. Die größte Gemeinde befindet sich in Celle. Weltweit gibt es ca. 1 Million Jesiden.

Nun ist einer der wichtigsten Oberhäupter der Jesiden (auch Jesiden), Mîr Tahsin Said Ali Beg, am 25. Januar 2019 nach langer Krankheit im Exil in Hannover gestorben. Mit seinem Tod endet nicht nur eine personelle Ära, sondern vielleicht auch das Amt des traditionellen Mîr (dt.: Prinz).

Prekäre Situation der Jesiden

Denn Mîr Tahsin Said Ali Beg hatte vorgesehen, dass das Amt nicht weiter traditionell vererbt werden soll. Vielmehr sollte ein jesidisches Parlament seinen Nachfolger wählen. Durch die Kriegswirren, den Überfall des IS und der Massenvertreibung und -flucht ist es dazu nie gekommen. Nun wird sein Sohn Hazim Beg die Geschäfte kommissarisch übernehmen, bis der Religionsrat in Lalisch über die endgültige Nachfolge beraten und entschieden hat.

Mîr Tahsin Said Ali Beg übernahm 1944 nach dem Tod seines Vaters das Amt als weltliches Oberhaupt der Jesiden und hatte dieses sieben Jahrzehnte inne. Er hatte bis zu seinem Tod den Vorsitz des "Geistigen Rates", der wichtigsten Institution im Jesidentum. Mîr Tahsin Said Ali Beg gehörte zur Qatani-Familie, die seit vielen Generationen das weltliche Oberhaupt der Jesiden stellte, während aus der Familie der Schamsanis das religiöse Oberhaupt aller Jesiden, der "Babaşêx" (Vater der Sheikhs), hervorging.

Mîr Tahsin Said Ali Beg setzte sich vehement für die Belange seines Volkes ein und überlebte zwei Attentatsversuche von Anhängern der Baath-Partei und islamistischen Gruppen in den Jahren 1992 und 2003. In der kurdischen Autonomieregion hatte er zunächst politischen Einfluss über die jesidischen Siedlungsgebiete.

2005 erreichte er, dass den Jesiden in der irakischen Verfassung ein Minderheitenstatus zugestanden wurde und sie damit einen Sitz im irakischen Parlament bekleiden konnten. Die kurdische Autonomieregierung beschnitt jedoch seinen Einfluss zunehmend, was dazu führte, dass er auf Distanz zu der Autonomieregierung ging und sie der Assimilation von Jesiden bezichtigte. Nach dem Genozid des IS an den Jesiden forderte er eine Schutzzone im Schengal/Nordirak für das jesidische Volk.

Damit wollte er verhindern, dass auch noch die letzten Jesiden ihr seit Jahrtausenden bewohntes Siedlungsgebiet verlassen und den 2014 geflüchteten Familien eine Rückkehroption bieten. 2015 hatten Tahsin Said Ali Beg und das spirituelle Oberhaupt der Jesiden, Baba Sheikh, eine Audienz bei Papst Franziskus, um auf die prekäre Situation der Jesiden aufmerksam zu machen. Said setzte sich auch wesentlich für eine Öffnung innerhalb des Jesidentums ein, die aus der Versklavung durch den IS befreiten, sexuell misshandelten Frauen und Mädchen wieder in die Glaubensgemeinschaft aufzunehmen.

"Sehr konservative Glaubensgemeinschaft"

Erst dadurch wurde die Rückkehr der zahlreichen aus der sexuellen Versklavung befreiten Ezidinnen in die sehr konservative Glaubensgemeinschaft möglich. Denn in das Jesidentum wird man geboren. Das Kastenwesen sieht auch vor, dass Jesiden nur untereinander heiraten oder sexuellen Verkehr haben dürfen. Im Falle der vergewaltigten Frauen und Mädchen wäre dies einem Ausschluss aus der Glaubensgemeinschaft gleichgekommen.

Neben Tahsin Said Ali Beg ist in Deutschland die Jesidin Nadia Murad, die selbst verschleppt worden war, eine wichtige Fürsprecherin der traumatisierten jesidischen Frauen. Sie wurde zur UN-Sonderbotschafterin ernannt und erhielt 2018 für ihren Kampf gegen sexuelle Gewalt in Konfliktregionen den Friedensnobelpreis.

In Deutschland, wo die zweitgrößte jesidische Gemeinde weltweit lebt, gibt es zwei große Dachverbände: NAV-YÊK , den Zentralverband der Êzîdischen Vereine e.V. und den konservativeren ZED, den Zentralrat der Jesiden in Deutschland. In beiden Dachorganisationen sind verschiedene Vereine organisiert. Darüber hinaus gibt es noch die GEA, die Gesellschaft jesidischer Akademiker, in der jesidische Wissenschaftler und Studierende organisiert sind.

Jesidischer Fernsehsender in deutscher Sprache

Neu hinzugekommen ist seit Anfang des Jahres ein deutschsprachiges Format des jesidischen Fernsehsenders Cira TV mit dem Namen ÇIRA FOKUS. Der Sender möchte mit der 14-tägig donnerstags um 20 Uhr ausgestrahlten Sendung zum einem dem Bedürfnis jener Jesidinnen und Jesiden nachkommen, die nur der deutschen Sprache mächtig sind. Zum anderen möchte der Sender die interessierte deutsche Öffentlichkeit dazu einladen, mehr über das Jesidentum und die Lage in den verschiedenen kurdischen Gebieten zu erfahren.

In Deutschland lebt der größte Teil der aus der Türkei in den letzten hundert Jahren vertriebenen jesidischen Familien. Die mittlerweile dritte und vierte Generation spricht zum Teil weder türkisch noch kurdisch. Die türkische Sprache hat für die jüngere jesidische Generation zum Teil wenig Bedeutung, da sie keine Verbindung mehr zur Türkei haben - die meisten Jesiden sind zuletzt in den 1980er und 1990er Jahren aus der Türkei ausgewandert.

Der kurdischen Sprache sind sie teilweise ebenfalls nicht mächtig, zumindest, was das Schreiben anbetrifft, weil ihre Muttersprache in der Türkei verboten war und ihre Eltern nie gelernt haben, in ihrer Muttersprache zu schreiben. ÇIRA TV ist weltweit der erste Sender der jesidischen Glaubensgemeinschaft und ist auch über das Internet über einen Live-Stream zu sehen.