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Odyssee im Wildraum

Bild: Twentieth Century Fox

Sehnsucht nach Barbarei: Alejandro González Iñárritus Anti-Western "The Revenant" ist ein unangenehmer Film, aber ein Film, den man nicht vergisst

Ächzen, Stöhnen, Röcheln, Aas fressen. Rinde essen. Gras essen. Knochen vom Aas aussaugen. Blut trinken, anschließend auskotzen. Blut und Gedärme aus einem Pferdekadaver schneiden. Nackt in den Pferde-Kadaver kriechen.

Bild: Twentieth Century Fox

Man sieht in diesem Film, wie Köpfe gespalten, Kehlen zerfetzt, Menschenleiber aufgerissen werden. Man sieht, wie ein Bär einen Menschen halb zerfleischt. Man sieht, wie ein Mensch erwürgt wird. Einem Mann werden die Hoden abgeschnitten. Ein Mensch blutet gleichzeitig aus einem Dutzend Körperöffnungen. Ein halbskalpierter Mann. Ein Messer in einem lebendigen Kopf. Ein Beil in einem lebendigen Rücken. Blutsudelkino und Hässlichkeitsfeier a la Alejandro González Iñárritu.

"Ist" so der Mensch? Ja, klar. Nein, natürlich nicht. Aber er will sich heute gern so sehen. Warum? Das ist die interessante Frage.

Zum Wesen des wahren Abenteuers gehört, dass es so ziemlich das Gegenteil eines Abenteuerurlaubs ist. Kein Thermomix, kein Schlafsack im "Black Canyon"- oder "Mumien"-Schnitt, auch kein Hagebuttentee hilft hier der Hauptfigur des Films beim Überleben, noch nicht einmal jene Bärentatzen - die in der Erinnerung eines jeden Karl-May-Lesers in den Büchern des sächsischen Phantasten als Leibgericht vom Sam Hawkins verklärt wurden - gibt es hier. Jedenfalls nicht als Abendmahlzeit, eher schon in die Fr... .Es ist arschkalt und nahrungsarm im Herbst von South Dakota.

Bild: Twentieth Century Fox

Dafür ist der Film mit zweieinhalb Stunden viel zu lang. Er könnte gut eine Stunde kürzer sein, ein schlanker 85-Minuten-B-Film, dann wäre alles gut. So ist das ein Film, der seine Bedeutung auch in seiner Länge und Breite vor sich herträgt, und der sich viel zu wichtig nimmt. Der ein großer "Ich-bin-ein-Oscar-Favorit-Film" sein möchte.

Dies ist ein Film, der die Wahrheit, die er behauptet, etwas zu deutlich ausstellt, der seinen Naturalismus zu einem Hyper-Naturalismus steigert. Sein Held ist mehr ein transzendental warrior und ein Rambo als ein Westerner und Frontier-Man, aber natürlich würde der Film nicht funktionieren, wenn er nicht bei den zahlreichen Freunden wie Feinden Amerikas als archetypisches, quasi-mythisches Portrait "der Wahrheit", also des Wilden Westens "wie er wirklich war" wahrgenommen werden würde. Ein Film, der sich in die Americana, die fortwährende Erzählung des ewigen Amerika, (also eigentlich nur der Vereinigten Staaten des Nordens), einschreibt.

Die Natur ist nicht freundlicher als die Menschen

Kalt ist der Wald und eng der Horizont. "Its ok, son, I am right here. Breath, breath further", nuschelt eine Stimme aus dem Off. Ein Rückblick, schlafwandlerisch, dazu Atem-Geräusche. Eine Handvoll Männer auf der Elch-Jagd. Es wird ein Jagd-Film bleiben, bis zum Ende.

Alles beginnt fast wie ein Werk von Terrence Malick - mit einem Monolog aus dem Off: Die philosophische Meditation eines Menschen inmitten übermächtiger Natur. Dann kommt es zu einer der wenigen wuchtigen Action-Szenen dieses seltsamen, absonderlichen Western-Films, der eigentlich eher ein Anti-Western ist.

Eine Gruppe von Trappern, die in den zwanziger Jahren des 19.Jahrhunderts nach kostbaren Fellen jagen, wird hoch im kalten, ganzjährig winterlichen Norden des amerikanischen Kontinents von Indianern überfallen. Die kennen kein Pardon. Pfeile schießen aus allen Richtungen, töten Männer, setzen Unterstände in Brand.

Von über 40 Männern überleben nur etwa zehn. Per Boot und zu Fuß fliehen sie zurück in vermeintlich sichere Gefilde. Die Natur ist hier nicht freundlicher als die Menschen. Es ist eisig und unwirtlich, es gibt kaum etwas zu essen, dafür wilde Tiere, die die Menschen jagen.

Bild: Twentieth Century Fox

Geleitet wird dieser Trupp der Versehrten von dem erfahrenen Hugh Glass. Der ist ein Scout, der jahrelang bei Indianern lebte, und der von seinem halbwüchsigen Sohn begleitet wird, einem Halbblut. Leonardo DiCaprio spielt diesen Hugh Glass, die Hauptfigur des Films, dessen Personal fast durchweg nach historischen Vorbildern konstruiert worden ist.

Der Film beschreibt ein zentrales Ereignis in der Geschichte der Eroberung des Wilden Westens: Das Schicksal der Rocky Mountain Fur Company [1], ihres Kommandeurs, Captain Andrew Henry [2] und besonders ihres Scouts Hugh Glass [3], der 1971 bereits das Vorbild für den bekannten Spätwestern "Der Mann, den sie Pferd nannten" abgab, wo er von Richard Harris gespielt wurde.

Bild: Twentieth Century Fox

Die Einzelheiten der Filmhandlung sind dabei keineswegs historisch. Sie gehen vielmehr zurück auf den Bestseller [4] von Michael Punke, dem die amerikanische Literaturkritik einen gewissen Exploitationcharakter zuschreibt. Nach allem, was über dieses Buch zu erfahren ist, macht Regisseur Alejandro González Iñárritu das Beste aus der Vorlage.

Der Mensch ist das bessere Raubtier

Nach dem Überfall glaubt die Gruppe der Überlebenden, dass es das Sicherste sein würde, einen neuen Weg über Land zu suchen. Schon früh sind Glass und sein Sohn aber dem Rassismus einiger anderer Überlebender ausgesetzt, die vor allem dem Halbindianer nicht trauen: "Wir sind ein Haufen leichte Beute, und Du und Dein Halbblut-Sohn, ihr lasst uns dann im Stich?"

Bald darauf wird Hugh von einem Grizzlybären angefallen. Neben dem oben erwähnten Überfall ist dies die vielleicht beste, jedenfalls die originellste Szene. Denn der Bär ist nicht einfach ein böses Vieh, sondern ein Wesen, das erst einmal sein Opfer niederstreckt, dann neugierig, schleckt schnüffelt, schnauft, sabbert, dann nochmal reinbeißt, dann sich erstmal von dannen macht, um dann wieder zu schnaufen, zu sabbern, zu schlecken, zu schnüffeln, dann wieder zu beißen...

Bild: Twentieth Century Fox

Hugh tötet ihn trotzdem oder gerade wegen dessen spielerischer Inkonsequenz. Der Mensch beherrscht das Handwerk des Tötens offensichtlich besser als das Raubtier. Schwer verletzt, mit diversen offenen Wunden, und aus allen möglichen und unmöglichen Körperöffnungen blutend bleibt Hugh am Leben. Er wird irgendwie notdürftig zusammengeflickt, ohne Narkose natürlich, blutet weiterhin, scheint chancenlos. Nun muss sich die Gruppe aufspalten. Hughs Sohn und zwei weitere bleiben zurück, sollen Hugh beim Sterben begleiten. Kurz darauf wird Hughs Sohn von dem Trapper John Fitzgerald ermordet und Hugh selbst für tot geglaubt zurückgelassen.

Doch auch Hass und Rache sind Überlebensmittel. Kaum zu glauben, aber Hugh gelingt es, sich aus dem Grab zu befreien und - mit gebrochenem Bein und einer Vielzahl von Wunden - einen Weg zurück in die Zivilisation zu suchen. Die weitere Handlung erzählt dann von Hughs schier unglaublichem Überlebenswillen und seinem Weg, bis es ihm gelingt, den Mord zu rächen und Fitzgerald zu töten.

Ein Film, der sich festsetzt wie eine Zecke

Aber wie! Schon vorher war alles ungemein dreckig, schlammig, schmierig, nass, kalt. Jetzt ist es zum Erbarmen. Wenn Hugh nicht zufällig ein Stück Holz umkrallt, mit dem er sich in einem eisigen Fluss treiben lässt, Wasserfälle hinunter stürzt, an Felsen entlang kratzt, abends versucht Feuer zu machen und zu trocknen, dann frisst er Rinde und Gras, Beeren und kaut auf Holz.

Vielleicht hat er Glück, fängt einen rohen Fisch. Er frisst und kotzt. Einmal isst er das Aas eines toten Bisons, einmal weidet er ein totes Pferd aus, hüllt seinen nackten Körper in dessen wärmendem, noch dampfenden Kadaver. Einmal trifft er gute Indianer, einmal böse. Ein bisschen denkt man, das hier auch alles thematisch so abgehakt wird. Dazwischen ein paar Terrence-Malick-hafte Bilder von Ameisen und anderem Geziefer in Großaufnahmen.

Bild: Twentieth Century Fox

"Ist" so der Mensch? Ja, klar. Nein, natürlich nicht. Aber er will sich heute gern so sehen. Warum? "On est tous des sauvages", sagt hier ein Indianer - die Indianer reden in Ex-Louisiana natürlich gutes Schulfranzösisch - der Mensch als Tier. Das gefällt dem Mensch im 21.Jahrhundert, denn es erleichtert von den Bürden im Angesicht von ISIS und Konsorten.

"The Revenant" ist ein monologischer Film. Vor allem ist er ein oft visuell schwer erträglicher, unangenehm anzusehender, ekeliger Film, ist ein beklemmender Film, ein Film, den man nicht gern sieht, und egal, was jetzt alle wieder schreiben werden, dass man es vor Anspannung in den Sitzen kaum noch aushalte, und wie toll Di Caprio spiele und so weiter, das stimmt alles noch nicht mal halb. Aber es ist ein Film, den man nicht vergisst. Es ist ein Film, der sich in einem festsetzt wie eine Zecke.

Monologisch bleibt "The Revenant" auch weiterhin schon deshalb, weil der Film über weite Strecken nur von einem einzigen Menschen, seiner Hauptfigur Hugh eben, handelt, einem schwerverwundeten, auch sonst mehrfach schwerst traumatisierten Mann, der einsam hunderte von Meilen durchs winterliche Gehölz stapft oder sich auf behelfsmäßigen Flößen über eisige Flüsse treiben lässt, auf der Flucht vor einer Indianerhorde, die ihn töten will, selbst auf der Fährte eines Mannes, der seinen Sohn ermordet hat und den er töten will:

All I had was my boy, and he took him from me, you understand. He is afraid. He knows how far I came to find him. I am not afraid of dying any more. I have done it already.

Dialogauszug

Dies ist also eine Rache-Geschichte. Einmal mehr erzählt der Mexikaner Alejandro González Iñárritu aber vor allem eine Blutsudelgeschichte. Wie "Amores Perros", wie "21 Gramms" eine Story von Blut, Schweiß und Tränen, bei der diese Körperflüssigkeiten auch gehörig ausgestellt werden. Einmal mehr nimmt sich Iñárritu auch viel zu wichtig, hält sich für Gott oder nimmt jedenfalls dessen Posen ein. Nichts von der Leichtigkeit und dem Charme, den "Birdman" hatte.

Bild: Twentieth Century Fox

Einmal mehr ist dies auch ein schwer erträglicher, zugleich fesselnder Iñárritu-Film. Dies ist ein unangenehmer Film, den man nicht gern sieht, dem man sich aber zugleich nicht entziehen kann. Eine Hässlichkeitsfeier und in der Echtheitsbehauptung die aller Kinohässlichkeit zugrunde liegt, auch einfach Blufferkino, wie es Iñárritu leider öfters macht.

Iñárritu gelingt ein symphonisches, dabei aber visuell reduziertes Werk. Die Enge des winterlichen Waldes, die vielen hässlichen Dinge, die man sieht, werden gebrochen und damit zugleich gesteigert, indem es immer wieder grandiose prächtige Naturpanoramen zu bestaunen gibt.

Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten

Das tiefere Thema von "The Revenant" ist hintergründig sehr aktuell: Es gibt um einen Überlebenskampf. Es geht darum, warum Menschen zu töten bereit sind, und wofür sie das Sterben riskieren. Es geht um die Frage, was eigentlich bleibt, wenn die Zivilisation auseinanderfällt?

Iñárritus Antwort scheint klar: Rache, Hass, und Gewalt, Furcht und Eigennutz. Der Film zeigt eine sinnlose Welt, eine Welt als barbarisches Inferno aus Dreck und Amoral, menschenfeindlicher Natur und Menschen, die einander selbst zum wilden Tier werden. Warum sieht man sich das an?

Bild: Twentieth Century Fox

Der Film macht sich wichtig damit, die primitiven Wurzeln der Amerikaner zu zeigen und ein "kritischer Western" zu sein. Das kann man so sehen. Es stimmt zwar, dass sich Iñárritu mit seiner Geschichte auf das Terrain großer Klassiker begibt: Irgendwo zwischen John Fords "The Searchers" und "Der Mann den sie Pferd nannten", zwischen "Spiel mir das Lied vom Tod" und "Little Big Man" liegt auch dieser Film. Und Western, das war schon immer und gerade auch in diesen Spätwestern die Sehnsucht nach Vorgestern, nach den Wonnen der Einfachheit, des Barbarischen, der klaren Regeln und einfachen Gefühle. Western ist Reduktion von Komplexität.

Gut möglich also, dass "The Revenant", der von der Rückkehr zu solchen einfachen Wahrheiten handelt, von der Sehnsucht nach dem Archaischem, nach Primitivität, nach der Natur und dem Sieg der Natur über die Zivilisation, vor allem ein Indiz dafür ist, dass unsere Epoche in ihrem Unterbewusstsein diese Sehnsucht teilt.

Gewalt & Sadismus

"The Revenant" ist viel zu lang. "The Revenant" ist trotzdem spannend und sehenswert und immerhin nervig in der Art, wie er sich in uns festsetzt. Aber er ist kein guter Film. Es ist ganz bestimmt gelegentlich arg kitschig, öfter versteckt männerkitschig und sehr oft klischeetriefend. Er ist enervierend wichtigtuerisch.

Bild: Twentieth Century Fox

Der Film bildet sich viel zu viel auf sich, auf seine Wucht, seine manipulative Kraft und die Erhabenheit vieler Bilder und der Geschichte ein. Da hätte Iñárritu, der kein Gott ist, sondern ein talentierter Regisseur, der sich regelmäßig überschätzt, von Malick lernen können, der tatsächlich ein Kinogott ist, also einer, der mit Welles und Kubrick und Godard und Truffaut in einer Liga spielt. Und alle, die Iñárritu jetzt loben, und Malick gern verreißen, sollten mal besser richtig hingucken.

"Revenge is in the creators hands", hören wir. Trotzdem folgt ein Showdown mit Essential Killing: Ächzen, Stöhnen, Röcheln, Beil gegen Messer, das Messer landet dann im Kopf, das Beil im Rücken, gute Taten werden am Ende vergolten, lernen wir, Blut tropft im Schnee.

Man kann das existentiell nennen oder Exploitation. Allemal tobt sich in diesem Film eine gar nicht so heimliche Liebe zur Gewalt aus und ein Sadismus, dessen billigende Zeugen wir werden.


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https://www.heise.de/-3377591

Links in diesem Artikel:
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Rocky_Mountain_Fur_Company
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Andrew_Henry_%28fur_trader%29
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Hugh_Glass
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/The_Revenant_%28novel%29