Öffentlich-rechtliche Illusion über Indien: Wie ARD und ZDF die Augen verschließen

Seite 2: Bengalen: Was haben Modis Gegner richtig gemacht? Lehren für den Links-Populismus

In Westbengalen konnte Modis NDA-Bündnis bei den gerade ausgezählten Wahlen nur 12 Sitze erzielen, die oppositionelle Koalition INDIA dagegen beachtliche 30. Angesichts der Größe und Komplexität der indischen Gesellschaft mit Hunderten von Sprachen und Kulturen ist es zu früh, Genaueres zu den aktuellen Wahlen sagen.

Doch eine Wahlanalyse aus dem Bundesstaat Westbengalen (kurz: Bengalen) von 2021 könnte Hinweise geben – auch für den politischen Kampf des deutschen BSW gegen die Rechtspopulisten der AfD, insbesondere in den östlichen Bundesländern, zu denen Bengalen einige Ähnlichkeiten aufweist.

Zwei indische Sozialforscher, Souvik Chatterjee, von der Central University of Jharkhand in Ranchi, und Kunal Debnath von der Rabindra Bharati University, Kolkata, haben sich Gedanken über Links- und Rechtspopulismus in dieser Wahl gemacht. Bengalen ist mit 7,5 Prozent der Bevölkerung Indiens (91 Mio.) und 3,5 Prozent der Fläche einer der meist- und am dichtesten besiedelten Bundesstaaten Indiens.

Mamata Banerjee: Wie eine indische Sarah Wagenknecht

Wie eine indische Sarah Wagenknecht führt die bengalische Chief Ministerin Mamata Banerjee eine als linkspopulistisch geltende Partei, den All India Trinamool Congress (TMC). Um Modi Paroli zu bieten, griff die einfallsreiche Politikerin 2016 zum Mittel der Umbenennung ihres Bundesstaates.

Denn es war ein Nachteil, dass Westbengalen bei Parlamentsdiskussionen in Neu-Delhi aufgrund alphabetischer Geschäftsordnung immer erst spät an die Reihe kam. Doch 2019 lehnte Modis Innenministerium die Umbenennung ab, womit das Projekt zunächst torpediert war.

Das Bengalen von Matama Banerjee befindet sich weit im Osten Indiens an der Grenze zu Bangladesch, wo man teilweise auch Bengalisch spricht, mit über 200 Millionen Sprechern eine der zehn Weltsprachen. Mit einem Pro-Kopf BIP von 70.000 Rupien (1.500 US-Dollar) lag man 2015 auf Platz 17 der 29 indischen Bundesstaaten.

Bengalen ist also relativ arm, liegt aber erstaunlicherweise dennoch bei Alphabetisierung und Lebenserwartung über dem indischen Durchschnitt, was auf eine gerechtere Verteilung des Reichtums zugunsten von Bildungs- und Gesundheitswesen hindeutet.

Parallelen zu Ostdeutschland

Einige Parallelen zu Ostdeutschland fallen auf: Westbengalen war kommunistische Hochburg Indiens, denn die marxistische CPI(M) -Communist Party of India (Marxist)- regierte ab 1977 ununterbrochen 34 Jahre lang. Der Marxist Jyoti Basu war bengalischer Chief Minister von 1977 bis 2000 und kein anderer Chef eines indischen Bundesstaates konnte bislang seine 23 Jahre Amtszeit toppen.

Westbengalen hatte damit die längstregierende auch nach westlicher Geschichtsschreibung demokratisch gewählte kommunistische Regierung der Welt (sagt Wikipedia) - die DDR existierte kaum viel länger. Seit der Jahrtausendwende hat sich die politische Landschaft des Bundesstaates jedoch gewandelt, vor allem durch den Aufstieg des All India Trinamool Congress (AITC), einer Regionalpartei, die 1997 unter Führung von Mamata Banerjee als linke Abspaltung der Kongresspartei entstand (wie die WASG etwa zur selben Zeit sich von der SPD separierte).

Die bengalischen Sozialforscher Chatterjee und Debnath haben bei ihrer Studie zu den bengalischen Wahlen 2021 festgestellt, dass hier linker und rechter Populismus um die Macht gerungen haben.

Der linke "Wohlfahrtsstaatliche Populismus" der TMC besiegte den Rechtspopulismus von Modis BJP, den das Autorenduo "Wettbewerbspopulismus" nennt. Sowohl der All India Trinamool Congress (AITC), im Artikel abgekürzt als TMC (Trinamool Congress) benannt, als auch die BJP haben versucht, die Menschen auf ihre je eigene populistische Weise zu mobilisieren.

Wahlen in Bengalen: Das Prinzip der Ausgrenzung

Die Wahl zum bengalischen Parlament fand vom 27. März bis zum 29. April 2021 statt. Getragen von der Popularität der Chief Ministerin Banerjee konnte der TMC (AITC) seinen Stimmenanteil auf 48 Prozent steigern und gewann damit 72 Prozent der Mandate.

An zweiter Stelle folgte Modis BJP, die 38 Prozent der Stimmen 26 Prozent der Mandate gewann, die sich mit dem Rückenwind der Modi-Regierung auch in Westbengalen festsetzte.

Die als Wahlgeschenke von Modi verteilten Essenspakete, auf denen groß sein Konterfei prangt, sind vermutlich nur eine seiner populistischen Maßnahmen, die an bayrische Bierzelt-Bretzeln erinnert.

Auch der TMC ging ähnlich vor, aber ohne Nicht-Hindus zu benachteiligen – Bengalen hat mit 30 Prozent einen hohen Muslimanteil. Das Nachsehen hatten die Marxisten und die Kongresspartei.

Muslime bewerten die BJP wohlweislich als existenzielle Bedrohung. Für einen Teil der säkularen bengalischen Hindus ist die BJP dagegen für Preiserhöhungen bei Konsumgütern verantwortlich, so Chatterjee und Debnath, auch wird der BJP vorgeworfen, dass ihre Führer falsche Versprechungen gemacht haben. Dennoch habe die BJP in den städtischen Gebieten vergleichsweise gut abgeschnitten.

Die Kampagne des TMC basierte auf der regionalen Identität Bengalens und der Darstellung der BJP als kulturellem Außenseiter; die BJP gilt demnach als nordindische Partei, die versucht, Bengalens Kultur, säkulare Gesellschaft und intellektuelles Erbe durch ihre nordindische Version des Hindutva-Narrativs zu zerstören.

Das Prinzip der Ausgrenzung anderer, mit dem die BJP arbeitet, wird so von der TMC gegen die Hindutva-Partei gewendet. Folglich setzte der TMC auf religiöse Vielfalt und Harmonie zwischen Hinduismus, Islam und Christentum als Teil des reichen historisch-kulturellen Erbes Westbengalens.

Erfolg des Linkspopulismus

Dazu kam eine "Almosenpolitik" der TMC, so Chatterjee/Debnath, die für das einfache Volk akzeptabel zu sein scheint, ganz gleich, wie sehr der TMC auf lokaler Ebene der Korruption beschuldigt wird.

Das Geheimnis des TMC in Westbengalen scheint also gewesen zu sein, Soziales mit regionalen Identitäts- bzw. Kulturbesonderheiten zu kombinieren, um einen Linkspopulismus unter den extremen Bedingungen der rechtspopulistisch- bis rechtsradikalen Modi-Bundesregierung zum Erfolg zu führen.

Taktische Lehren, die gezogen werden können

Verallgemeinerte Lehren daraus könnten sein: Unter Bedingungen einer Dominanz digitaler Medien von Facebook bis Tiktok scheinen populistische Kräfte auch in Indien im Vorteil zu sein.

Um die Demokratie vor einer sich immer weiter ausbreitenden Dominanz des Rechtspopulismus zu bewahren, sind daher evtl. auch von links gewisse Konzessionen in der Methodik und Taktik von Wahlkämpfen nötig.

In Europa steht nach Italiens Rechtsrutsch derzeit Frankreich vor einer Wahl, bei der die Rechtspopulisten sich die Hände reiben.

In Indien ist die Lage bereits ernster, politische Morde und Unterdrückung greifen um sich und lassen an die grausame Geschichte Indonesiens und den in Deutschland immer noch weitgehend unbekannten Indonesian Genocide denken.

Sogar eine digital hochgerüstete Version der berüchtigten Jakarta-Methode scheint durch die faschistisch-religiöse Variante des Modi-Neoliberalismus zu drohen. Die unkritische Haltung vieler westlicher Medien zum Leiden Indiens am Modi-Regime erinnert fatal an die Ignoranz, die hierzulande Indonesiens Geschichte entgegengebracht wird.