Öffentlich-rechtliche Medien: Es gibt keinen "Tag der Befreiung" mehr
RBB, Tagesschau und die Waffe des Schweigens: Warum wird etwas ausgewählt und weshalb wird anderes, Wichtiges weggelassen? Ein Anstoß zur Debatte.
"Der geschickte Journalist hat eine Waffe: Das Totschweigen – und von dieser Waffe macht er oft genug Gebrauch."
Vor mehr als 100 Jahren, am 13. Oktober 1921, bemerkte dies Kurt Tucholsky, einer der später bekanntesten Publizisten während der Zeit der Weimarer Republik, in seinem Essay Presse und Realität.
Es wäre spannend zu erfahren, was Tucholsky – auch als klassischer Antifaschist – zu einigen aktuell ausgewählten, weil auf besondere Weise auswählenden Beispielen der Berichterstattung öffentlich-rechtlicher Medien zu sagen hätte. Die mögen hier nicht repräsentativ sein, aber doch in gewisser Weise "pars pro toto" stehen.
Staatskritische Sichtweisen fehlen
Gemeinsam ist den Beispielen, dass wichtige ergänzende Aspekte und damit auch regierungs- oder gar staatskritische Sichtweisen fehlen – bezöge man möglichst weite Teile des Publikums hierzulande in die Gesamtschau ein. Einfach fehlen – oder aber, ob nun bewusst oder unbewusst auswählend, weggelassen wurden.
Ein sich offenbar verschärfendes Problem bezüglich gelingender gesellschaftlicher Kommunikation. Denn es ist verbunden mit der allerersten Freiheit laut Artikel 5 GG, mit der Meinungsfreiheit. Viele Menschen hierzulande nehmen, je auf ihre Weise, seit einigen Jahren wachsend wahr, dass die offiziell akzeptierten Korridore der als "normal" gerahmten Themen, Quellen und nicht zuletzt Meinungen enger werden.
Dass veröffentlichte Meinung und davon abweichende öffentliche (oder eben halböffentliche) Meinungen sich gegeneinander verselbstständigen. Man sich wechselseitig meidet und tendenziell diffamiert. Gut gegen Böse, Schwarz oder Weiß. Vor allem in Hinsicht auf Krisen und Konkurrenzen, auf Corona und Kriege.
Der 8. Mai: Vorherrschende Formulierungen
1. Mit Blick auf den 8. Mai dieses Jahres wurde an jenem Tag im rbb-Inforadio immer wieder geredet, vor allem vom "Tag des Endes des Zweiten Weltkrieges". Das war die vorherrschende Redeweise.
Vielleicht, weil es mittlerweile auch (wieder) der herrschenden Perspektive entspricht? Was aber fehlt in dieser Hinsicht? Es mangelt auch hier an Artikulation verschiedener, insbesondere abweichender Sichtweisen auf diesen historischen Tag.
Relevante "andere" Meinungen zu diesem Thema finden sich kaum wieder. Gegen Ende des Beitrages wird zwar zweimal vom "Tag der Kapitulation" geredet. Aber hier gesamtdeutsch keine Rede (mehr) vom "Tag der Befreiung" (was immerhin der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 ja erstmals offiziell getan hatte).
In der DDR wurde dies nicht nur seit Anbeginn die offizielle, sondern auch eine alltägliche Bezeichnung. Im kleineren deutschen Staat blieb, trotz der von Mangel geprägten Wirtschaft, jener "Tag der Befreiung" von 1950 bis 1967 und dann nochmals zu den "runden" Gedenktagen 1975 und 1985 arbeitsfreier Feiertag.
Im erwähnten rbb-Beitrag erst recht keine Rede (mehr) vom "Tag der Zerschlagung des deutschen Faschismus". Es gibt, scheinbar, keine "Befreier" mehr. Zumindest keine sowjetischen. Irgendwie war dieser Zweite Weltkrieg halt irgendwann zu Ende – es wird darüber normalisierend geredet wie z.B. über das Ende der Sommerzeit. War da noch was? Oder kann das weg?
Echo der Vergangenheit: Filter und grobe Fehler
2. Gleiches Thema, ähnliche Baustelle: Am 9. Mai schreibt der ARD-Korrespondent in Moskau, der erfahrene, laut Wikipedia seit 1997 beim WDR fest angestellte Journalist Björn Blaschke, zu jener Zeit in Tiflis stationiert, Folgendes auf tagesschau.de, unter der Überschrift "Putins Parade – Putins Propaganda":
(...) 1945 war das Ende des Zweiten Weltkriegs zuerst am 8. Mai im Hauptquartier der US-Truppen im französischen Reims besiegelt worden. Dann wurde die Zeremonie der deutschen Kapitulation auf sowjetischen Wunsch im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin Adlerhorst (sic!) am 9. Mai (sic!) wiederholt. Seither erinnert Russland (sic!) an diesem Tag an die bedingungslose Kapitulation Deutschlands (…).
Björn Blaschke
Mal abgesehen von der sehr deutlich Putin-kritischen Rahmung (Framing): Kein Wort (mehr) davon, dass die Hauptlast der Zerschlagung des Nazi-Regimes die Sowjetunion zu tragen hatte, insbesondere deren Menschen und deren Truppen.
Und in diesem Rahmen dann innerhalb von anderthalb Sätzen gleich drei glasklare Fehler, die jedem Faktencheck oder Faktenfuchs (oder auch nur einem einfachen Redigieren) hätten auffallen müssen, sofern es um Sachlichkeit und Objektivierung geht: In Berlin gibt es einen Stadtteil "Adlershof", und es gibt vielleicht sogar in Berlin hier und da einen "Adlerhorst" auf einem Baum.
Zum Beispiel aber weiß jedes Kind aus DDR-Zeiten und auch sonst sicher fast jeder Mensch nicht nur in Berlin, dass es hier natürlich um Berlin-Karlshorst geht. Dort begann am späten Abend des 8. Mai die Gegenzeichnung der Kapitulationsurkunde.
Die Rahmensetzung
In Moskau war es zu diesem Zeitpunkt wegen der zwei Stunden Zeitzonen-Differenz bereits der frühe Folgetag, der 9. Mai. Richtig ist zudem im Gegensatz zu Blaschkes Bericht, dass "seither" (seit 1945) bis zu ihrem Ende (1991) in der gesamten Sowjetunion mit ihren 15 Teilrepubliken (einschließlich der Ukraine) dieser Feier-Tag begangen wurde, und erst seitdem dann in einigen der früheren Sowjetrepubliken als Nachfolgestaaten, wie z.B. in Russland und viele Jahre auch noch in der Ukraine.
Auch und gerade dieses Auswählen erscheint problematisch: Warum wird der Bezug auf die Sowjetunion weitestgehend weggelassen und die Formulierung stattdessen ganz deutlich auf Russland reduziert?
An diesem Beispiel lässt sich exemplarisch lernen, dass das allgemeine Framing (Rahmensetzung) eines journalistischen Beitrages, eine entsprechende Auswahl mit gewissen Einseitigkeiten auch durch Weglassen und schließlich schlichte handwerkliche Fehler kaum zu trennen sind, sondern zusammenhängen und einen solchen Beitrag in seiner Tendenz bestimmen.
"Vermeintliche" Propaganda
3. Ähnliches Thema, ähnliche Fragwürdigkeiten: Im Tagesschau-Newsticker und hier wird immer mal wieder folgender "Stehsatz" zum Krieg in der Ukraine wiederholt:
Die russische Seite, die seit mehr als zwei Jahren einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland führt, meldet im Fall ukrainischer Drohnen- oder Raketenattacken oft nur vermeintliche (sic!) Erfolge der eigenen Luftverteidigung.
Tagesschau-Newsticker
Mal abgesehen davon, dass "vermeintlich" eine sehr klare Ab-Wertung, also ein deutlich negativer Kommentar ist, der in einer Nachricht kaum etwas zu suchen hat, zumal ohne jeden Beleg oder Quellenangabe: Es ist höchstwahrscheinlich so, dass die russische Kriegs-Propaganda eigene Erfolge übertreibt oder sogar komplett erfindet.
Was aber ist mit den Darstellungen der ukrainischen Kriegs-Partei? Beschreiben diese jeweils wahrheitsgemäß das Kriegsgeschehen?
Wieso wird die eine Seite dargestellt, und zwar auch im informationsbetont sein sollenden Nachrichten-Ticker deutlich wertend – die andere Seite aber gar nicht? An dieser Stelle einfach weggelassen. Gar nicht erst artikuliert.
An anderer Stelle heißt es dann (am 10.5.) im selben Medium ebenfalls im Live-Blog:
Das ukrainische Militär hat nach eigenen Angaben in der vergangenen Nacht zehn russische Kampfdrohnen abgefangen und zerstört. Das seien alle gewesen, die die russischen Streitkräfte gestartet hätten.
Kein Wort darüber, inwiefern das womöglich auch nur "vermeintliche Erfolge" seien. Hier wird ganz offenkundig mit zweierlei Maß gemessen, es werden deutliche Doppel-Standards verwendet. Indem einerseits Nachricht und abwertender Kommentar explizit vermischt werden und auf der anderen Seite Einordnung und professionelle Distanz weitgehend "weggelassen" werden.
Welches Bild des Gesamt-Geschehens wird damit nachrichtlich als Medienrealität vermittelt? Ein realistisches? So viele Fragen!
Und eine übergreifende dabei: Inwiefern und warum steht Vertrauen gegenüber Medien offenbar infrage, ist tendenziell im Sinken, nicht zuletzt hierzulande?
Mehr Artikulation, weniger Auslassung: Die Verantwortung der Medien
Eine Antwort wäre: Es geht (auch) um das eben beispielhaft skizzierte Problem der (mangelnden) Artikulation, der (fehlenden) Repräsentation nicht geringer Teile der Leute, die solche Medien nutzen (sollten): Medien sollen das leisten, was in Ergänzung zu Artikel 5 GG sowohl entsprechende Medien-Gesetze und -Verträge als auch höchstrichterliche Entscheidungen als Artikulations-Aufgabe des Journalismus bestimmen.
Das heißt: Möglichst allen wichtigen Strömungen, Tendenzen und Bereichen der Gesellschaft – auch und vielleicht gerade den widersprüchlichsten – Ausdruck verleihen.
Also sich um Perspektivwechsel und Objektivierung bemühen, insbesondere in den nachrichtlichen Bereichen des Journalismus. Es gilt damit, offen zu sein auch für abweichend oder gar abseitig Erscheinendes.
Mutmaßliche oder tatsächliche Minderheiten "da draußen" könnten ja durchaus (auch mal) recht haben. Also: Mehr auf Augenhöhe, mit vielfältigen Angeboten beitragen wollen zum gesellschaftlichen Austausch – und weniger von oben herab und somit (zumindest gefühlt) autoritär-einseitig "senden" wollen.
Die selbstverständlichen Einflüsse
Und damit zurück zu Tucholskys erstaunlich aktuellem Text: Es stand für ihn fest, dass "die Presse" (andere journalistische Medien gab es damals noch nicht) nicht die Wirklichkeit spiegele, sondern auswähle – und bei dieser Auswahl "auf das kräftigste durch die Realität selbst unterstützt und beeinflusst" werde.
Beeinflusst nicht nur bestenfalls im Sinne einer Orientierung an Fakten (die ja als "Tatsachen" erst von uns Menschen geschaffen werden), sondern auch im Sinne des strukturellen Einflusses von organisierten Interessen.
Schon Tucholsky hatte erkannt, dass offene Korruption oder direkte, persönliche Einflussnahme das geringere Problem wären, weil leicht erkenn- und kritisierbar, für Medienschaffende wie für das Publikum.
Viel fragwürdiger sind ihm zufolge die unbewussten, scheinbar selbstverständlichen Einflüsse ("den Redakteuren so in Fleisch und Blut übergegangen"), dass sich damals wie heute bei praktisch allen Medien – nicht zuletzt bei den als besonders "unabhängig" oder "überparteilich" markierten – eine "unausgesprochene Tendenz" rekonstruieren lässt.
Darüber sollten wir reden, denn gerade dieses Thema scheint 2024 mindestens ebenso wichtig wie 1921. Arbeitstitel: Hundert Jahre "Ausgelassenheit".