Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Wie einseitig sind die Nachrichten?

Studie "Was fehlt?" nimmt ÖRR unter die Lupe: Es zeigt sich ein sehr deutlicher Sichtbarkeitsvorsprung der Regierungs- gegenüber den Oppositionsparteien.

Mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Mercator haben die Kommunikationswissenschaftler Marcus Maurer, Simon Kruschinski und Pablo Jost die "Perspektivenvielfalt in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformaten" untersucht.

Die Studie mit dem Titel "Fehlt da was?" wurde vergangene Woche in Berlin vorgestellt. Zentrales Ergebnis: Im Vergleich zu anderen Medien ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR) nicht besonders einseitig, wie ihm dies oft vorgeworfen wird.

Welche Medien ausgewertet wurden

In die Auswertung wurden neun ÖRR-Sendungen einbezogen: die Hauptnachrichtensendungen von ARD (Tagesschau, 20 Uhr) und ZDF (heute, 19:00), die zugehörigen Websites (tagesschau.de, heute.de), die reichweitenstarken Fernsehnachrichtensendungen unterschiedlicher ARD-Regionalsender (BR-, MDR-, RBB- und WDR-Nachrichten jeweils 21:45 Uhr) und die Hörfunknachrichten im Deutschlandfunk (20:00 Uhr).

Zum Vergleich werteten die Forscher das Angebot von 38 privatwirtschaftlichen Medien aus. Ihr Sampel umfasst die sogenannten Leitmedien RTL Aktuell (18:45 Uhr), SAT.1-Nachrichten (19:55, ab 19. Juni 2023 als newstime um 19:45) und die sechs überregionalen Tageszeitungen Bild, Süddeutsche Zeitung, FAZ, Welt, taz und Handelsblatt.

Ferner wurden die reichweitenstärksten Regionalzeitungen in jedem Bundesland sowie drei weitere Regionalzeitungen mit besonders hoher Reichweite unterschiedlicher Verlagsgruppen in die Untersuchung einbezogen (u.a. General Anzeiger Bonn, Münchner Merkur und Sächsische Zeitung).

Ins Sampel kamen noch die drei wöchentlichen Publikationen ZEIT, Spiegel und Focus sowie die besonders reichweitenstarken Web-Angebot spiegel.de, ntv.de, t-online.de und web.de.

Auch "Extremmedien" sind dabei

Um die politischen Ränder abzudecken, wurden auch Neues Deutschland, Junge Welt, Junge Freiheit und Tichys Einblick untersucht, jeweils mit ihren Online-Ausgaben. Diese vier als "Extremmedien" bezeichneten Angebote werden jedoch bei Analysen, in denen "die Berichterstattung aller öffentlich-rechtlichen Formate zusammengefasst mit der Berichterstattung der privatwirtschaftlich organisierten Medien" verglichen wird, nicht einbezogen.

Insgesamt wurden so aus 47 verschiedenen Medien insgesamt 9.389 Beiträge aus dem Zeitraum April bis Juni 2023 inhaltsanalytisch ausgewertet.

Themenvielfalt

Die ursprünglich erfassten etwa 40 Einzelthemen wurden für den Vergleich zwischen ÖRR und privatwirtschaftlichen Medien zu acht Bereichen zusammengefasst. Berichte aus dem Themenfeld Wirtschaft/ Arbeit kamen im ÖRR insgesamt am häufigsten vor.

Mit einigem Abstand folgten Sozialpolitik, Außenpolitik und Beiträge, die kein Sachthema behandelten, sondern einzelne Parteien oder Politiker in den Mittelpunkt stellten (jeweils 15 Prozent). Deutlich seltener kamen z.B. Themen wie Innere Sicherheit oder Kultur/Bildung vor.

Studie "Fehlt da was?"

Die Unterschiede zwischen ÖRR und Vergleichsmedien sind überwiegend gering. Nur "Rente" wird in den Vergleichsmedien mehr als doppelt so häufig thematisiert (in 0,7 statt 0,3 Prozent aller Beiträge). Migrationspolitik taucht im ÖRR in sieben Prozent, in der Vergleichsgruppe in sechs Prozent der Nachrichten auf.

In der Summe wurde die Themenvielfalt als Entropiewert gemessen. Den Unterschied zwischen ÖRR und Vergleichsmedien erklären die Forscher mit den "zeitlichen Beschränkung auf die Top-Themen des Tages" in den zeitlich begrenzten Rundfunksendungen.

Auf der X-Achse steht der Wert 1 für größtmögliche, der Wert 0 entsprechend für keine Themenvielfalt. Quelle: Studie "Fehlt da was?"

Akteursvielfalt

Für die Auswertung der Akteursvielfalt wurden die ursprünglich etwa 150 Einzelpositionen in sechs Gruppen zusammengefasst.

Akteure von besonderem Interesse, "z. B. Angehörige verschiedener Minderheiten und Organisationen, die ihre Interessen vertreten", werden in der Studie zusätzlich einzeln ausgewiesen. Dabei wurde jeweils der Anteil einer Akteursgruppe an allen Akteuren berechnet.

Diejenigen, die nur erwähnt werden, werden solchen gegenübergestellt, die auch selbst zu Wort gekommen sind (sog. Sprecher).

Keine nennenswerten Unterschiede

Der ÖRR berichtet am häufigsten über politische Akteure (55 Prozent). Nennenswerte Unterschiede zu den privaten Medien finden sich auch hier nicht.

Mit jeweils rund zehn Prozent folgen etwa gleichauf internationale politische Akteure, Interessenverbände, Wirtschaftakteure (z. B. Unternehmensvertreter) und die Bevölkerung im Allgemeinen. Unter den Interessenverbänden dominierten Arbeitgeber- und Arbeitnehmer- sowie mit Einschränkungen Umwelt- und Klimaschutzorganisationen.

Studie "Fehlt da was?"

Auch bei den erwähnten und zu Wort kommenden Parteien gleichen sich die Medien. So stammen beim ÖRR 33 Prozent davon aus der SPD, bei den Vergleichsmedien 31 Prozent.

Von den Grünen stammen 28 Prozent bzw. 25 Prozent, von der FDP 12 Prozent bzw. 14 Prozent, von der Union 19 Prozent bzw. 21 Prozent, von der Linken in beiden Gruppen 3 Prozent und von der AfD jeweils 5 Prozent.

Bewertung politischer Akteure: Überall überwiegend negativ

In allen Mediengruppen wurden politische Parteien während des Erhebungszeitraums überwiegend negativ bewertet.

Die neun ÖRR-Formate bewerteten die SPD im Saldo aus positiven und negativen Beiträgen noch relativ ausgewogen (-3 Prozent), Union (-27 Prozent), Grüne (-29 Prozent) und FDP (-38 Prozent) hingegen deutlich negativ.

In den privatwirtschaftlichen Medien schneidet auch die SPD deutlich negativ ab (-21 Prozent). Die Grünen wurden in den Vergleichsmedien nochmal negativer bewertet als beim ÖRR (-45 Prozent).

Die Studie stellt fast, dass die Parteien-Bewertungen in den Medien nicht über das gesamte mögliche Spektrum verteilt sind. Bis auf heute.de bewerten alle sowohl Parteien links als auch Parteien rechts der Mitte im Saldo negativ. Die ÖRR-Sendungen verteilen sich dabei um den Mittelwert der Vergleichsmedien.

Es zeigt sich etwa: Der Münchner Merkur stellt Parteien links wie rechts der Mitte nur leicht negativ dar. Focus, Bild und Handelsblatt stellten vor allem Parteien links der Mitte negativer dar als solche rechts davon.

Bei der "Positionierung anhand von gesellschaftlichen Konfliktlinien" (Sozialstaatsorientierung vs. Marktliberalität und liberal-progressive vs. konservativ-autoritäre Grundhaltung) zeigen sich wieder keine großen Unterschiede zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Nachrichten

Fazit: Sowohl die Themenvielfalt als auch die Akteursvielfalt in den neun untersuchten öffentlich-rechtlichen Formaten halten die Forscher für durchweg hoch.

Kritik: Der Sichtbarkeitsvorsprung der Regierungsparteien

Kritisch könne man allerdings "den sehr deutlichen Sichtbarkeitsvorsprung der Regierungs- gegenüber den Oppositionsparteien" sehen.

Die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Formate entsprach in dieser Hinsicht aber nahezu exakt der durchschnittlichen Berichterstattung der 34 Vergleichsmedien. Dies ist auch nicht erstaunlich, weil öffentlich-rechtliche wie private Medien letztlich derselben journalistischen Logik folgen. Die tagesaktuelle Berichterstattung von Nachrichtenmedien ist ereignisgetrieben, und die Ereignislage führt mehr oder weniger automatisch dazu, dass bestimmte Themen und Akteure stärker in den Fokus geraten als andere.

Studie "Fehlt da was?"

Für auffällig halten die Studienautoren zum einen die überwiegend negative Bewertung aller Parteien. Sie schreiben:

Alle hier untersuchten Nachrichtenmedien erweckten bei ihrem Publikum vielmehr überwiegend den Eindruck, dass weder Regierung noch Opposition in der Lage sind, die aktuellen Probleme zu lösen.

Studie "Fehlt da was?"

Zum anderen betonen die Forscher die deutliche Positionierung des ÖRR auf der gesellschaftlichen Seite, "die man vereinfacht ausgedrückt als politisch links der Mitte bezeichnen kann".

Quelle; Studie "Fehlt da was?"

Die ÖRR-Sendungen "fielen durch einen gegenüber den Vergleichsmedien weniger kritischen Umgang mit den aktuellen Regierungsparteien auf, gehörten aber ansonsten nicht zu den Medien, die sich am stärksten positionierten."

Allerdings hätten sie im Schnitt auch nicht vielfältiger und ausgewogener als die Vergleichsmedien berichtet, "obwohl die Ansprüche an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in dieser Hinsicht durchaus höher sind".