Ökonomischer Selbstmord auf Raten: Wie Deutschland seine Schlüsselbranche verspielt
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Autoindustrie: Bürokratie als Standortkiller. Was der Exodus der Industrie für Städte, Arbeitsplätze und den Wohlstand bedeutet. Ein Gastbeitrag (Teil 2 und Schluss).
Deutschlands Autoindustrie verliert Marktanteile, Werke und Zukunftsperspektiven. In Teil 1 wurden die Ursachen geschildert. Im Folgenden geht es um die Auswirkungen des industriellen Versagens, wie es zum gesamtgesellschaftlichen Risiko wird.
In China steht eine neue Autofabrik innerhalb von sechs bis neun Monaten – genehmigt, gebaut und betriebsbereit. In Deutschland dauert allein die Umweltverträglichkeitsprüfung so lange – wenn sie nicht durch Bürgerinitiativen oder Klagen gleich ganz gestoppt wird.
Die Realität
In den USA winken Milliardensubventionen für jeden, der vor Ort produziert. In Deutschland dagegen warten Strompreisaufschläge, CO₂-Zertifikate und ein Berg an Berichtspflichten.
Das alles ist nicht naturgegeben oder "strukturell bedingt" – es ist politisch gemacht. Und es ist längst ökonomischer Selbstmord auf Raten.
"Made in Germany" war einmal ein Qualitätsversprechen. Bald ist es nur noch ein Aufkleber für einen schrumpfenden Heimatmarkt – und selbst da nicht mehr lange. Denn wer nicht mehr produziert, hat auch nichts mehr aufzukleben.
Immobilienblase in Wolfsburg, Stuttgart & Co. – der Knall kommt
Was bedeutet dieser Exodus für die Regionen, die seit Jahrzehnten am Tropf der Automobilindustrie hängen? In einem Wort: Verwüstung.
Die deutsche Automobilwirtschaft ist keine Branche wie jede andere – sie ist das Fundament ganzer Städte, Regionen und Immobilienmärkte.
Und wenn dieses Fundament bröckelt, bricht alles zusammen. Der Beschäftigungsrückgang bringt nicht nur wirtschaftliche Folgen, sondern bedroht ganze regionale Strukturen.
Städte wie Wolfsburg, Stuttgart oder Ingolstadt, in denen zehntausende Existenzen direkt oder indirekt von der Autoindustrie abhängen, geraten unter Druck – mit Folgen für den Immobilienmarkt, die kommunalen Haushalte und den sozialen Zusammenhalt.
Die Region Stuttgart ist das industrielle Rückgrat Baden-Württembergs – und hochgradig abhängig von Daimler, Porsche und ihren zahlreichen Zulieferern. Über 240.000 Arbeitsplätze hängen laut der IHK Region Stuttgart direkt oder indirekt an der Autoindustrie.
Namen wie Mahle, Bosch, ElringKlinger, Leoni, Eberspächer oder ZF Friedrichshafen prägen das wirtschaftliche Gefüge. Doch dieses Zuliefernetzwerk ist ein fein austariertes System – es lebt davon, dass in Sindelfingen, Untertürkheim und Zuffenhausen produziert wird.
Wird dort weniger gebaut oder verlagern sich Produktionslinien ins Ausland, reißen diese Ketten – und mit ihnen die wirtschaftliche Stabilität der gesamten Region.
Wolfsburg ist Volkswagen. Und Volkswagen ist Wolfsburg. Rund 120.000 Menschen leben in der Stadt, mehr als die Hälfte davon arbeitet direkt oder indirekt für den Konzern. Doch die Zukunft von VW spielt sich längst woanders ab.
Das einstige Prestigeprojekt "Trinity" – eine neue E-Auto-Plattform – wurde eingefroren, verschoben und de facto abgewandert. Milliardeninvestitionen fließen stattdessen in das chinesische Joint Venture mit JAC, in nordamerikanische Werke oder in Softwarezentren in München und Valencia.
Die Werke in Emden und Zwickau erhalten zwar neue Modelle, doch Wolfsburg verliert zunehmend an Bedeutung, vor allem bei der Schlüsseltechnologie.
Die Innenstadt, einst durch gut bezahlte VW-Gehälter belebt, kämpft bereits heute mit zunehmenden Leerständen, sinkender Kaufkraft und einem schleichenden Bedeutungsverlust. Die Folgen einer weiter sinkenden Nachfrage zeichnen sich jetzt schon auf dem Gewerbeimmobilienmarkt ab.
Auch in Ingolstadt verdunkelt sich der Horizont. Audi hat die Stadt geprägt, doch ob Audi selbst langfristig an diesem Standort festhält, ist fraglich. Die Produktion des ursprünglich für Ingolstadt geplanten Q6 e-tron verzögert sich massiv – unter anderem wegen Softwareproblemen bei der Konzerntochter Cariad.
Parallel dazu verlagert Audi immer mehr Modelle ins Ausland: nach Mexiko, nach Ungarn, und bald auch nach China. Die Zulieferer der Region – vom Karosseriebauer bis zum Automatisierungsspezialisten – spüren die Auswirkungen bereits heute: Aufträge brechen weg, Investitionen werden zurückgestellt.
Das Problem ist hausgemacht: Diese Städte haben sich über Jahrzehnte auf die scheinbar ewige Stabilität ihrer Ankerkonzerne verlassen. Doch das nächste Jahrzehnt wird genau diese Abhängigkeit bestrafen – mit aller Härte.
Kollaps mit Ansage: Politischer Irrsinn steht auf tönernen Füßen
Die Automobilindustrie ist nicht irgendeine Branche. Sie ist die tragende Säule des deutschen Sozialstaats – fiskalisch, arbeitsmarktpolitisch und psychologisch. Mehr als sieben Prozent der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung hängen direkt oder indirekt von ihr ab.
Die Branche beschäftigt rund 800.000 Menschen und zahlt jährlich über 70 Milliarden Euro an Steuern und Abgaben – über Körperschaftsteuer, Einkommensteuer, Sozialversicherungsbeiträge und Kfz-Steuer. Hinzu kommen weitere Milliarden aus den Zuliefernetzwerken, dem Handel und verschiedensten Dienstleistungen rund ums Fahrzeug.
Allein Volkswagen zahlte im Jahr 2022 weltweit rund sechs Milliarden Euro an direkten Steuern – ein Großteil davon in Deutschland. BMW lag bei über drei Milliarden, Mercedes-Benz bei rund vier. Dazu kommen zweistellige Milliardenbeträge an Lohnsteuer und Sozialabgaben der Beschäftigten.
Ohne dieses Geld wäre kein Bundeshaushalt solide, kein kommunales Kita-Programm finanzierbar, keine Pendlerpauschale haltbar, keine Rentenerhöhung politisch durchsetzbar. Die Wahrheit ist: Die Autoindustrie subventioniert Deutschland – nicht umgekehrt.
Und genau hier liegt der wunde Punkt: Kippt diese Branche, kippt das gesamte Umverteilungsmodell. Kostenlose Kitas? Nur realisierbar, wenn die Kommunen ausreichend Gewerbesteuer einnehmen – die vor allem von Autobauern und ihren Zulieferern stammt.
Die Förderung von Wärmepumpen? Kostet jährlich 16 bis 18 Milliarden Euro – finanziert aus der Steuerkraft einer Industrie, die selbst kaum noch investiert. E-Auto-Prämien? Ohne Einnahmen aus Fahrzeugverkäufen und Kfz-Steuern schlicht nicht bezahlbar. Bürgergeld im XXL-Format? Schon heute ein Fass ohne Boden – und bald ohne Deckel, wenn die Konjunktur einbricht.
Trotzdem inszeniert die Politik weiterhin einen sozial-ökologischen Umbau auf Pump – ohne belastbare Gegenfinanzierung, aber mit viel moralischer Hybris. Das kann nicht funktionieren. Deutschland lebt, salopp gesagt, vom Geld der Autoindustrie. Diese Industrie ist der stille Kreditgeber für ein politisches System, das sich zunehmend von wirtschaftlichen Grundlagen entkoppelt.
Und was passiert, wenn dieser Kredit ausfällt? Dann wird aus dem viel beschworenen "Jahrzehnt der Transformation" ein Jahrzehnt der Streichungen, Kürzungen und gebrochenen Versprechen. Förderprogramme verschwinden. Politische Zusagen werden einkassiert. Und das kollektive Erwachen wird hart – vor allem für jene, die glaubten, Wohlstand sei ein garantiertes Grundrecht.
Fazit: Die Zukunft findet woanders statt
Während Deutschland diskutiert, verlagern andere. Während Berlin berät, bauen die USA neue Fabriken. Indes Brüssel reguliert, liefert China – in Stückzahlen, in Geschwindigkeit, in Qualität. Die Beispiele dafür sind unübersehbar.
Tesla errichtet in Texas eine neue Gigafactory, Produktionsstart nach nur 18 Monaten – ein Zeitraum, in dem in Grünheide gerade einmal das Genehmigungsverfahren abgeschlossen wurde. BYD plant in Ungarn ein Werk für 200.000 Fahrzeuge pro Jahr – mitten in der EU, aber bewusst außerhalb deutscher Regulierungsstrukturen.
Die USA verteilen über den "Inflation Reduction Act" Milliarden an alle, die vor Ort bauen – während deutsche Unternehmen auf Bewilligungen warten, die oft Jahre brauchen. Selbst Volkswagen, einst Nationalstolz, investiert inzwischen mehr in Nordamerika als in Niedersachsen – ein stilles Eingeständnis, dass der Standort Deutschland zur Hypothek geworden ist.
Die Zukunft der Autoindustrie – und damit ein großes Stück deutscher Zukunft – findet nicht mehr in Deutschland statt. Sie findet in Asien statt. Sie findet in Nordamerika statt. Sie findet überall dort statt, wo wirtschaftliches Denken noch möglich ist – und nicht durch ideologische Planwirtschaft ersetzt wurde.
Wer unternehmerisch denkt, zieht längst Konsequenzen. BMW baut in Ungarn, Mercedes in Alabama, VW in Kanada. Bosch investiert Milliarden in Softwarezentren in Indien, Rumänien und China – nicht in Baden-Württemberg. Auch Zulieferer verlagern Forschung, Produktion und Know-how – Schritt für Schritt, aber konsequent.
Und wer privat denkt, zieht ebenfalls Konsequenzen. Wer heute Immobilien in Wolfsburg, Ingolstadt oder Sindelfingen verkauft, tut dies mit kühlem Blick auf das, was kommt. Wer in Unternehmen oder Aktien investiert, fragt nicht mehr nach Deutschland, sondern nach Standort, Subventionen und Skalierungspotenzial.
Nur wer politisch denkt, verdrängt weiter. In Berlin feiert man sich für Innovationscluster, die ohne Investoren und Industrie auskommen sollen. In Brüssel diskutiert man über neue CO₂-Strafen für Plug-in-Hybride – während China seine Plug-in-Flotte verdoppelt. Und in deutschen Talkshows geht es um Tempolimits, Wärmepumpen und soziale Gerechtigkeit – während anderswo über Marktanteile, Technologieoffensiven und Lieferketten entschieden wird.
Doch wer weiter verdrängt, wird überrollt. Nicht vom Geländewagen, sondern vom Realitätsschock einer verpassten Zeitenwende. Ein Schock, der nicht irgendwann kommt. Sondern jetzt.
Matthias Weik befasst sich seit über zwei Jahrzehnten mit den Themen Wirtschaft und Finanzen. Er zählt seit Jahren mit sechs Bestsellern in Folge zu den verlässlichsten Bestseller-Autoren im Bereich Wirtschaft und Finanzen. 2023 ist sein sechster Bestseller "Die Abrechnung" erschienen. Matthias Weik bezeichnet sich selbst nicht als Pessimist, Optimist, sondern als Realist. X: @mweik_