Österreichs Bundesregierung vor dem Aus
Seit Donnerstag stellen die Grünen die Handlungsfähigkeit von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in Frage. Sie selbst stehen als Juniorpartner wie begossene Pudel da
Innerhalb von 24 Stunden hatte sich der Wind gedreht und Österreichs Politiklandschaft durcheinandergewirbelt. Sah es am Mittwoch nach der groß angelegten Razzia in Kanzleramt, Finanzministerium und ÖVP-Parteizentrale in Wien noch so aus, als würde der kleine grüne Koalitionspartner trotz neuer Anschuldigungen gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz weiter zum Seniorpartner stehen, zeigte sich am Donnerstagmorgen, dass das Fass wohl doch übergelaufen war.
Der grüne Vizekanzler Werner Kogler [1] machte in einer Aussendung deutlich, dass die neuerlichen Ermittlungen und Korruptionsvorwürfe gegen Kurz "eine neue Dimension erreicht" hätten und "der Sachverhalt" nun "lückenlos aufgeklärt werden" müsse. Eine Rückkehr zur Tagesordnung sei nun unmöglich, weil "die Handlungsfähigkeit des Bundeskanzlers vor diesem Hintergrund in Frage gestellt" sei. Kogler und die Grünen müssten nun "für Stabilität und Ordnung sorgen". Deshalb würden jetzt Gespräche mit allen Parteien [2] geführt. Eine Fortsetzung der Koalition scheint nach dieser Ankündigung in weite Ferne gerückt.
Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft [3] der Republik Österreich ermittelt gegen Kurz und mehrere seiner Vertrauten wegen des Verdachts auf Untreue, Bestechlichkeit sowie der Bestechung in "unterschiedlichen Beteiligungsformen".
Grüne in schwieriger Lage
In der Nacht auf Donnerstag dürfte einigen in der grünen Partei die himmelschreiende Ungerechtigkeit der Lage klar geworden sein. Sebastian Kurz muss sich möglicherweise bald vor Gericht wegen Korruption verantworten, im insgesamt dritten Verfahren das ihm aktuell droht, und dennoch sind es die Grünen, die vor einer Zerreißprobe und Spaltung stehen. Sie hatten sich von der ÖVP um des lieben Koalitionsfriedens willen tüchtig auf der Nase herumtanzen lassen. Stets ließ die Volkspartei den kleinen Partner seinen geringeren "Marktwert" spüren.
Bei Menschenrechten und Flüchtlingsfragen konnten die Grünen keinen Stich machen, weil die ÖVP ihr rechtes Programm inklusive Abschiebung gut integrierter Schulkinder durchzog. Den parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der klären sollte ob die türkis-blaue Regierung aus ÖVP und FPÖ, die durch das berüchtigte "Ibiza-Video" geplatzt war, bestechlich gewesen ist, hatte die Volkspartei so lange durch nicht herausgegebene Akten verschleppt, bis dieser am Ende der Sitzungsperiode geknickt werden musste.
Hierbei - und bei verschiedenen Misstrauensanträgen gegen ÖVP-Regierungsmitglieder - hatten die Grünen immer brav im Sinne der Koalition gestimmt und dabei deutlich erkennbar gegen die eigenen Überzeugungen gehandelt.
Die Grünen predigten sich selbst und den sie kritisierenden Stimmen aus der Zivilgesellschaft, dass ihre Stunde kommen würde und sie dem großen Koalitionspartner Zugeständnisse abringen könnten. In einem großen, politischen Abtauschgeschäft würden die grünen Themen Umweltschutz und Gerechtigkeit bald berücksichtigt werden. Dies sollte vor wenige Tagen mit der sogenannten "ökosozialen Steuerreform" gelungen sein.
Die trägt allerdings ebenso weitgehend ÖVP-Handschrift. Es werden angestaubte Ideen aus den 1980er-Jahren bedient, wie das "Trickle Down", das durch Steuererleichterungen für Vermögende zur Schaffung von Arbeitsplätzen führen soll, und die alte Klamotte der moderaten Besteuerung von Energie um "Lenkungseffekte" zu erzielen. Klappt meist nicht, da die Reichen nichts ändern müssen, weil sie die Teuerung kaum spüren, während die Armen nichts ändern können, weil ihnen dazu die Mittel fehlen.
Der große Wurf, mehr (Klima-)Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich zu erzielen, kann im Grunde nur gelingen, wenn große Vermögen höher besteuert werden. Und das gibt es nicht mit der ÖVP. Zumindest war es den Grünen gelungen, das Wort "ökologisch" einzuschmuggeln, und tatsächlich hatte sich die Volkspartei die längste Zeit immer gegen jede Form der "Öko-Steuer" gewehrt.
Über diesen grünen "Erfolg" oder den des Plastikflaschenpfands redet nun leider kein Mensch mehr in Österreich. Die Grünen stehen durch den Paukenschlag der Ermittlungen gegen Kurz wie die begossenen Pudel da. Wenn sie ihn jetzt noch weiter unterstützen, dann läuft ihnen die Basis davon. Erste Landeschefs haben sich bereits deutlich positioniert und erklärt, Kurz sei als Kanzler untragbar geworden.
Gibt es einen Plan?
In Situationen wie dieser braucht eine Partei einen Plan. Es ist fraglich, ob es den gibt. Zunächst hatte man wohl versucht durch die Ankündigung von Gesprächen mit anderen Parteien, die ÖVP dazu zu bewegen, Kurz fallen zu lassen. Am Donnerstag war bereits um die Mittagszeit klar, dass die ÖVP dabei nicht mitspielt. Weil die Opposition für den nächsten Dienstag einen Misstrauensantrag gegen Kurz vorbereitet, müssten die Grünen bis dahin einen zumindest zeitweilige, neue Koalition im Nationalrat bilden, wenn sie denn an der Macht bleiben wollen.
Aufgrund der Sitzverteilung ist dies äußerst schwierig. Die ÖVP hält 71 von 183 Sitzen. Eine Mehrheit gegen Kurz kann es nur mit Hilfe der 31 Sitze der FPÖ geben. Eine inhaltliche Zusammenarbeit zwischen Grünen, SPÖ, den liberalen NEOS und der FPÖ ist kaum zu erwarten. Die einzige thematische Schnittmenge wäre das derweil auf den Straßen Wiens häufig zu hörende "Kurz muss weg".
Das ist pikanterweise sowohl Wahlspruch linker Gruppen als auch rechtsradikaler Impfgegner. Folglich würde wohl eine Stunde nachdem Kurz aus dem Amt gewählt worden wäre, diese neue Koalition auseinanderfliegen, weil sie nur im "Anti-Kurz"-Kurs ein gemeinsames Ziel hatte. Das weiß auch die ÖVP - und darin sieht sie wohl ihre letzte Chance, an der Macht zu bleiben.
ÖVP macht dem Kanzler die Mauer
Aktuell demonstriert die österreichische Volkspartei noch Geschlossenheit. Am Donnerstagabend hatte sie sich zu intensiven Beratungen in die ÖVP-Parteiakademie in Wien-Meidling zurückgezogen. Die sonst auskunftsfreudigen Parteimitglieder gaben den wartenden Journalisten nicht die kleinste Wortspende. Dann, um 22 Uhr, traten ÖVP-Generalsekretär August Wöginger und der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter vor die Kameras und hielten leicht bizarre Wahlkampfreden.
Es sei ein gutes Gespräch mit Sebastian Kurz gewesen (das mag glauben wer will) und nur mit der großartigen Vermittlungsarbeit des Kanzlers könne diese Regierung weiterhin erfolgreich arbeiten. Es stünde schließlich die Bewältigung großer Problem bevor, beispielsweise bahne sich ein neuer "Flüchtlingssturm" an. Ein wenig eleganter Versuch, neue (alte) Themen zu setzen und zudem einer, der von der sich verfestigenden rechtsautoritären Gesinnung der Partei zeugt. Statt auf die Vorwürfe gegen Kurz einzugehen, wird Angst vor Flüchtlingen geschürt.
Aber genau das war bekanntlich das Erfolgsrezept von Sebastian Kurz gewesen. Platter und Wöginger machen in ihren Statements sehr deutlich, dass es letztlich immer nur um den Erfolg gegangen ist. Mit Sebastian Kurz an der Spitze wären die Wahlen 2017 und 2019 sehr erfolgreich geschlagen worden. Kurz hatte die Partei aus dem Umfragetief geführt und der Zweck scheint die Mittel zu heiligen. Sollte sich Kurz dabei unlauterer oder sogar krimineller Mittel bedient habe? Die ÖVP scheint dies im Moment kaum zu stören.
Was die beiden Parteigranden dabei unerwähnt lassen ist, dass die ÖVP auch keinerlei Alternativen hat. Prinzip des Systems Kurz und der "türkisen Bewegung" war bislang alles auf den Strahlekanzler auszurichten. Eine innerparteiliche Offenheit und das Heranwachsen neuer Kandidaten waren dabei ausgeschlossen. Deshalb muss die ÖVP jetzt die Mauer machen.
Einigen in der Partei dürfte dies langsam dämmern. Der mächtige steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer blieb der Sitzung im Meidlinger Springel-Schlössl fern. Über Zeitungen ließ er ausrichten, dass die "Härte" der Vorwürfe "extrem" sei und diese langsam "die Grenzen des Möglichen" erreichten. Ebenso betonte der Vorarlberger ÖVP-Landeshauptmann Wallner, dass die Vorgänge unbedingt untersucht werden müssten.
Erst der Anfang?
Die Volkspartei mag noch cool spielen, sie weiß, wie schwierig die Lage auch für sie ist. Immer wieder wird betont, auch für Sebastian Kurz gelte die Unschuldsvermutung. Das mag stimmen, ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Ob Kurz tatsächlich in illegale Rechnungsfälschungen im Finanzministerium involviert war, ob er tatsächlich das Boulevardmedium Österreich für gefällige Berichterstattung bezahlen ließ und dergleichen mehr, werden erst die gerichtlichen Ermittlungen zeigen. Dies kann erfahrungsgemäß Jahre dauern, im Fall des ehemaligen FPÖ-Finanzministers Karl-Heinz Grasser hatte es sogar ein Jahrzehnt gedauert.
Will die ÖVP nun auf Jahre ihre politische Energie in die Verteidigung von Kanzler Kurz legen? Das ist eine simple taktische Frage, die sie sich stellen muss. Erschwerend kommt hinzu, dass die Ermittlungen ja weiterlaufen. Bei der Razzia wurden neue Handys sichergestellt, beispielsweise jenes des Herausgebers der Zeitung Österreich, Wolfgang Fellner. Ein Blick in Fellners Revolverblatt gibt ausreichend Anlass zur Vermutung, dass sich einiges in seine Chatverläufen finden wird, das - gelinde gesagt - nicht allzu schmeichelhaft sein könnte.
Auch ist die Frage, wie lange die selbsternannten "Prätorianer" von Sebastian Kurz diesen schützen und ihn angesichts drohender Gefängnisstrafen nicht doch noch fallen lassen und beschuldigen. Und dann wäre da noch dieses Detail mit der Moral. Ob Kurz strafrechtliche Vergehen begangen hat, ist ungewiss und es gilt die Unschuldsvermutung. Aus den bisher bekannten Chatverläufen lässt sich aber bereits eindeutig ablesen, dass Kurz mit Kaltschnäuzigkeit und Gehässigkeit nur auf das eigene Vorwärtskommen konzentriert war.
Eine Wahlkampkampagne unter dem Vorzeichen "Sebastian Kurz, der Mann der über Leichen geht" kommt dann vielleicht doch nicht so gut an. Niemand bezweifelt heute noch, dass die Person Kurz medial weitgehend verbraucht ist.
Dennoch halten Kurz und die ÖVP die Mehrheit im Nationalrat - und die weiß ebenso, dass die Bewertung von Skandalen viel Fachwissen benötigt, über das weite Teile der Bevölkerung nicht verfügen oder verfügen wollen. Bei zahlreichen Wahlkämpfen nach schwerwiegenden Skandalen hatte sich gezeigt, dass die skandalauslösende Partei gar nicht im erwarteten Maße bestraft wurde. Wahlentscheidungen sind eben komplex und hängen von vielen Faktoren ab.
Die Opferinszenierung "Alle haben sich gegen den jungen Kanzler verschworen" mag wahrheitswidrig sein, könnte aber im katholischen Österreich zumindest teilweise ziehen. Dies scheinen zumindest die Oppositionsparteien zu fürchten, die bis auf die nach vorne preschenden liberalen NEOS eher verhalten agieren. Es gibt zwar Rücktrittsforderungen, aber echter Kampfesmut ist beispielsweise bei den Sozialdemokarten nicht zu erkennen. Eher gibt man sich staatstragend und wartet darauf, welche Vorschläge der Bundespräsident nach den Gesprächen mit den Spitzen aller Parteien unterbreiten wird.
Die Situation ist aktuell nach allen Richtungen hin offen. Es kann weder ausgeschlossen werden, dass die Grünen die Totalblamage akzeptieren und Kurz am Dienstag nicht das Misstrauen aussprechen, noch ist auszuschließen, dass sich in der Tiefe der großen Volkspartei doch ein Königsmörder findet. Experten- und Übergangsregierungen jeder Art sind ohnehin im Mix. Das Publikum darf gespannt sein.
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[3] https://www.justiz.gv.at/wksta/wirtschafts--und-korruptionsstaatsanwaltschaft/medienstelle/pressemitteilungen/pressemitteilung-der-wksta-zu-den-am-6102021-durchgefuehrten-hausdurchsuchungen~aaf.de.html
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