Ohne US-Schutzschirm: Ist Europa nackt und wehrlos?

Deutscher Panzer Leopard 2 A6 bei einem Manöver.

(Bild: Karolis Kavolelis / Shutterstock.com)

Emmanuel Macron sieht in Trumps Alleingängen einen Weckruf für Europa. Die EU müsse ihre Abhängigkeit von den USA dringend verringern.

Dass US-Präsident Donald Trump mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin über ein Ende des Kriegs in der Ukraine verhandelt, ohne zuvor die europäischen Verbündeten zu konsultieren, ist für viele ein Schock gewesen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron bezeichnete diesen neuen Umgang in einem Interview im Élysée-Palast als eine Art "Elektroschock", der die Europäer zu einem neuen Umgang miteinander zwingt. Er würde denjenigen in Europa, die immer noch dächten, sie könnten in einem Zustand der "strategischen Abhängigkeit" leben, helfen, Klarheit zu schaffen.

Macrons Vision für ein unabhängiges Europa

Macron ist für seine Position bekannt: Europa soll seine Abhängigkeit von den USA verringern, um auch in Zukunft noch eine Rolle in der Weltpolitik spielen zu können. Schon im vergangenen Jahr schlug er Reformen innerhalb der Europäischen Union vor, um die wirtschaftlichen Schwergewichte zu schaffen, die in gewisser Weise das Fundament für europäischen Einfluss gelten können.

Darauf kam er jetzt in seinem Interview zurück, berichtet die Financial Times (FT). Er beschrieb demnach Trumps Rückkehr ins Weiße Haus als Anstoß für die EU, in ihre eigene Verteidigung sowie in den wirtschaftlichen und technologischen Aufschwung zu investieren. Dafür müsse aber der fiskalische und monetäre Rahmen, den sich die EU erstmals 1992 gegeben hat, überarbeitet werden.

Bisher scheiterten solche Vorstöße nicht zuletzt, weil sie von Deutschland kritisch beäugt werden. Eine Bankenunion gibt es nach wie vor nicht, weil alle EU-Staaten auf ihre nationalen Champions setzen und bedeutsame Fusionen verhindern. Auch eine gemeinsame Einlagensicherung gibt es nicht, was von Deutschland bisher begrüßt wurde. Schließlich sollen deutsche Sparer nicht für fremde Pleitebanken aufkommen müssen.

So wie der zersplitterte Kapitalmarkt das Entstehen großer Konzerne verhindert, die auf dem Weltmarkt eine erhebliche Rolle spielen können, verhindert die Zersplitterung auch das gemeinsame Finanzieren von Start-ups. Und die spielen, wie man mit Blick in die USA sehen kann, bei fortschrittlichen Technologien eine erhebliche Rolle.

Herausforderungen für die europäische Rüstungsindustrie

Europa verliert nicht nur im technologischen Bereich den Anschluss an die globale Entwicklung. Auch die Rüstungsindustrie, von der die europäische Sicherheit maßgeblich abhängt, hinkt zurück. Auch das liegt an der Zersplitterung der Europäer: Jedes Land hält an ihren nationalen Waffenschmieden fest und sieht grenzüberschreitende Fusionen mit Kopfschmerzen.

Gemeinsame Entwicklungsprojekte sehen viele EU-Staaten ebenfalls skeptisch – und hier sind sowohl Frankreich als auch Deutschland keine Vorbilder. Als Beispiel kann hier die Eurodrohne angeführt werden. Paris möchte, schreibt Bloomberg, eine leichte Drohne für Einsätze in Afrika. Deutschland besteht dagegen auf einem zweiten Motor, damit die Drohne sicher über Berlin und München patrouillieren kann. Aufgrund solcher Streitigkeiten wird das System wohl erst in den 2040er-Jahren fertig.

Eine weitere Herausforderung ist es, die europäischen Streitkräfte einheitlicher zu gestalten, um Kosten für die Entwicklung zu senken und wirtschaftliche Vorteile zu nutzen. Bloomberg führt eine Untersuchung der Unternehmensberatung McKinsey an, nach der die europäischen Nationen über 19 verschiedene Kampfpanzer verfügen. Die USA verfügen dagegen nur über einen. Und während die US-Marine über vier verschiedene Fregatten- oder Zerstörer-Typen verfügt, besitzen die Europäer 27 verschiedene Modelle.

Nach Berechnungen von Bloomberg Economics könnten in den kommenden zehn Jahren Kosten von 3,1 Billionen US-Dollar auf die Europäer zukommen, wenn sie ihre Verteidigungsausgaben hochfahren und den Frieden in der Ukraine absichern wollen.

Die europäischen Rüstungskonzerne würden davon sicherlich profitieren, die Waffenschmieden in den USA könnten allerdings das größere Stück vom Kuchen abbekommen. Denn zwischen Mitte 2022 und Mitte 2023 sind fast 80 Prozent der Beschaffungsausgaben der EU-Länder ins Ausland geflossen, hauptsächlich in die USA. Das geht laut Bloomberg aus einem Bericht des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi über die Wettbewerbsfähigkeit der EU hervor, der im September veröffentlicht wurde.

Weg zu einer stärkeren europäischen Wirtschaft

Um besser auf eigenen Beinen stehen zu können, müssen die Europäer nicht nur die nationalen Gegensätze und Eigeninteressen überwinden, auch die Wirtschaft muss in gewisser Hinsicht wieder auf starke und regionale Lieferketten setzen. Kleine und familiengeführte Zulieferer könnten nicht wachsen, weil ihnen Rohstoffe und Kapital fehle, heißt es bei Bloomberg.

Beim Grobblech, das für Panzer und Kriegsschiffe notwendig ist, fehlen die Produktionskapazitäten in Europa. Hier sei man sogar auf Lieferungen von potenziellen Gegnern wie China abhängig. Ähnlich sieht es bei Grundstoffen, etwa für Artilleriemunition, wie Nitrozellulose, Schwarzpulver und TNT. Selbst die USA müssen hier erst wieder aufwendig Produktionskapazitäten schaffen. In Europa hat der Mangel an diesen Stoffen zu einer verlangsamten Produktion von Artilleriegeschossen geführt.

Laut Macron könnte Europa in fünf bis zehn Jahren wieder erstarkt sein. Ob das nicht zu optimistisch ist, muss sich erst noch zeigen.