Olympia '24: Hier zahlen sich die Gebühren wirklich aus
TV in seiner reinsten Form: Leben in Echtzeit. Wer zwölf Tage lang Olympia im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sieht, weiß, so muss Fernsehen sein.
Fernsehen ist genau das, was jetzt gerade stattfindet: Das mediale Panoptikum auf zehn Bildschirmen, gleichzeitige Live-Erlebnisse eines Ereignisses, in Echtzeit miteinander verbunden auf einem Display und dort ergänzt durch über weitere 100 Bildschirme, die die Wiederholung bereits beendeter Übertragungen im Live-Modus ermöglichen.
Dazu ein weiterer Bildschirm, der das Sendebild des linearen Fernsehens überträgt, auf dem das alles zusammengeführt wird, aber jederzeit von uns Zuschauen auseinandergeführt werden kann. Nichts anderes, nur das ist Fernsehen, das seine Stärken voll ausspielt.
Wo das Fernsehen zu sich selbst kommt
Alles andere ist Mediathek, es ist Streaming und es sind entweder schlechte, also inhaltistische und illustrative Filme oder es sind Filme, die gut sind und die man daher besser im Kino ansieht.
In Sportgroßereignissen wie den Fußballeuropameisterschaften und jetzt den Olympischen Spielen kommt Fernsehen einmal wirklich zu sich selbst. Hier lohnen sich die Gebührengelder. Hier hat man das Fernsehen, das man will.
Momente der Echtheit gegen das Skript
Echtes Fernsehen ist nur da, wo es live ist – eben fernes Sehen ermöglicht: Jetzt und hier zumindest als Augenzeuge und Beobachter teilhaben an etwas, das gerade geschieht. Das Unvorhergesehene sehen. Fernsehen ist immer Liveschaltung, ist immer das Unvorhergesehene. Nur da kommt Fernsehen zu sich selbst und erlebt sogenannte "Sternstunden".
Darum sind diese oft Unglücke, Unfälle, Katastrophen, Attentate, Kriege; auch noch gelegentlich Demonstrationen, Parlamentsdebatten, die aus dem Ruder geraten, in seltenen Fällen eine Show oder eine Talkrunde, aber auch nur dann, wenn Wirklichkeit sich gegen den vorgegebenen Rahmen durchsetzen, wenn Momente der Echtheit und Wahrhaftigkeit sich gegen das Skript behaupten.
Sport hat trotz allem letztlich kein Skript. Die Sportgroßereignisse sind – wie auch sonst Sport oft die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist – die gebändigten Katastrophen und Konflikte, die zum Abenteuer mutierten, die positive Variante des Negativen.
"Saft- und kraftlos ein bisschen. Da muss er durch"
So bieten die 16 Olympiatage eine ununterbrochene Abfolge von außergewöhnlichen, mindestens für die Beteiligten oft ekstatischen Momenten und das Ringen von Menschen mit der Sprache im Angesicht außergewöhnlicher (übermenschlicher?) Leistungen.
Simone Biles turnt wie eine Außerirdische; Niklas Kaul im Zehnkampf der Männer ist "saft- und kraftlos ein bisschen. Da muss er durch". Der mythische Deutschland-Achter wird nur Vierter, aber "das ist schon ein Erfolg". Ein Ass im Volleyball wird kommentiert mit "so männlich, das ist so männlich!".
Frau Kolberg fällt im Hoffnungslauf zurück und hat allerlei Erklärungen, Torben, der Stabhochsprung-Springer, redet sich zumindest nicht heraus: "Der Kopf war da. Ich könnte abkotzen, auf gut Deutsch gesagt."
Wir sehen Sportlern noch beim Kuscheln zu, und wir sehen, wie Funktionäre sich spreizen und ihre Allmacht genießen, zum Beispiel im Fall der deutschen 4x400-Meter-Mixed-Staffel Jörg Bügner vom DLV, der erst auf Nachfrage zugibt, dass er die sportlich bessere Luna Bulmahn nicht nominiert hat.
"Olli, lass die Tränen fallen"
Das Fernsehen erzählt uns immer auch einen deutschen Familienroman. Wir hören von Freunden und Trennungen, Beziehungen unter Sportlern. Wir lernen Heino kennen, den Vater von Olli, der auch der Trainer ist, und mit ihm eine "Ruderdynastie".
Im Interview mit dem Vater und dem anschließenden vorproduzierten Vorbericht passiert, was im deutschen Olympiajournalismus leider oft passiert: Mit der Distanz geht auch die Demut verloren, und es wird vor dem Finale die erst zu gewinnende Goldmedaille quasi schon eingepreist.
Anstatt dass die Berichterstatter erklären, wer der Hauptkonkurrent ist, anstatt dass sie das Rennen also ihr eigenes Programm spannend machen, machen sie es so, dass die nächsten Minuten eigentlich nur zu einer Enttäuschung werden können oder zu einer Selbstverständlichkeit.
Diesmal geht es gut. Der Kommentator ruft: "Olli lass die Tränen fallen", und die Befindlichkeitsinterviewerin erfährt: Der Sieger-Papa hat mit der Sieger-Mutter telefoniert, die zu Hause geblieben ist, "weil der Hund dableiben muss".
Wollen die Zuschauer wirklich, dass so kommentiert wird?
Überschritten wird das alles durch den ARD-Reitkommentator Carsten Sostmeier, der aus unerfindlichen Gründen, aber sicher nicht zufällig sämtliche Reitfinale der diesjährigen Olympiade kommentierte.
Seine in heiligem Ton gehaltenen Kommentierungen sind eine eigene Kategorie für sich, die das Publikum entweder vergötzt anbetet oder als arge Zumutung empfindet:
Sostmeiers Kadenzen aus schiefen Bildern und Kitsch sind völlig überschätzt. Das vermittelt nichts außer Wichtigtuerei und Anbiederung des Kommentators, es ist aber kein Sportkommentar, der die Nicht-Reitsportexperten mitnimmt und erinnert eher an den Ton einer Kirchenansprache, als an eine Sportreportage:
Es ist hier der königliche Tanzpalast der Reiterei. Hoffentlich erleben wir jetzt diese Harmonie zwischen einer Reiterin und ihrem Pferd, denn das ist das Fundament eines möglicherweise entstehenden Kunstwerkes des Dressursports.
Im Laufe der Tage wurden Sostmeiers Reportagen komplett zum persönlichen Poesiealbum, das mit seinem subjektivistischem Kitsch jedes Bild zugießt:
Es ist wie eine sanfte Welle, die durch das Pferd hindurchgleitet: majestätisch, genussvoll ... Das ist Losgelassenheit, das ist Rhythmus, Kadenz, Energie und Elastizität zugleich. ... Das war eine typologische Fontäne, wo gefühlt wirklich ein jeder Wassertropfen auf der Gänsehaut eines Betrachters wie eine Perle hinuntergleitet. (...) Dieser deutsche Adler auf den Schwingen eines traumhaften Pegasus, eines weißen Riesen, schnappt sich die Goldmedaille. Das weiße Wunder unter dem Sattel, die advantage, diese avantage, dieser Vorteil...
Wollen die Zuschauer wirklich, dass so kommentiert wird?
Sportarten, von denen keiner wusste, dass es sie gibt
Was ebenfalls zu Olympia im Fernsehen gehört: Während man sich als zahlender Zuschauer vor Ort in der Regel Karten für etwas besorgt, von dem man eine Vorstellung hat, sehen wir hier Sportarten, von denen wir nicht einmal wussten, dass es sie gibt.
Zum Beispiel die Freestyle-Kür der BMX-Räder in der Halfpipe. Man denkt bei jedem Auftritt, sie brechen sich jetzt das Genick und dieses Genick müsste eigentlich schon fünf Mal vorher im Training gebrochen sein. Sie fahren mit einem Fahrrad ohne Bremse. Man möchte danach echt wissen, wie man dafür trainiert. Ist das überhaupt Sport? Oder ist es nicht eher Artistik, Zirkus?
Mit dem Fahrrad machen die Athleten bei voller Fahrt einen Salto, bei dem man das Fahrrad in der Luft dreimal hin und her schwenkt und dann wieder mit den Füßen auf den Pedalen landet – wie funktioniert das überhaupt?
Und dann landen sie auch so, dass sich die Männer keine Schmerzen im Sattel zufügen und sie im Gleichgewicht bleiben und das zehnmal hintereinander in einer einzigen Minute, diese Auftritte sind der absolute Wahnsinn.