Olympische Höhenflüge?
Peking - und die neue Urbanität in China
Eine Erfahrung des Chinas von heute ist die außergewöhnliche Verdichtung der Zeit. Wofür Europa vierhundert Jahre brauchte, so merkte es unlängst der Schriftsteller Yu Hua an, den Weg vom Mittelalter zur Postmoderne nämlich, lege China in vierzig zurück. Da verwundert es nicht, dass das "Land der Mitte" im Brennpunkt der medialen Öffentlichkeit steht. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht mindestens eine Zeitung oder Publikumszeitschrift einen platzgreifenden Bericht über China publiziert. Lifestyle-Magazine rufen Schanghai und Peking zu „hot spots“ aus. Die nun anstehende Olympiade in der Hauptstadt und die EXPO 2010 in der Yangzi-Metropole tun da nur ein Übriges. Wenn die These von der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ stimmt, die der Wiener Kulturtheoretiker Georg Franck formulierte, dann gilt sie für Chinas Boom in Wirtschaft und Stadtentwicklung wie in keinem anderen Fall.
Doch die westliche Rezeptionsgeschichte chinesischer Stadtentwicklung ist implizit in die Wahrnehmung des Riesenreiches als Ganzem eingebettet. Das 20. Jahrhundert – der renommierte Sinologe Jonathan D. Spence hat es doppeldeutig „das Jahrhundert Chinas“ genannt –, in dessen Verlauf sich die räumlichen Distanzen auf dem Globus kontinuierlich verringert zu haben scheinen, vermochte die Selbstbezogenheit dieses Blicks nicht grundlegend aufzubrechen. Offenkundig gilt das, was in der Osteuropaforschung bis zur Desintegration der Sowjetunion oftmals eine Art von „Kreml-Astrologie“ evoziert hat, auch für den chinesischen Kontext: Fehlendes Datenmaterial, verschlossene Archive und selten die Möglichkeit zum eigenen, kritischen Blick hinter jene Kulissen, die zu großen Teilen bloß aus Propaganda bestanden. Diese Situation hat sich innerhalb der letzten 25 Jahre zwar schrittweise, aber keineswegs gänzlich verändert.
Freilich ist es nicht nur das Tempo der Veränderung, das einem die Begriffe verwirrt. Die Zeitkurve verläuft nicht linear. Neben Verbindungen zu den avanciertesten Tendenzen der ökonomischen, technischen und kulturellen Globalisierung existieren andere Zeitebenen weiter fort. Es ist, als ob, in europäischen Kategorien gesprochen, Moderne, Vormoderne und Postmoderne gleichzeitig Geltung beanspruchen würden. Dabei muss man sehen, dass es zwei Konstanten in den Bildern gibt, die sich der Westen von China macht, und die sind zusammengenommen paradox: Einerseits steht China in der Geographie westlicher Imagination für den Raum in seiner absoluten Ausdehnung, ewig gleich, isoliert und gegen Wandel resistent. Andererseits ist China der Raum der Entgrenzung, in dem die Ordnung der Dinge aus den Fugen gerät, in der eine Magie der Maßstabssprünge herrscht. Insoweit stimmt die Zuschreibung vom Land der Widersprüche. China bildet nach wie vor den Projektionsraum westlicher Wünsche und Ängste, ist die mythische Heimat des Großen, des Anderen, des Fremden. Zwischen Beklemmung und Faszination schwankt unsere Stimmung angesichts der chinesischen Größen- und Massenverhältnisse. Jede Auseinandersetzung mit der chinesischen Urbanisierung spiegelt demzufolge auch die eigene Unsicherheit angesichts einer Raumproduktion, die das Ergebnis einer radikalen ökonomischen Modernisierung, die Ausdruck des forcierten Anschlusses an die Weltwirtschaft ist.
Wie man mit Pfeifen im Dunklen seine Angst zu verdrängen versucht, so wird in der gängigen Rezeption stets nur die Superlative, das Außergewöhnliche gesucht. Shanghai und Shenzhen bilden – bislang – die Brennpunkte dieser Wahrnehmung. Demgegenüber stand Peking (Beijing) lange im Windschatten. Zwar wurden einprägsame Bauvorhaben – insbesondere natürlich der als mehrfach geknickte Schlaufe konzipierte CCTV-Tower des Staatsfernsehens von Rem Koolhaas und das nestförmige Olympiastadion von Herzog & de Meuron, aber auch das Nationaltheater von Paul Andreu oder Norman Fosters neues Flughafenterminal – kräftig kommuniziert; und sie nährten damit die architektonische China-Euphorie im Westen. Als urbanistischer Projektionsraum jenseits einzelner (wie auch immer spektakulärer) Stadtbausteine aber blieb die Hauptstadt marginal.
Doch das Bild wandelt sich. Wenngleich – oder gerade weil – es kein singulär überragendes Großplanungsprojekt (wie etwa Pudong) gibt, rückt die chinesische Hauptstadt als Referenzobjekt der Stadtentwicklung mehr und mehr in den Fokus. Dabei hat sich Peking in den letzten fünfzehn Jahren stärker verändert als jemals zuvor in seiner Geschichte. Es ist die Metamorphose einer bildhaften, klar gegliederten Kapitale in eine global city mit ambivalenten Strukturmerkmalen. Was zuvor des Kaisers Sitz, dann das repräsentative Zentrum des ‘neuen China" war, zeigt nun das verspiegelt-glitzernde Antlitz einer internationalen Metropole: So modern wie austauschbar. Trifft man beispielsweise des Nachts hier ein, so nimmt man bei seiner Fahrt ins Zentrum zunächst einmal nur den inzwischen ubiquitär zum Standard gewordenen Stadtbrei aus Neonwerbung, überbreiten Verkehrsschneisen, Brutalbetonsiedlung und Ketten aus Kaltlicht wahr. Ein normaler Prozeß, mag man meinen. Und dennoch einer, den genauer zu betrachten sich lohnt. Ist Peking doch nicht irgendeine Stadt, sondern das „kosmische Zentrum“ – nicht nur für Chinesen. Noch immer zeigt die ‘nördliche Hauptstadt" eine ungebrochene, fast mystische Strahlkraft, auch wenn ihre charakteristische, ganzheitliche Form mittlerweile stark verlaufen ist.
Der grundlegende Standortvorteil Pekings liegt nicht allein in seinen zentralen politischen Funktionen sowie den hier angesiedelten Zentralen der Staats- (oder mittelbar staatsabhängigen) Betriebe begründet; auch das herausragende Niveau seiner Hochschulen trägt entschieden dazu bei. Die Universitäten, deren wichtigste alle im Norden der Stadt liegen, fördern zudem die kulturelle Zentrumsfunktion, die nicht nur von dem historischen Erbe als Hauptstadt vieler Kaiserdynastien ausgeht, sondern auch von neueren geistigen, gesellschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen. Ein Beispiel ist der Dashanzi New Art District. Mehr als ein Dutzend chinesischer und ausländischer Galerien, Künstlerateliers, Designerläden, Cafés und Clubs haben sich seit 2002 in dem einst wichtigsten Militärkomplex Chinas angesiedelt. Häufig wird das Areal nur nach der Nummer der zentralen Ausstellungshalle "798" benannt. Labyrinthische Gänge führen durch charmant marode Industrieanlagen im Bauhaus-Stil; die Architekten der Gebäude kamen in den 50er Jahren aus der DDR. Für den Erfolg des "798 Art District", der in der Nähe der Kunstakademie im ausländerreichen Nordosten Pekings entstand, ist die Verbindung zum internationalen Kunstmarkt und zu ausländischen Künstlern und Kuratoren mitverantwortlich. Es sind solche "sticky places", die nicht nur attraktive Räume und kreative Cluster schaffen, sondern auch die Kunst selbst befördern. Und eben dies ist das Muster, dem auch Kneipenviertel und andere für junge Leute, Kreative, Expatriates und Touristen attraktive Orte mittlerweile nacheifern. Was das Ausgehen, was Kunst und Kultur anbelangt, steht Peking heute unbestritten an der Spitze, und zwar deutlich vor Shanghai.
Der autoritative Zentralismus Chinas verbindet sich mit der Ideologie des modernen Städtebaus
"The future is the past in reverse", hat Vladimir Nabokov einmal formuliert, und so werden auf Chinas formgewordene Zukunft häufig die Negativitäten der jüngeren westlichen Urbanisierungen projiziert. Hierzulande mag man mit Spott und Häme auf das Bedürfnis chinesischer Bauherren, Investoren, Architekten und Nutzer reagieren, Tempeldächer auf die Höhe von Hochhäusern zu heben, Gebäudeecken in luftiger Höhe mit runden offenen Türmchen zu versehen oder Hochhäuser mit Pagodenaufsätzen zu verschönern, Mautstationen von Autobahnen oder Hofeingänge zu Universitätsgebäuden als klassische chinesische Tore mit geschwungenen Dächern und glasierten Ziegeln zu gestalten. Auch an Gold, glatt geschliffenem grünen Marmor oder Glas wird nicht gespart. Auffällig zudem die Vorliebe für Zwillingsbauten: chinesische Hochhäuser kommen selten allein daher. Im Wohnungsbau ist das strikte Raster von Lochfenstern wohl verpönt, man findet eher große, unterteilte Fenster und großzügige Glasveranden mit kobaltblau bedampften Scheiben. Und vermeintlich elegante Wolkenkratzer mit den notorisch gläsernen curtain walls. Solche Vorhangfassaden stehen im heutigen China mitnichten in der Tradition ihrer Entstehung, also im Zusammenhang mit Begriffen wie Transparenz, Einfachheit, Präzision. Vielmehr werden sie als Tragschicht für beliebige, meist pittoresk-nostalgische Assoziationen benutzt.
Der traditionell autoritative Zentralismus Chinas verbindet sich auf eigentümliche Weise mit der Ideologie des modernen Städtebaus: Alles ist der Machbarkeit unterstellt (was folgerichtig wiederum nur eine Frage der Macht ist). Ein rigoroser Pragmatismus, der Stadt und Staat als Maschine begreift, am Reißbrett entworfen und entwickelt, und deren Einzelteile nach Bedarf ausgewechselt werden können. Und während die maoistische Stadt auf weitgehend autarken Einheiten, den sog. danwei, basierte, in denen Wohnen, Arbeiten und soziale Versorgung räumlich zusammengefasst werden, bilden sich nun Industrie-, Geschäfts- und (verschiedenartige) Wohnviertel heraus. Dabei ist die Gleichförmigkeit der Geschäfts- und Bürohochhäuser, die die traditionelle Stadtstruktur überformt, schlicht Ausdruck einer auf beschleunigter Zirkulation basierenden Ökonomie. Vor allem fehlt die ökonomische Vernunft, materiell Dauerhaftes zu produzieren. Die chinesischen Unternehmen haben in kürzester Zeit große Mengen an Kapital akkumuliert, die, um den Steuerbehörden zu entgehen, in Immobilien gesteckt werden. Hoch subventionierte Staatsunternehmen investieren ihr Geld lieber auf dem Immobilienmarkt als für längerfristige Umstrukturierungsmaßnahmen; ausländische Unternehmen, denen die Transferierung ihrer Gewinne untersagt ist, folgen diesem Beispiel. So nimmt es nicht wunder, wenn im heutigen Peking die für eine global city typischen Entwicklungen überhand nehmen, wenn soziale Polarisierung und Segregation eine sozialräumliche Situation erzeugen, die vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen wäre.
Peking zeigt sich gequält von Staus, von einer nach Mexico-City weltweit am stärksten verpesteten Luft, von chronischem Wassermangel, vom Zustrom der ländlichen Migranten und von einem eklatanten Wohlstandsgefälle. Alles typische Indikatoren einer "Dritten-Welt-Metropole", sehr zur Verzweiflung der nach "Weltniveau" heischenden Verantwortlichen. Dabei ist die Stadt im Begriff, sich eine neue Identität zu schneidern. Nirgendwo ist die Gier nach Land größer als in Peking: In der ewig wachsenden Stadt steigt der Wert des Grundbesitzes um 15 Prozent pro Jahr. Familien, die seit Generationen in den typischen siheyuan der hutongs leben, in denen alle Räume um einen Hof herum gruppiert sind, zeigen sich akut bedroht von einer explodierenden Stadtentwicklung.
Jenes von Nostalgie nicht ganz freie Flair und Ambiente der alten Kaiserstadt mit ihren verschachtelten Hutongs, die der Besucher der Olympiastadt sich erhoffen mag, ist längst im Verschwinden begriffen. Die traditionellen Rundhöfe ohne Kanalisation, die noch bis vor wenigen Jahren einen Teil der Verbotenen Stadt umgaben, sind dem Untergang geweiht. Im Augenblick weichen die engen Straßenzüge um Qianmen, einem der letzten soziokulturell noch intakten Viertel hinter dem Tiananmen-Platz, schillernden Bürokomplexen, Hotels und Shopping Malls. Ebenso wird das überkommene Peking der sechziger Jahre mit seinen Plattenbausiedlungen und Straßenzügen, die allein Omnibussen und Fahrrädern gehören, als nicht olympiawürdig empfunden. Und ganz massiv einem modernisierungswütigen Umbau anheim gestellt.
Nicht die Wolkenkratzer in den Metropolen, sondern die Urbanisierung von deren Regionen ist der derzeitige Haupttrend
Die Schwierigkeit, eine sich auf allen Ebenen neu konstituierenden Urbanität mit den langen Zeitmaßstäben der Stadtentwicklung zu erfassen, drückt sich nun auch in relativierenden Ansichten über einstmals verworfene Planungen aus. Wenngleich man nicht behaupten kann, dass das heutige Stadtbild Pekings die – politisch schleichende und wirtschaftlich forcierte – Emanzipation seiner Bürger spiegelt, so dient es doch immerhin als eine Art Gradmesser. Dabei – und hierin dem großen Konkurrenten Shanghai durchaus ähnlich – wird die urbane Entwicklung Pekings gerne so verkauft, oder wahlweise rezipiert, als sei sie entweder eine bislang unbekannte Art der Stadtakkumulation oder aber eine Neuimplementierung besonders guter europäischer Städtebaukonzepte und Baustile.
Hierzu sind drei relativierende Anmerkungen unverzichtbar:
- Man verkennt heute gern die essentiellen Unterschiede zwischen dem fernen Osten und dem Abendland. Seit Beginn der Moderne vor über 200 Jahren haben sich die jeweiligen Raumauffassungen voneinander entfernt. Während der Westen rational-technisch, zeitfixiert, perspektivisch organisiert und auf das Individuum bezogen ist, hat im Osten das sinnlich-emotionale, das zeitfreie, das aperspektivische Denken seinen Sinn behalten; und nach wie vor steht das Kollektive im Vordergrund. Was bedeutet, dass das gleiche Raumbild in Ost und West nicht die selbe Bedeutung hat.
- In China ist gesetzlich vorgeschrieben, dass ein ausländisches Büro mit einem einheimischen Planungsinstitut zusammenarbeiten muss – und dieses dann die Gesamtverantwortung des jeweiligen Projektes trägt. Was bedeutet das für eine europäische bzw. abendländische Authentizität?
- Was in und um Peking passiert, ist (ebenso wie in Shanghai) die Fortsetzung einer Planungspolitik aus den Jahren 1956/57 und erneut der 80er Jahre. Sie betont gewisse Kontinuitäten, die man hierzulande entweder nicht sehen will oder kann, weil man sich am Export der eigenen Architektur- und Stadtplanungsphilosophie – und damit ihrer vermeintlichen Plausibilität, ja Alternativlosigkeit – berauscht. Denn sowohl die massive Innenentwicklung, als auch die Satellitenstädte sind bekannte und eingeübte Praxis, aber sie vollziehen sich nach chinesischen Parametern. Die westlich anmutende Bildregie dient weithin bloß als Dekoration.
Der urbanistische Handlungsdruck allerdings ist auch enorm – nicht nur wegen der „illegalen“ Wanderarbeiter (ohne festen Aufenthaltsstatus), sondern auch wegen prognostizierten Bevölkerungszuwachs von etwa 3 bis 5 Millionen in den nächsten 15 Jahren. Um funktionsfähig zu bleiben, soll die eigentliche Stadt dabei weder einem weiteren Ausufern noch zunehmender Verdichtung ausgesetzt werden. Mit anderen Worten: Der Zuwachs soll nicht in der Kernstadt, sondern im Umland stattfinden. Geplant sind Dutzende von "New Towns" mit je 50-100.000 Einwohnern als lokale Zentren sowie eine Reihe von möglichst autonomen "New Cities" mit je rund einer halben Million Bewohnern. Und ähnlich wie im Yangtse-Delta um Shanghai wachsen Peking und die umliegende Städte zu einer Megastadtregion zusammen. Die funktionale Verflechtung als Stadtregion wird auch als Strategie gesehen, um in der Konkurrenz der Regionen bestehen zu können. Durch diese Brille betrachtet liegt der immer wieder angeführte „unglaubliche Maßstab“ der derzeitigen Stadtentwicklung in China nicht im massenhaften Bau von Wolkenkratzern in den Städten, sondern in einer massiven Urbanisierung des direkten Hinterlandes der Metropolen.
Es bleibt festzuhalten, dass die Rolle der Hauptstadt sich, nicht nur im nationalen Kontext, erheblich gewandelt hat, und dass ihr Gewicht stetig zunimmt. Eine politische Bevorzugung Pekings mag zwar weniger augenscheinlich sein als in den vorherigen Fällen – in den 80er Jahren Shenzhen, in den 90er Jahren Shanghai/Pudong –, aber die Betonung einer gewissen Vorherrschaft als Haupt- und Weltstadt ist doch evident. Während andernorts Infrastrukturprojekte von der Zentralregierung – in der Sorge um eine überhitzte Wirtschaftsentwicklung – blockiert werden, läuft die Bautätigkeit in Peking auf Hochtouren; die Olympischen Spiele sind da lediglich ein willkommenes Argument. Damit knüpft die Stadt an seine 1000-jährige Tradition an: Sie fungiert und funktioniert wieder als Modell für die sozialräumliche und politisch-symbolische Ordnung Chinas.