Olympische Spiele: Das fehlende Sieger-Gen der Deutschen
Schwache Bilanz: Wollen wir noch Leistungsmessung? Ist der Medaillenspiegel unwichtig? Stimmen aus den Medien. Vier deutsche Kernprobleme.
Franzosen und Russen gehört das Land,
Heinrich Heine
Das Meer gehört den Britten,
Wir aber besitzen im Luftreich’ des Traums
Die Herrschaft unbestritten.
Alles Schönreden während der Spiele zum Trotz – am Ende hat Deutschland bei den Olympischen Spielen in Paris so schlecht abgeschnitten wie noch nie: Der zehnte Platz im Medaillenspiegel ist ein Tiefpunkt der letzten Jahrzehnte. Oder sollte man dieses Abschneiden als vorläufigen Höhepunkt eines Zivilisierungsprozesses werten?
Vielleicht sind wir hier bei Telepolis auch nur besonders kritisch. Vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen für die deutsche Gesellschaft, dass die Deutschen keinen Wert mehr darauf legen, unter den Top-Nationen zu sein, Wettkämpfe zu gewinnen, sich sportlich zu messen? Dass sie weniger kampfbereit ist, sich zivilisiert und sie mit Plätzen unter "ferner liefen" zufrieden ist.
Fakten lügen nicht
Der große Vorteil des Medaillenspiegels ist jedenfalls: Er lügt nicht. Es sind nackte statistische Fakten, die Zahl der Medaillen und die Zahl der Goldmedaillen aller Länder sind vergleichbar.
Der Befund ist unzweideutig: Die Bundesrepublik Deutschland hat schlechter abgeschnitten, als acht andere demokratische Länder und als die Volksrepublik China – während ein Land wie die Niederlande, das gerade mal so groß ist wie Nordrhein-Westfalen, 15 Goldmedaillen gewinnt und insgesamt auf Platz sechs liegt und Italien zwar in der Zahl der Gold- und Silbermedaillen mit Deutschland gleichauf liegt, aber insgesamt sieben Medaillen mehr gewonnen hat als die Deutschen, etwa also fast ein Viertel mehr. Frankreich auf dem fünften Platz und Großbritannien auf dem siebten haben sogar knapp doppelt so viele Medaillen wie die Deutschen.
Enttäuschungen: Die Weltspitze ist entrückt
Auf die Frage, ob man im deutschen Team zufrieden sei, obwohl es weniger Medaillen gab als bei den Spielen in Tokio 202,1 antwortete Olaf Tabor, Chef de Mission der deutschen Olympiamannschaft heute Morgen im Bayerischen Rundfunk:
Das kann ich unumwunden so sagen. (…) Wir sind mit einem deutschen Team beteiligt gewesen, das herausragenden Sport geboten hat, einige Weltklasseleistungen. (…) Wir sind mit dem Ziel hergefahren, wieder Top Ten zu werden, das haben wir geschafft. Mit etwas weniger Medaillen als in Tokio, aber wir sind trotzdem zufrieden.
Olaf Tabor, Chef de Mission der deutschen Olympiamannschaft
Natürlich kann man argumentieren: Der Medaillenspiegel ist egal. Aber die Frage nach den Ursachen wäre trotzdem zu beantworten. Man kann ja den Befund verschieden bewerten, aber man sollte nicht über die Tatsachen streiten müssen. Die Tränen der deutschen Vierten sprechen da eine ganz andere, eigene Sprache.
Handelt es sich um mentale Probleme oder Leistungsprobleme?
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Einzelnen Spitzenleistungen zum Trotz ist die deutsche Olympia-Bilanz so schwach geblieben, wie sich bereits vor zehn Tagen angedeutet hat: im Schwimmen eine Goldmedaille, aber ansonsten nicht viel, Leichtathletik weitgehend Fehlanzeige.
Da gab es im Weitsprung der Frauen und Speerwerfen der Männer Enttäuschungen. Die wurden wettgemacht durch die überraschende Goldmedaille im Diskuswurf der Frauen, durch Bronze in der 100-Meter-Staffel, ansonsten aber scheint den Deutschen das Sieger-Gen zu fehlen. Die Weltspitze ist weiter entrückt.
Natürlich ist vieles auch eine Frage der Betrachtungsweise. Das zeigt der Vergleich der Schlagzeilen/des Framings von ARD und ZDF, als am Abend des zweiten Donnerstags die Ergebnisse des Tages in Schlagzeilenform zusammengetragen werden: Die ARD schreibt: "Mihambo mit Silber. Hockey-Männer unterliegen Oranje. Speerwerfer Weber nur Sechster. Basketballer nicht im Finale."
Viel besser ist die sportliche Weltlage im ZDF: "Mihambo gewinnt Weitsprung-Silber. Silber für deutsche Hockey-Männer. Basketballer spielen um Bronze."
Nicht normal ist, dass dies in der Breite geschieht
Mache Ergebnisse sind sehr knapp, und es ist normal, dass einzelne Sportler unter den Erwartungen bleiben. Es ist normal, dass einzelne Verbände nicht die gewünschten oder erwarteten Ergebnisse erreichen und vielleicht die Verbände selbst auch in der Krise sind. Nicht normal ist, dass dies in der Breite geschieht.
Es gibt keinen einzigen Verband, der wesentlich besser abgeschnitten hat, als erwartet wurde. Man kann auch sagen, in manchen Fällen war es vielleicht einfach nur Pech – aber ist es alleine durch Pech zu erklären, dass sowohl die deutschen Herren, wie die deutschen Frauen im Hockey ihr letztes Spiel jeweils durch ein Penalty-Schießen verloren, bei dem sie de facto keine Chance hatten?
Und dass in beiden Fällen die Niederlande den Wettbewerb gewannen? Woran liegt es, dass die einen zweimal gewinnen, die anderen es nur einmal ins Finale schaffen?
Vier Kernprobleme der Deutschen
Aber was sind denn die Ursachen?
Problem Nummer 1: Fehlende Selbstkritik und die Unfähigkeit, Defizite zu benennen. Stattdessen Schönfärberei und Selbstbetrug: Vierte, fünfte und sechste Plätze seien doch auch schön, meinte etwa mit einer erstaunlichen Bereitschaft zum Ignorieren der Realität, der Sprecher der Athletenvereinigung Johannes Heber. Vielleicht ja auch ein zehnter Platz und ein 33ter?
Problem Nummer 2: Das Mentalitätsproblem. Denn es ist eines. Gerade in den Mannschaftssportarten ist die fehlende Mentalität in Finalspielen eklatant: In nur einem einzigen Mannschaftsfinale haben die Deutschen gewonnen: Beim 3x3-Basketball der Frauen. Aber dreimal wurde verloren: Das Finale beim Handball, im Beachvolleyball, im Hockey der Männer. Davor auch die Halbfinale im Frauenfußball, im Basketball, das Viertelfinale im Frauenhockey und im Volleyball.
Verloren wurden auch Finalkämpfe in den Kampfsportarten Judo, Taekwondo und Boxen, im Bahnradfahren, im Tischtennis der Mannschaft; gewonnen wurden nur Finale im Rudern und Kajak.
Schon vor Beginn der entscheidenden Spiele ist bei Deutschen oft eine Mischung aus Zufriedenheit mit dem Erreichten und vorauseilender Eingeschüchtertheit zu beobachten. Die Teams im Herren-Handball und im Beachvolleyball der Herren verloren nicht nur ihre Finalspiele, sie waren schon sehr früh vollkommen chancenlos.
Gegen die Weltmeister aus Dänemark lagen sie nach 18 Minuten 14:6, also haushoch zurück, der Torwart schaffte genau zwei Paraden. Gegen die Weltmeister aus Schweden gaben die deutschen Beachvolleyballer den ersten Satz fast kampflos ab. Ähnlich die Basketballer im Spiel um Bronze.
Es hapere am mentalen Willen und zu schneller Selbstzufriedenheit, vermutet auch Ingo Froböse von der Sporthochschule Köln im Deutschlandfunk: "Man sackt ab, und hängt durch, wenn man sich einmal qualifiziert hat."
"Wir brauchen Wettkämpfe und Leistungsmessung. Das wollen wir offensichtlich nicht mehr"
Problem Nummer Drei: Die Körper der Menschen verändern sich zum Schlechten. Bewegungsarmut ist schuld. Es gibt zu wenig Bewegung und es gibt Ernährungsdefizite. Die fiktiven "dicken Kinder von Landau", die Fernsehentertainer Harald-Schmidt vor einem Vierteljahrhundert parodierte, sind längst von der Wirklichkeit übertroffen.
Problem Nummer Vier: "Die Wertigkeit des Sportes für die Gesellschaft wird in Deutschland überhaupt nicht gesehen und erkannt", so Froböse weiter. Der Wissenschaftler vergleicht die Lage in Deutschland mit der in den USA, wo auch viele deutsche Athleten, die erfolgreich sein wollen, trainieren:
Wenn wir uns die amerikanischen Sportler ansehen, dann ist dort Sport unter anderem auch ein Mittel, um seinen Status in der Gesellschaft zu verbessern und sich Anerkennung und Wertschätzung zu erwerben. Diese Wertschätzung haben wir nicht, weil wir in Deutschland nicht erkennen, dass viel Persönlichkeitsentwicklung im Sport steckt.
Ingo Froböse
Darum sei "nichts Neues in Sicht.":
Wir finden keine neuen Talente und das führt einfach dazu dass uns die anderen Nationen davonmarschieren. Wir haben kaum Talentsichtung, früher wurde das sehr systematisch gemacht an den Schulen.
Ingo Froböse
Die Bundesjugendspiele als Indikator seien weggefallen. Das System habe sich komplett verschoben, weg vom Wettkampfdenken. Aber "Kinder wollen auch Wettkämpfe. Doch wenn wir Ihnen sehr früh den Willen am Wettkampf und auch das Interesse am Wettkampf wegnehmen, indem wir zum Beispiel nicht die Leistungsherausforderung klar an eine Gesellschaft hineintragen".
Froböse nennt die "seltsamen" Leistungen in Bezug auf die Abiturnoten:
Wenn fast 40 Prozent beim Abschluss eine eins haben, dann passt doch in der Leistungsbewertung irgendetwas ganz grundsätzlich nicht. Leistung ist nicht mehr das was Leistung einmal war. ... Wir brauchen letztendlich Wettkämpfe wir brauchen Leistungsmessung insbesondere im Kindes und Jugendalter und das wollen wir offensichtlich nicht mehr.
Ingo Froböse
Dieses schwache Abschneiden mündet in spiegelt einen generellen Abwärtstrend: in den vergangenen Jahren im vergangenen Jahr gab es bei der Leichtathletik WM nicht eine einzige Medaille, beim Schwimmen in der Halle schnitt man ebenso schlecht ab, die Frauen Nationalmannschaft sieht bei der WM ebenso früh aus wie die Männer.
Zumindest im Fußball hat es zuletzt wieder etwas ansteigende Leistung gegeben. Auf der anderen Seite aber steht die Lage eines ganzen Landes: die Wirtschaftsflaute, zurückgehende Aufträge, auch sonst stagnierende Daten, ein schwindendes Vertrauen in die Politik, speziell auch in die Regierung der Ampelkoalition.
Sport und Kultur
"Versailles, wo Ludwig XIV. mit ungeheurem Aufwand ein Schloss mit 700 Zimmern hingebaut hat. 1668, so lange ist das schon her, aber es ist immer noch die Attraktion" – mit diesem Besinnungssatz am frühen Morgen könnte das ZDF, ohne es zu wollen, die Antwort auf einige der hier berührten Fragen gegeben haben: Kultur und Sport sind nicht zu trennen.
Aber was ist Kultur und was bedeutet kulturelle Überlegenheit? Worauf kommt es wirklich an? Vielleicht hängt die französische Leistung im Sport ja mit Versailles zusammen, vielleicht gibt es ein kulturelles Unbewusstes und eine Art kollektiven Willen?