Open Fire: Das tödlichste Jahr für Palästinenser unter israelischer Besatzung
Schüsse in den Rücken von Fliehenden, tote Kinder auf dem Schul-Heimweg, ein misshandelter 80-Jähriger, der an Herzinfarkt stirbt. UN und Menschenrechtler sind schockiert über israelische Besatzungsgewalt in 2022. Eine blutige Bilanz.
Ein 14-jähriges Kind, das gestern bei einem Angriff der israelischen Armee auf das Flüchtlingslager Deheisheh in Bethlehem schwer verletzt wurde, ist nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums seinen Wunden erlegen.
Wie das Ministerium in einer kurzen Erklärung mitteilte, starb der Omar Lutfi Khumour im Krankenhaus, nachdem er am Montagmorgen durch israelische Schüsse schwer verletzt worden war. Khumour wurde bei einer israelischen Militärrazzia von einer Kugel in den Kopf getroffen.
Eine große Einheit der israelischen Armee habe das Lager Deheisheh gestürmt und Häuser durchsucht, um Aktivisten zu verhaften, wie die Nachrichtenagentur WAFA berichtete. Während der Razzia stellten sich junge Bewohner des Lagers den Soldaten entgegen, die daraufhin scharfe Munition und Tränengaskanister abfeuerten.
Omar ist nicht das erste palästinensische Opfer im Kindesalter im neuen Jahr. Der 15-jährige Adam Ayyad wurde bereits am ersten Tag 2023 von israelischen Streitkräften erschossen. Bei einer Razzia im selben Flüchtlingslager im Westjordanland töteten ihn Soldaten durch Schüsse in die Brust.
Adam Ayyad beschrieb in einer Art Testament, das er zuvor verfasst hatte, was er alles tun würde, "wenn ich nicht in einem Land leben müsste, in dem es unmöglich ist, seine Träume zu verwirklichen". Er besuchte eine von der UN finanzierte Schule und arbeitete in einer nahe gelegenen Bäckerei, um seine Eltern zu unterstützen. Insgesamt wurden allein in den ersten 24 Stunden des neuen Jahres drei Palästinenser bei den fast täglich früh morgens sich ereignenden, oft tödlichen Durchsuchungs- und Verhaftungsaktionen von israelischen Streitkräften getötet.
Zeugen berichteten, Adam sei einer von mehreren Jugendlichen gewesen, die versuchten, Soldaten daran zu hindern, Adnan Ajouri, einen anderen Bewohner, mitzunehmen, als ein israelischer Scharfschütze das Feuer auf sie eröffnete. "Die Armee kommt nie in das Lager, ohne jemanden zu töten, wenn sie es verlässt", sagte ein Zeuge. "Es ist wie eine Strategie, die sie verfolgen. Jedes Mal, wenn sie ins Lager kommen, haben sie den Befehl zu töten."
Damit beginnt das Jahr 2023 so, wie das vorangegangene aufgehört hat. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte teilte mit, dass 2022 das tödlichste Jahr seit fast zwei Jahrzehnten für Palästinenser gewesen sei, die unter der Besatzung leben. Danach sind allein 150 Palästinenser, einschließlich 33 Kinder, durch israelische Soldaten im Westjordanland getötet worden. Die Opfer sind zwischen 12 und 80 Jahre alt. Die Schüsse treffen sie in Brust, Kopf und Augen oder in den Rücken, während sie vor israelischen Soldaten fliehen.
Im Gazastreifen erschossen israelische Streitkräfte weitere 32 Palästinenser. Zusammengenommen sind 2022 danach mindestens 190 Palästinenser von Israelis getötet worden (inklusive der Tötungen durch Siedler). Eine Auflistung von Mondoweiss schätzt die Zahl auf 220 bis 231 Getöteten. Im Westjordanland und in Israel wurden nach Angaben von B’Tselem zudem 22 Israelis von Palästinensern getötet.
Die Experten der UN rügen Israel für die übermäßige Gewaltanwendung der israelischen Streitkräfte gegen Palästinenser und die ungezügelte Gewalt israelischer Besetzer auf palästinensischem Land. Sie verweisen darauf, dass israelische Offizielle nach internationalem Recht die Verantwortung haben, für die Sicherheit und das Wohlergehen der besetzten Bevölkerung zu sorgen.
Wir erinnern Israel daran, dass die Palästinenser in den besetzten palästinensischen Gebieten bis zur Beendigung der rechtswidrigen Besetzung als geschützte Personen und nicht als Feinde oder Terroristen behandelt werden dürfen.
Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem zeigt sich schockiert über den Gewaltanstieg.
Die Zahlen verdeutlichen Israels rücksichtslose "Open-Fire"-Politik in den besetzten Gebieten, die im letzten Jahr noch tödlicher wurde. Jeder Palästinenser ist "verdächtig", und jede – tatsächliche oder eingebildete – Gefahr für die israelischen Streitkräfte wird mit tödlichen Schüssen beantwortet. Solche Fälle sind keine Ausnahmen, sondern ein fester Bestandteil der Politik des israelischen Apartheidregimes, das sich auf Gewalt stützt, um sein Leitprinzip der jüdischen Vorherrschaft durchzusetzen. Um dieses Prinzip voranzutreiben, sorgt die Regierung auch dafür, dass niemand für diese Tötungen zur Rechenschaft gezogen wird: nicht die Soldaten, die den Abzug drücken, nicht die Kommandeure, die den Befehl geben, nicht die juristischen Berater, die die Politik des "Open-Fire" genehmigen und auch nicht die militärischen sowie politischen Verantwortlichen, die sie gestalten.
Bewaffnete, maskierte Siedler terrorisieren ganze Gemeinden
Aber nicht nur Soldaten sind an der Gewalt beteiligt. B’Tselem listet acht Palästinenser auf, die im letzten Jahr von israelischen Zivilisten allein oder unterstützt von israelischen Streitkräften im Westjordanland getötet wurden. Fanatische Siedler, die auf dem Land palästinensischer Familien gebaut haben und bewaffnet herumlaufen, bereiten auch den UN-Menschenrechtsexperten besondere Sorgen.
Bewaffnete und maskierte israelische Siedler greifen Palästinenser in ihren Häusern an, attackieren Kinder auf dem Weg zur Schule, zerstören Eigentum und brennen Olivenhaine nieder und terrorisieren ganze Gemeinden völlig ungestraft.
Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation sind nur 42 der palästinensischen Opfer in bewaffneten Konflikten umgekommen. Die überwiegende Mehrheit der Opfer sind Unbeteiligte oder Zivilisten, die bei Razzien durch israelische Streitkräfte starben. Die meisten Getöteten waren zudem unbewaffnet. Manche warfen Steine oder gelegentlich Molotowcocktails in Richtung der Soldaten, ohne eine wirkliche Gefahr für sie darzustellen. Die Tötungen seien daher, so B’Tselem, überwiegend "unrechtmäßig, unmoralisch und nicht zu rechtfertigen".
So wurde der 16-jährige Nader Rayan auf der Flucht vor Polizisten in den Rücken geschossen, die auch nach seinem Sturz weiter auf ihn schossen. Oder ein weiterer beliebiger Fall. Am 11. Mai letzten Jahres töteten israelische Soldaten den ebenfalls 16 Jahre alten Thaer Mislet, der vom Straßenrand eine Szene beobachtete, bei der Steine geworfen wurden.
Andere Palästinenser erschoss man auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Heimweg von der Schule. Ein 57-jähriger Diabetiker erstickte bei einer Razzia an Tränengas. Ein 80-Jähriger starb bei einer Kontrolle. Die Soldaten behaupteten, er habe sich "der Überprüfung widersetzt". Sie schleiften ihn rund 200 Meter über den Boden, knebelten und fesselten ihn und warfen ihn mit verbundenen Augen in ein Lagerhaus, wo er an einem Herzinfarkt starb. Seine Leiche wurde zurückgelassen.
Der Tod des 80-jährigen Omar As'ad erhielt große Aufmerksamkeit in den Medien, weil er einen US-Pass besaß. Das Gleiche gilt für die TV-Journalistin Shireen Abu Akleh, die von israelischen Soldaten mit einem gezielten Kopfschuss niedergestreckt wurde, wie mehrere Untersuchungen zeigen. Sie trug einen Helm und eine Schutzweste, beide mit Presse-Aufschrift, als sie im Westjordanland unterwegs war. Telepolis hat darüber mehrfach berichtet. Die vielen anderen Fälle, bei denen Palästinenser getötet werden, erhalten aber meist keine Beachtung.
Die israelischen Streitkräfte zerstörten im letzten Jahr zudem 950 palästinensische Häuser. Mehr als 9.000 Palästinenser wurden bei unterschiedlichen Gewalttaten verwundet. Die UN-Berichterstatter für Menschenrechte in den besetzten Gebieten warnen vor einem zunehmenden Erosionsprozess, genährt von einer immer brutaler ausgestalteten Okkupationspolitik:
Die illegale Besiedlung stellt eine Bedrohung für die israelische Gesellschaft als Ganzes dar. Wenn die israelischen Streitkräfte die vorherrschende Siedlermentalität nicht aufgeben und die Palästinenser in den besetzten Gebieten nicht rechtmäßig als geschützte Personen behandeln, wird sich Israels beklagenswerte Bilanz im besetzten Westjordanland im Jahr 2023 wahrscheinlich weiter verschlechtern. Unter Israels repressiver Besatzung kann keine friedliche Lösung angestrebt werden: eine Realität, die ein Weckruf für alle Entscheidungsträger sein sollte.
Das gilt sicherlich auch in Hinsicht auf die Bildung der rechtsextremsten Regierung in der Geschichte Israels unter Benjamin Netanjahu. In ihr agieren Kabinettsmitglieder, die selbst illegale Landbesetzer auf gestohlenem palästinensischem Land sind und sich für weiteren Diebstahl einsetzen. Auch andere wichtige Posten im Militär und den Gerichten werden zunehmend mit Siedlern besetzt.