Orange Alert
Dient das erhöhte Sicherheitsrisiko zur Zähmung der Widerspenstigen in den USA
Alle US amerikanischen Bürger sind vom Bioterrorismus bedroht. Das ist nicht mehr nur "neighbourhood watch", sondern verlangt nach dem offenen Bekenntnis zur amerikanischen Nation.
"Es ist die Abstimmung mit dem Arm", räsoniert Paul Offit, Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten am Children's Hospital von Philadelphia und Berater des US Präsidenten für die Aktion "Schutzimpfung von Ärzten und Pflegepersonal": Amerikanische Ärzte und Krankenschwestern verweigern sich: weniger als 1000 von 1/4 Million Impfdosen sind verabreicht worden, seitdem der Impfstoff vor zwei Wochen bereitgestellt wurde. Insgesamt liegen 500.000 Impfdosen auf Lager.
Die Verordnung im Hauruck-Verfahren, die Angst vor Nebenwirkungen, die Unsicherheit, wer für die ausfallenden Stunden oder gar für die Behandlungszeit ernsthafter Komplikationen aufkommt, machen die Bemühungen der US-Regierung zunichte, rechtzeitig vor dem Krieg die ersten Anlaufstellen von Pockenkranken, nämlich die Krankenhäuser und ihre Notfallambulanzen, entsprechend vorzubereiten.
"Wie soll ich meine Familie schützen, wie die Patienten, mit denen ich Umgang habe?" fragt eine Krankenschwester. "Die kleine Bandage am Arm ist doch kein Schutz. Da rutscht einer, greift nach meinem Arm und schon ist die Bandage hin." Diese Meinung findet Rückhalt bei vielen Verantwortlichen in den Vereinigungen von Schwestern und Krankenpflegern. Nicht ohne Ironie ist, dass am Wohnort des früheren demokratischen Präsidenten Bill Clinton der erste lautstarke Protest begann, am St. Vincent Infirmary Medical Center in Little Rock, Arkansas. Maragaret Preston, Sprecherin für die Catholic Health Initiatives of Erlanger erklärte: "Die Pockenschutzimpfung des Personals ist ein Risiko für die Patienten, und dieses Risiko ist größer als der Nutzen." Danach ging es wie ein Lauffeuer durch die Bundesstaaten: "Wir haben immungeschwächte Kinder." "Wir haben Krebskranke mit Abwehrschwäche." Und manche Krankenhausträger sekundieren: "Wir können den zusätzlichen Ausfall von Personal bei der angespannten Lage nicht verkraften."
Pockenimpfungen gegen die scharzen Blattern
Europäische Medizinhistoriker sind der Auffassung, dass der 30jährige Krieg nur wegen der Pockenepidemien ausgebrannt ist. Schon Martin Luther beschreibt sie als "böse schwartze blattern". Im späten 17. Jahrhundert starben jährlich schätzungsweise 400.000 Europäer an Pocken, davon 70.000 Deutsche. Hinzu kommen dauerhafte Schäden: Erblindung, Taubheit, Lähmungen, vom "pockennarbigen Gesicht" ganz abgesehen. Island zählte 1703 mehr als 50.000 Einwohner und vier Jahre nach der Pockenepidemie knapp 34.000 Personen. Da die Ansteckungsrate für nicht-immune Menschen bei nahe 100 Prozent liegt, sind Menschenansammlungen tödlich. In Paris wurden allein im Jahr 1713 mehr als 20.000 Personen beerdigt, später nur noch verscharrt. Aus diesen Erfahrungen erwuchs das Prinzip der Impfung. Das individuelle Risiko hatte zurückzutreten vor dem Effekt für die Gesamtbevölkerung. In Deutschland wurde das Impfrisiko durch die Pflichtimpfung im Säuglingsalter gering gehalten und die Komplikation beim Erwachsenen durch die gesetzlich geregelte Entschädigung wirtschaftlich abgefedert.
Aus diesen Erfahrungen ist die Pockenschutzimpfung die logische Konsequenz für die dauerhafte Vorsorge. Da mit lebendem, wenn auch abgeschwächtem Virus geimpft wird, besteht zwar die Gefahr der Schmierinfektion. Die war nach den jahrhundertelangen deutschen Erfahrungen selbst bei Säuglingen und Kleinkindern unwesentlich und dürfte mit den heute verfügbaren Klebeverbänden noch geringer sein. Nur impfen sollte der Arzt können. Es geht nicht um den schmerzlosen Schuss wie bei der Grippeimpfung oder um eine Spritze in den Allerwertesten, sondern um das gekonnte Einritzen der Haut mit dem besonderen Impfskalpell, das nicht zu viel und nicht zu wenig Viren in die blutfreie Nische einbringt. Früher musste in Deutschland jeder Medizinstudent die diffizile Technik erlernen. Heute gibt es nur wenige Ärzte mit praktischer Erfahrung. Folglich steigt das Impfrisiko um ärztliche Kunstfehler. Ein weitaus gewichtigeres Argument erwächst jedoch aus der Unkenntnis des wahren Erregers: Greifen die Terroristen auf einen der beiden bisher bekannten Viren zurück oder auf eine biotechnische Variante, gegen die der herkömmliche Impfstoff wenig oder gar nicht wirksam ist?
Die Inkubationszeit für die herkömmlichen Pocken liegt bei 14 Tagen. Frei von Explosivstoffen und Waffen haben "Selbstmordattentäter" reichlich Zeit, ins Land einzureisen und bis zum Ausbruch der Erkrankung in öffentlichen Verkehrseinrichtungen oder Einkaufszentren Menschen anzuhusten und zu berühren. Oder sie könnten, wie es die Engländer vor 150 Jahren in Kanada zur Ausrottung der Indianer praktizierten, pockenviren-geschwängerte Decken verteilen. Die anfänglich hochfieberhafte Erkrankung mit Kopf-, Glieder- und Kreuzschmerzen wird die Kranken in die Ambulanzen der Krankenhäuser treiben und dort gleichermaßen das ungeimpfte Personal und über den direkten Weg die immungeschwächten Patienten dahinraffen. Die Zeit der Vorwarnung ist kurz: Welcher Arzt hat bisher schon das Krankheitsbild "live" gesehen und diagnostiziert?
Automatisches Überwachungssystem
Die Horrorvision stimulierte zahlreiche US Arbeitsgruppen, ein Frühwarnsystem zu entwickeln, das ohne unmittelbares menschliches Zutun wirksam ist. Diesem Prinzip folgen Ben Y. Reis und Kollegen, ein Team von der Harvard-Universität. Sie beschreiben soeben in PNAS ein Überwachungssystem, das auf Zeitreihenanalysen beruht. Die Wissenschaftler ermittelten die täglichen Zugänge in einem Kinderkrankenhaus für das vergangene Jahrzehnt und leiten aus den Neuerfassungen des Tages eine Warnung ab, falls die Zahl der eingelieferten Kinder pro Tag oder in Folge mehrerer Tage über ein bestimmtes Niveau hinausgeht. Motiviert durch diese und ähnliche Berechnungen laufen bei vielen Krankenhausträgern die Computer heiß. In Massachusetts haben sich acht Träger und damit zahlreiche Hospitäler zu einem Netzwerk zusammengetan, um Auffälligkeiten herauszufiltern.
Richard E. Hoffman vom University of Colorado Health Sciences Center in Denver weist in den jüngsten Ausgabe von Emerging Infectious Diseases auf den unkalkulierbaren technischen und personellen Aufwand hin. Er erinnert an das Auftreten weniger Pockenfälle 1947 in New York: 6 Millionen Bürger wurden damals geimpft. Diese Aktion lief für drei Wochen täglich über 12 Stunden und blockierte wichtige Funktionen in 179 Krankenhäusern.
"Meine Erfahrung mit den Regierungsbehörden in Nofallsituationen ist, dass der Gouverneur ein Notfallteam zusammenruft, das Department für Sicherheit (jetzt Homeland Security) und schließlich die Nationalgarde. Keiner dieser Leute hat die notwendige Kenntnis, um mit dem Bioterrorismus fertig zu werden. Wenige Bundesstaaten, wenn überhaupt, haben Erfahrung mit Quarantänezeiten über mehr als 1-2 Tage. Auch wenn alle Bundesstaaten zum Schutz der Bevölkerung sowohl die Isolierung, wie auch Reisebeschränkungen kennen, liegt die Durchführung bei unterschiedlichen Stellen und ist unerprobt."
"Orange Alert", soeben von der US Regierung erklärt, bedeutet die vorletzte Alarmstufe. Ob sich dahinter eine reale akute Bedrohung verbirgt? Es könnte auch Zweck zum Mittel sein: Den Anordnungen der US Regierung ist im nationalen Interesse Folge zu leisten. Schließlich kommen weder von der US Armee noch aus Israel Berichte über aufsehenerregende Nebenwirkungen der dort bereits abgeschlossenen Pockenschutzimpfung. Zudem haben die USA noch niemals einen Ausnahmezustand geprobt.