Ortskräfte in Afghanistan: Auf der Flucht zurückgelassen

Anargol Ahmadi wirkte als Ortskraft am Erhalt des Weltkulturerbes mit. Dann musste sie vor den Taliban flüchten. Über das zweite Scheitern der deutschen Afghanistan-Mission.

März 2001, ein großer Knall im Bamyan-Tal in Zentralafghanistan. Wo zuvor die riesenhaften, 1.500 Jahre alten Buddha-Statuen standen, klaffen jetzt zwei menschenförmige Krater in der Felswand. Aber selbst die Fragmente, die das blindwütige Zerstörungswerk der Taliban überlebt haben, sind noch von unschätzbarem archäologischem Wert. Sie zu bergen, wäre die Voraussetzung, um die gesprengten alten Buddha-Statuen, ein Weltkulturerbe der Unesco, irgendwann wiederaufzubauen.

Eine Aufgabe, die verschiedene internationale Organisationen nach dem Ende der ersten Taliban-Herrschaft gemeinsam mit afghanischen Ortskräften angepackt haben.

Anargol Ahmadi, eine junge Archäologie-Studentin aus Bamyan, war eine von ihnen. Sie half in den Jahren 2016 und 2017 als Praktikantin mehrere Wochen bei der Bergung des archäologischen Schutts.

Ahmadis ehemaliger deutscher Betreuer und Ausbilder, ein Restaurator beim deutschen Ableger des Internationalen Rats für Denkmalpflege Icomos,, der im Auftrag der Unesco in Bamyan zahlreiche Sicherungs- und Restaurierungsarbeiten durchführte und hier anonym bleiben möchte, kann sich noch gut an seine ehemalige Praktikantin erinnern, er beschreibt sie als "tüchtig" und "gewissenhaft".

Ahmadi liebte ihren Job, sie genoss das internationale Arbeitsumfeld. "Ich hatte ein gutes Leben", sagt sie am Telefon. Ihre Stimme ist leise, klingt resigniert. Und wird wegen der schlechten Verbindung immer wieder unterbrochen. In Teheran, wo sie Ende Oktober nach einer einjährigen Odyssee nach der Machtübernahme der Taliban provisorisch bei Bekannten untergekommen ist, hat die Regierung wegen der aktuellen Proteste das Internet heruntergefahren.

Die Dreizimmerwohnung, die sich Ahmadi mit weiteren elf Menschen teilt, befindet sich nahe der umkämpften Revolutionsstraße. Immer wieder ist sie in den letzten Monaten zwischen die Proteste geraten, hat die wütenden Slogans, das Tränengas und die Schüsse auf Demonstranten miterlebt.

Schlimmer als die prekäre Situation im Iran ist aber das, was ihr in Afghanistan droht. Als im August 2021 die Taliban die politische Macht im Land zurückeroberten, änderte sich Ahmadis Leben schlagartig. Ihre ehemaligen Arbeitgeber verließen fluchtartig das Land, sie und viele andere einheimische Mitarbeiter:innen blieben zurück.

Die sunnitischen Taliban hassen diese Region, wegen ihrer reichen vorislamischen Geschichte und wegen ihrer heutigen Bewohner, den Hazara, die sie wegen ihrer schiitischen Konfession als Ketzer betrachten. In Bamyan wurde nun ausgerechnet jener Taliban-Kommandant neuer Provinz-Gouverneur, der schon vor über 20 Jahren an der Zerstörung der Buddhas und an zahlreichen Massakern gegen Hazara beteiligt war.

"Anargol Ahmadi war unter den Taliban aus gleich drei Gründen gefährdet", sagt Ahmadis ehemaliger Betreuer: "als Frau, als Angehörige der Minderheit der Hazara und als ehemalige Ortskraft einer internationalen Organisation." Ahmadi hat selbst von mehreren Kolleginnen gehört, die seit August 2021 wegen ihrer "Kollaboration" mit westlichen Organisationen gefoltert und in manchen Fällen getötet wurden. Es sind Verbrechen, die als Nachricht nur noch sehr selten die Außenwelt erreichen.

Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban flüchtete Ahmadi in die Berge und schlief monatelang in einem Zelt. Im Winter, als es dafür zu kalt wurde, versteckte sie sich bei einer Familie in einem entlegenen Bergdorf. Bis ihr ein befreundeter Archäologe aus Deutschland eine Geldsumme schickte, mit der es ihr im vergangenen Sommer gelang, sich ein Visum für Iran zu besorgen.

Bei der NGO für Denkmalpflege Icomos ist Anargol Ahmadi ein bekannter Name. Das liegt vor allem daran, dass sie das Glück hat, in Deutschland einen befreundeten Archäologen-Kollegen zu haben, der sich für sie einsetzt.

David Meier, so heißt der Mann, arbeitet selbst nicht bei Icomos, er hat die Organisation aber mehrmals per E-Mail und telefonisch kontaktiert, um Ahmadis ehemalige Arbeitgeber auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Dort habe man ihn jedes Mal nur vertröstet. "Bisher hat sich keiner von den Herren mit Ahmadi in Kontakt gesetzt. Das ist für mich ein Armutszeugnis", sagt Meier.

Jener Mitarbeiter, der bei Icomos Deutschland seit August 2021 die Gesuche ehemaliger Ortskräfte gesammelt und an deutsche Behörden weitergeleitet hat, möchte – genauso wie Ahmadis ehemaliger Betreuer – in diesem Bericht nicht genannt werden. Bei einzelnen Mitarbeitern und deren Familien habe man es geschafft, eine Aufenthaltszusage zu bekommen, berichtet er. Das seien bisher nicht viele gewesen, räumt der Mitarbeiter ein.

Bis zu 30.000 Menschen in Lebensgefahr

Diejenigen Ortskräfte, die weniger Glück hatten – darunter nicht nur Praktikanten wie Anargol Ahmadi, sondern auch langjährige Mitarbeiter – bleiben als Namen weiterhin auf Listen geparkt, die Icomos und andere deutsche Nichtregierungsorganisationen ans Auswärtige Amt und ans Innenministerium weitergereicht haben. Was mit diesen Listen im Detail passiert, ist ungewiss. "Wir haben keinen Durchblick, wer warum eine Aufenthaltszusage bekommt", sagt Ahmadis ehemaliger Betreuer.

Seit August 2021 erhielten mehr als 36.000 ehemalige afghanische Ortskräfte und weitere besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen eine Aufnahmezusage. Das erklärte die Bundesregierung im vergangenen Oktober auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Clara Bünger.

Fast genauso hoch ist aber die Zahl der Ortskräfte, die noch immer nicht als solche anerkannt oder abgelehnt wurden. Auf Anfrage der taz beziffert die Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl" deren Zahl auf ungefähr 30.000 Ortskräfte. Sie befinden sich weiterhin in Lebensgefahr oder leben in einem unmittelbaren Nachbarland in einer ähnlich prekären Lage wie Anargol Ahmadi.

Für sie sollte das "Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan" Abhilfe schaffen, das am 17. Oktober an den Start ging. Der Fokus der Unterstützung liegt dabei auf Frauen und Mädchen, die im Afghanistan der Taliban besonders gefährdet sind. Als Frau, die an dem Erhalt der von Taliban gesprengten Buddha-Statuen in Bamyan mitgewirkt hat, sollte das Programm für die Archäologin Anargol Ahmadi eigentlich wie geschaffen sein. Doch Ahmadi kommt für das Bundesaufnahmeprogramm gleich aus zwei Gründen nicht infrage.

Der erste Grund ist ihr aktueller Aufenthaltsort. Das Bundesaufnahmeprogramm richtet sich ausschließlich an gefährdete Personen, die sich noch immer in Afghanistan befinden.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl bezeichnet das Kriterium als "höchst problematisch": Gerade diejenigen, die in Afghanistan am gefährdetsten sind und deshalb in vielen Fällen bereits die Flucht in die unmittelbaren Nachbarländer ergriffen haben, bleiben dadurch vom Programm ausgeschlossen.

Der Icomos-Mitarbeiter, der innerhalb der NGO für die Anfragen ehemaliger Ortskräfte zuständig ist, spricht von einem offensichtlichen "Widerspruch innerhalb dieses Programms", das an sich wichtig sei und Anerkennung verdiene.

Der andere Grund, warum Anargol Ahmadi im Iran weiterhin sich selbst überlassen bleibt, ist die Geschlossenheit des Programms. Nicht die gefährdeten Personen selbst, sondern "meldeberechtigte Stellen", also ausgewählte zivilgesellschaftliche Organisationen, sollen die Daten der betreffenden Personen über ein Online-Tool mit mehr als 100 Fragen an die Bundesregierung weiterleiten.

Bestimmt werden die meldeberechtigten Stellen ausschließlich von der Bundesregierung. Ahmadis Arbeitgeber waren offenbar nicht darunter – doch dazu will man bei Icomos keine Angaben machen. Würde nämlich bekannt, dass eine NGO als meldeberechtigte Stelle gelistet ist, würden dessen Postfächer sofort von Hilfegesuchen geflutet werden.

Dieser Umstand habe vor Ort bereits einen betrügerischen Markt entstehen lassen, auf dem die Vermittlung in das Programm gegen Geld versprochen wird, berichtet der Icomos-Mitarbeiter. Organisationen, die die Realität vor Ort kennen, sprechen sich auch deshalb für eine Öffnung des Programms aus: Betroffene sollen sich selbst registrieren können und endlich eine wahre Handlungsoption bekommen.

Wenn die junge Archäologin Anargol Ahmadi durch das Programm keine Hilfe bekam, ist das keine Ausnahme, vielmehr die Regel: Nach einem Bericht der taz ist in den drei Monaten seit dem Start des Programms kein einziger Mensch dadurch nach Deutschland gekommen. Das Innenministerium begründet das mit "komplexen Rahmenbedingungen", mit der Neuigkeit der Verfahrens und mit der "Vielzahl von Akteuren".

Ahmadi hat sich längst nach anderen Möglichkeiten umgesehen, um sich aus ihrer Notlage zu befreien. Dazu gehörte neulich die Bewerbung für ein DAAD-Stipendium, Icomos hat dafür ein Empfehlungsschreiben verfasst. Doch diesen Versuch ließ der DAAD an den mangelnden Deutschkenntnissen scheitern – Kenntnisse, die sich Afghaninnen zumindest momentan wegen des Schulverbots der Taliban gar nicht erst aneignen könnten.

David Meier, Ahmadis deutscher Kollege, sieht in den Widersprüchen und "komplexen Rahmenbedingungen" mittlerweile ein System. "Die dreschen nur Phrasen und verstecken sich hinter kontraproduktiven Regularien", sagt er enttäuscht.

Auch Ahmadis ehemaliger Ausbilder wünscht sich, dass es weniger kompliziert und umständlich wäre, frühere Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen. Er kennt noch härtere Fälle, Familien, die sich in Afghanistan, eineinhalb Jahre nach der Rückkehr der Taliban, noch immer in Kellern verstecken müssen. "Im schlimmsten Fall", sagt er, "kostet unsere Bürokratie Menschenleben."