PR-Desaster des grünen Kapitalismus: Was von der Graichen-Affäre bleibt
Staatssekretär Graichen ist weg. Die Koalitionskrise setzt sich fort. Sozialen Klimaschutz hat keine der sich bekämpfenden Kapitalfraktionen auf dem Zettel.
Bisher war Patrick Graichen nur in umweltpolitischen Fachkreisen bekannt. Doch das hat sich innerhalb weniger Wochen geändert. Der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium wurde das Gesicht des mutmaßlichen "grünen Filzes" und musste diese Woche sein Amt aufgeben. Ressortchef Robert Habeck hatte ihn zunächst verteidigt und dann den "einen Fehler zu viel" entdeckt.
Stefan Reinecke ist zuzustimmen, wenn er in der taz den Fall Graichen kommentiert und in einen politischen Kontext setzt:
Nein, niemand hat sich in der Affäre um den grünen Staatssekretär Patrick Graichen, die Habeck nun spät beendet hat, bereichert. Es geht, anders als bei Maskendeals, nicht um Korruption und Gier. Dass ausgerechnet die CSU gegen "grüne Clanstrukturen" wettert, ist bei einer Staatspartei, bei der Filz zum Geschäftsmodell gehört, fast kurios.
Stefan Reinecke, taz
Man hätte noch hinzufügen müssen, dass ausgerechnet die Parteien der Fossilwirtschaft von AfD bis FDP so lautstark über die realen Fehler eines Patrick Graichen und seines Dienstherrn Habeck zetern, die es lauthals bejubeln, wenn die Politik, wie noch im Januar 2023, ein Hüttendorf in Lützerath räumen lässt, damit der RWE-Konzern dort weiterhin Kohle abbauen und die Umweltbilanz verschlechtern kann.
Da braucht keine Schwester irgendeines Entscheidungsträgers im Konzernvorstand zu sitzen. Die Lobbyorganisationen des fossilen Kapitalismus üben ihren Einfluss auf die Staatsapparate viel indirekter aus.
Diese Macht im Staatsapparat wollen die Vertreter der Fossilindustrie auch behalten. Denn mittlerweile wird diese Kapitalfraktion herausgefordert von den Vertretern der nichtfossilen Industrie, die allerdings noch im Wachstum begriffen ist, wie Reinecke richtig feststellt:
Die Szene der Energiewende-Expert:innen ist in Deutschland ziemlich überschaubar. Vor ein paar Jahren, vor trockenen Sommern, Fridays for Future und Ahrtal-Katastrophe, galt Klimapolitik als ein weiches Thema. Ja, wichtig, aber doch eine Art grünes special interest. Konzepte für die Energiewende entwarfen Ökoinstitute und der Thinktank Agora Energiewende, die – welches Wunder – fast alle mehr oder weniger grünennah sind.
Stefan Reinecke, taz
Machtkampf zwischen Kapitalfraktionen
Es handelt sich auch bei der Affäre Graichen um einen Machtkampf zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen in Deutschland. Die lange Zeit fast allmächtige fossile Kapitalfraktion kämpft um den Erhalt ihrer Pfründe und ihres Einflusses – und nutzt natürlich jeden Fehler der aufstrebenden nichtfossilen Kapitalfraktion, um zu verhindern, dass diese mehr Raum einnimmt. Das hat der Fall Graichen einmal mehr gezeigt.
Dass die Affäre mit dem Rücktritt des Staatssekretärs nicht ausgestanden ist, zeigt schon die Forderung der FDP, das gesamte Gebäudeenergiegesetz vorerst zurückzuziehen. Angezählt ist mit dem Rücktritt auch Habeck und das von ihm repräsentierte Projekt eines grünen Kapitalismus.
Auffällig ist, dass niemand von den vielen Anhängern dieses grünen Kapitalismus das Projekt offensiv verteidigt. Wo hört man denn von ihnen, dass sie in diesen Machtkampf die fossile Industrie anklagen, die über Jahrzehnte Profit auf Kosten von Natur und Menschen gemacht hat und jetzt um ihren Machterhalt kämpft? Wo wird denn der CDU vorgehalten, dass sie in NRW die Interessen von RWE vertritt, ohne dass Verwandte dafür in Vorständen sitzen müssen?
Interessen armer Menschen sind allen Kapitalfraktionen egal
Das zeigt nur, wie schwach die Position der neuen nichtfossilen Kapitalfraktionen noch ist, was sich aber ändern kann. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich um eine Auseinandersetzung innerhalb des System handelt – zwischen zweierlei Kapitalfraktionen, denen die Interessen der Menschen mit geringen Einkommen egal sind.
Hier unterscheidet sich auch die von Habeck repräsentierte Fraktion nicht von der fossilen Fraktion. Auch Habeck und Co. interessierte nicht, wie Menschen, die nicht vermögend sind, dafür aufkommen sollen, wenn ein Heizungstausch nach den neuen Regeln fällig.
Auch die Warnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, der vor Überforderungen für Hauseigentümer und Mieter warnte wurden ignoriert. Schon im Herbst 2022 warnte der Paritätische vor der Schließung vieler sozialer Einrichtungen wegen hoher Energiekosten. Hier setzen rechte und populistische Parteien und Organisationen an, um gegen die Energiewende und die Klimawende insgesamt zu agieren.
Wie sollen Linke reagieren?
Nun stellt sich auch die Frage, wie die Linke – sowohl die gesellschaftliche Linke als auch die Partei gleichen Namens, darauf reagieren soll.
Sicher nicht so wie das Noch-Partei-Mitglied Sahra Wagenknecht in einem Beitrag für die Schweizer Weltwoche, nachdem sie schon in ihrem Buch "Die Selbstgerechten" ein Hohelied auf das deutsche Handwerk und die angeblichen deutschen Tugenden sang, von denen ihr Ehemann Oskar Lafontaine im Jahr 2001 noch wusste, dass man damit auch ein Konzentrationslager betreiben kann.
Wagenknecht erweist sich in dem Text in der Weltwoche einmal mehr als Epigonin von Ludwig Erhard und nicht mehr – wie in den 1990er-Jahren – von Karl Marx. Auch bei ihr kommen in diesem Elaborat übrigens die Lohnabhängigen, die Erwerbslosen und die Menschen mit wenig Einkommen gar nicht mehr vor.
Ihre "Vision für Deutschland: Frieden, Freiheit, Wohlstand für alle" erweist sich als Verteidigung des Standorts Deutschlands – und nicht als Verteidigung der Interessen ärmerer Menschen.
Von Klassenverhältnissen will sie nichts mehr wissen. Daher ist es auch nur Populismus, wenn Wagenknecht-Anhänger in der Linkspartei NRW schon in der Erwähnung des Begriffs "Verkehrswende" in den Anträgen ihrer parteiinternen Kritiker eine Anpassung an die Grünen sehen.
Dabei wäre es gerade die Aufgabe einer gesellschaftlichen Linken, eine eigene Position zu finden, die nicht den grünen Kapitalismus affirmiert, sich aber auch keinesfalls den rechtspopulistischen Kampagnen gegen den angeblichen "grünen Filz" anbiedert.
Da gibt es genügend Anknüpfungspunkte auch in der Klimabewegung, die sich nicht scheut, in die Höhle des Löwen, die Autostadt Wolfsburg zu kommen und dort durchaus auch kritische Zuhörer wie manchen VW-Arbeiter gefunden hat. Eine Verkehrs- und Energiewende mit den Beschäftigten und nicht gegen sie, das könnte für eine gesellschaftliche Linke ebenso eine lohnende Aufgabe sein, wie der Kampf für eine Energiewende im Interesse der Menschen mit wenig Einkommen.
"Wir leben nicht über, sondern unter unseren Verhältnissen"
Eine emanzipatorische Kritik am grünen Kapitalismus erkennt man daran, dass er nicht kritisiert wird, weil er (vorgeblich) grün ist, sondern weil er weiterhin alle Strukturmerkmale des Kapitalismus in sich trägt und daher die Klimakrise gar nicht lösen kann.
In einem Buch mit dem Titel "Shutdown", das im vergangenen Jahr im Unrast-Verlag erschienen ist, liefern sechs Autoren aus dem Umfeld der Krisis-Gruppe, die Marx durch die Brille der Wertkritik liest, brauchbare Argumente für eine linke Kritik.
"In warenproduzierenden Weltsystem geht es immer nur um die Anhäufung von abstraktem Reichtum, nicht um die Herstellung der zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse benötigten Güter", benennt Mitherausgeber Ernst Lohoff das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise, die mit ihrem Wachstumszwang Menschen und Natur vernutzt und zerstört.
Die Autoren des Sammelbands liefern auch fundierte Kritik an manchen Grundannahmen großer Teile der Umweltbewegung, etwa an der Verzichtsideologie. "Wir leben nicht über, sondern unter unseren Verhältnissen", schreiben die Autoren und liefern dafür viele Beispiele.
Zeitwohlstand statt Bullshit-Jobs
So verbringen wir viel zu Lebenszeit in schlechten und oft auch unnützen Arbeitsverhältnissen, den sogenannten Bullshit-Jobs. Statt dessen sollten nach den Vorstellungen von Lothar Galow-Bergemann und Ernst Lohoff die Tätigkeiten im Vordergrund stehen, die den Bedürfnissen aller Menschen dienen. Die beiden Autoren nennen als Beispiel Gesundheit und Pflege, die sogenannte Care-Arbeit.
Dabei treffen sie sich mit ähnlichen Vorstellungen, wie sie die marxistische Feministin und Mitbegründerin der Bewegung Care-Revolution, Gabriele Winker in ihrem vor zwei Jahren veröffentlichten Buch "Solidarische Care-Ökonomie – Revolutionäre Realpolitik zwischen Care und Klima" skizziert.
Hier hätte eine gesellschaftliche Linke Anknüpfungspunkte im Kampf für einen Ausstieg aus den fossilen Kapitalismus. Der "Green New Deal" gehört ebenso wenig dazu wie das Beschwören des Standorts Deutschlands und imaginierter deutscher Tugenden.