Pakistan: Aus diesem Chaos erwächst nichts Neues

Bürgerkriegsähnliche Zustände, Proteste in mehreren Städten, Wirtschaftskollaps, politischer Stillstand und Terroranschläge: Krise kann die Chance zum Neubeginn sein – nicht aber in Pakistan.

Aus Pakistan werden Proteste in der Hauptstadt Islamabad, dem nahegelegenen Rawalpindi, der 15-Millionenstadt Karatschi, der Krisenstadt Peschawar und anderen Orten gemeldet. Die Proteste gehen von Anhängern der Partei von Imran Khan, der Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI), aus. Der frühere Premierminister soll dazu aufgerufen haben, wie pakistanische Zeitungen berichten.

Vor seinem Haus in Lahore fanden seit Tagen bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen statt zwischen Anhängern, die sich dort versammelten, der Polizeikräften, verstärkt von paramilitärischen Ranger-Einheiten. Es ging mit Stöcken, Steinschleudern, Wasserwerfern und selbstgebastelten "Petrol Bombs" zur Sache. Auch von anderen Waffen ist die Rede. Der Polizei wird von Anwälten, die auf der seite Khans stehen, exzessive Gewalt vorgeworfen.

Heute sollen die PTI-Anhänger die Zufahrt zum Haus mit Containern blockiert haben, während die Polizei und die paramilitärischen Kräfte per Gericht zum Abzug aufgefordert wurden. Sie sollen sich aber in einer der Hauptstraßen neu sammeln. Gut möglich also, dass die Auseinandersetzungen weitergehen.

Grund dafür ist die bisherige Weigerung Imran Khans, vor Gericht zu erscheinen. Der frühere Cricketstar, der in die Politik wechselte und dort eine erstaunliche nächste Karriere bis hin zum Posten des Premierministers schaffte, muss sich dort verantworten, weil er Geschenke von Staatsgästen, die ihm zur Amtszeit gemacht wurden, verkaufte und das Geld in die eigene Tasche gesteckt haben soll.

"Uhren im Wert von 300.000 US-Dollar"

Der Fall ist nach einer Art Schatzamt, der Toshakhana, benannt. Um welche Summen es genau geht, darüber gibt es viele Spekulationen. Auch in deutschen Berichten wird der Verkauf von Uhren im Wert von 300.000 US-Dollar erwähnt. Klären muss das die Gerichtsverhandlung.

Mehrmaligen Vorladungen des Richters ist Khan allerdings nicht gefolgt. Daher der Polizeieinsatz. Dass sich die Anhänger Khans mit "robustem Einsatz" (bei den Auseinandersetzungen vor seinem Haus gab es über 60 Verletzte auf seine Seite stellten, hat Gründe, die tief in das "pakistanische Chaos" reichen.

Imran Khan ist zu einem Oppositionsführer geworden, der mit zweifelhaften Mitteln (vgl. Pakistan: Der riskante Kurs von Imran Khan) gegen eine zweifelhafte Machterhaltungspolitik der Regierung vorgeht. Khan hält die Korruptions-Anklage gegen ihn für ein politisches Manöver seitens der amtierenden Regierung unter Shehbaz Sharif.

Khan verlangt Neuwahlen, für die ihm gute Aussichten bescheinigt werden.

Seine Gegner an der Regierung werfen ihm vor, dass er mit "Verschwörungsvorwürfen" politisches Kapital sammelt und seine Anhänger zu Gewalttaten anstiftet. Die Regierung selbst hat alle Hände zu tun, um mit den Folgen der Flutkatastrophe und dem enormen Schuldenberg samt strengen Auflagen des Internationalen Währungsfonds zurechtzukommen. (Die Red.)

Multiple Krise der labilen Atommacht

Die multiple Krise der labilen Atommacht Pakistan verschärft sich, vor allem an der ökonomischen Front. Aufgrund von Misswirtschaft, Fehlplanung und durch den Klimawandel verursachte Dürren und Überflutungen muss das Land, dessen wirtschaftliches Rückgrat die Landwirtschaft ist, mittlerweile nicht nur Agrargüter wie Speiseöl und Hülsenfrüchte importieren, sondern selbst Getreide und Mehl.

Die Versorgungslage wird zunehmend kritisch, da sämtliche Importe in harter Währung bezahlt werden müssen und die Devisenreserven auf weniger als vier Milliarden US-Dollar zusammengeschmolzen sind, das entspricht einer Deckung von weniger als einem Monat. Dadurch stapeln sich im Hafen von Karachi tausende Frachtcontainer, die mangels Kredit nicht ausgelöst werden können.

Inflation

Die Sorgen mit der Inflation begannen 2018, mehr oder weniger zufällig parallel zum Amtsantritt Imran Khans. Der Rest der Welt zerbrach sich zu der Zeit den Kopf über Negativzinsen und Deflation. Die Khan-Regierung und ab April 2022 die neue Regierung unter Shahbaz Sharif stützten den Rupee mit einer halboffiziellen Subvention, um Preise für importiertes Benzin, Diesel und Haushaltsgas für das Gros der Bevölkerung erschwinglich zu halten.

Auf Druck des IWF, mit dem über dringend benötigte Kredite verhandelt wird, um die Zahlungsunfähigkeit – den Staatsbankrott – abzuwehren, musste diese Maßnahme beendet werden. Als Resultat schoss Ende Januar die Inflation auf fast 30 Prozent, den höchsten Wert seit der schweren Krise nach dem Krieg mit Indien und der Abspaltung Bangladeshs Mitte der 1970-er Jahre.

Gleichzeitig kletterten die Preise für Erdölprodukte und Grundnahrungsmittel in schwindelnde Höhen und waren zeitweise vom Markt verschwunden. Die Bevölkerung kämpft zum Teil ums nackte Überleben und folglich ist das Land, das einst zu den Hoffnungsträgern der Entwicklungsökonomen gehörte, nun im UN Human Development Index (HDI) in die niedrigste von vier Gruppen abgestiegen. Nur Afghanistan und Jemen haben in Asien schlechtere Werte.

In der Politik

Während dem Land die Zahlungsunfähigkeit und daraus unabsehbare Konsequenzen drohen, lähmt Chaos das politische Leben. Das Regierungsbündnis Pakistan Democratic Movement (PDM) unter Shahbaz Sharif und die Opposition unter Imran Khans Pakistan Tehreek-e Insaf (PTI) werfen sich gegenseitig Versagen und Unfähigkeit vor, dabei sind die Gründe für die wirtschaftliche Misere älter als die beiden Parteien zusammen.

Keinem Verantwortlichem ist es seit der Unabhängigkeit gelungen, die reichen Ressourcen des Landes sinnvoll zu nutzen. Alte und neue feudale Umstände sind der Grund dafür, dass keine moderne Industrie aufgebaut und gleichzeitig die Landwirtschaft vernachlässigt wurde. Dadurch entsteht ein chronisches Handelsdefizit.

Natürlich nahm die Inflation unter Khan Fahrt auf, doch auch er hatte nur ein leckes Boot übernommen und dies nach seiner Entmachtung halt mit einem noch größeren Loch im Rumpf an Sharif und seine Regierung weitergereicht. Diesem misslingt schon fast logischerweise dasselbe wie allen Vorgängern. Und wegen permanenter Kriseninterventionen ist das Fernziel, das Land nachhaltig zu sanieren, längst vergessen.

Doch anstatt sich solche Tatsachen gegenseitig einzugestehen, überziehen sich Khan und Sharif mit den ewig gleichen Vorwürfen. Natürlich ist es wahr: Mitglieder des Sharif-Clans wurden wegen Korruption verurteilt, saßen im Gefängnis, wurden politisch disqualifiziert und ziehen aus dem Ausland die Fäden. Die Korruption von Asif Ali Zardari, Mitglied der PDM und Co-Vorsitzender der PPP (Pakistan People's Party) ist im Alltagssprachgebrauch sogar sprichwörtlich. Doch trotz allem halten die Wähler von Punjab und Sindh, den beiden bevölkerungsreichsten Provinzen zu den Sharifs und Zardari.

Genauso kann man Khan berechtigt Instinktlosigkeit, politische Ahnungslosigkeit und einen nicht nachvollziehbaren Zickzackkurs vorwerfen. Doch sein Saubermannimage trägt er nicht ganz unverdient und ist deshalb die Hoffnung der aufstrebenden Mittelklasse, die nicht mehr den alten Eliten und Feudalherren folgt, sondern sich nach einem wie auch immer gearteten Erneuerer sehnt.

Wiederum ist es von Khan fast pervers zu versprechen, alles würde besser nach der nächsten Wahl, wenn er zurück an der Regierung käme. Dass es dringendst an der Zeit ist, diesen kleinlichen, unergiebigen Zank zu überwinden ist noch in kein politisches Lager durchgedrungen. Dabei unterscheiden sich die Lager nur im homöopathischen Rahmen.

An der Terrorfront

Am 30. Januar passierte ein Selbstmordattentäter die Sicherheitskontrollen des Polizeihauptquartiers von Peshawar und sprengte sich beim Mittagsgebet in der zum Gelände gehörenden Moschee mit 10 bis 12 kg TNT um den Leib in die Luft. Die Explosion brachte die Decke des Gebäudes zum Einsturz, bis jetzt sind 101 Todesopfer zu beklagen, fast ausschließlich Polizisten.

Bekannt zu dem Anschlag hat sich eine Teilfraktion der pakistanischen Taliban (TTP), die Überorganisation selber dementiert danach die Verantwortung. Wer es auch war, der Anschlag belegt erneut, dass zu mindestens in Khyber-Pakhtunkhwa (KP) niemand wirklich sicher ist und wohl auch die Polizei und andere Sicherheitskräfte – wenig überraschend – von Talibansympathisanten durchsetzt sind.

Wenig überraschend ist zum Beispiel auch die Reaktion von Moazzam Jah Ansari, dem Inspector General und höchsten Polizeibeamten KPs, der gnadenlose Vergeltung ankündigte und sonst keinerlei Maßnahmen. Über die tieferen Ursachen dieses nicht enden wollenden Terrors, der in Wirklichkeit ein Bürgerkrieg ist, kann und darf man in den Polizeikräften nicht nachdenken.