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Palästina am Tropf des Westens

Bill Clinton, Jitzchak Rabin und Jassir Arafat im Weißen Haus, 13. September 1993. Foto: Vince Musi / Weißes Haus

30 Jahre nach Oslo: Mit Finanzhilfen haben Europa und die USA zum Scheitern des Friedensprozesses beigetragen. Es fehlt an Visionen. Wie sieht eine Wende aus?

Es ist Wochenende, Protestzeit zwischen Jordan und Mittelmeer. Getrennt durch Mauern und Zäune, werden viele wieder auf die Straße gehen. In Israel, vor den Augen der Weltöffentlichkeit. In Palästina, den palästinensischen, den besetzten Gebieten, weit weniger beachtet. Obwohl auch dort viel auf dem Spiel steht, und zwar ganz Ähnliches wie auf der anderen Seite [1].

In Israel versucht eine rechtsextreme Regierung um den seit 2008 mit kurzer Unterbrechung regierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu mit einer höchst umstrittenen Justizreform mehr Macht an sich zu reißen.

In der Palästinensischen Autonomiebehörde ist das schon lange geschehen, zunächst im Verborgenen, da die politischen Entscheidungsprozesse dort chronisch intransparent sind.

Präsident Mahmud Abbas begann, die Verfassung immer öfter zu missachten, stellte dem Obersten Gerichtshof ein eigenes, natürlich mit ihm genehmen Personen besetztes "höchstes Gericht" zur Seite, das ihm natürlich erlaubte, auch lange nach dem Ende seiner Amtszeit und der des Parlaments ohne Neuwahlen weiterzuregieren.

Er verfügte per Dekret immer mehr Einschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit.

Abbas: Autokrat

Das Ergebnis: Die Palästinenser haben nicht mehr nur mit der israelischen Besatzung zu kämpfen, die in diesem Jahr bereits so viele Opfer gefordert hat wie seit vielen Jahren nicht mehr. Ihr eigener Präsident ist zum Autokraten geworden, unterstützt von Polizei und Geheimdienst. Und von Israel und der internationalen Gemeinschaft, die ihn gewähren lassen.

Denn an vielem, was in der Region schiefläuft, sind diejenigen, die nach außen hin vorgeben, für Frieden sorgen zu wollen, maßgeblich beteiligt.

Die Verantwortung des Westens

Die Visionslosigkeit westlicher Regierungen, ihr Mangel an Strategien, ihre Scheu, klare Ansagen zu machen und durchzusetzen, ihre Bereitschaft, mit viel Geld zu helfen, halten die israelische Besatzung am Laufen. Dies macht den Siedlungsbau erst möglich.

Und sie haben darüber hinaus zum Aufstieg eines Autokraten beigetragen, den sie unterstützen. Auch wenn es vernichtend klingt: Vielleicht ging es gar nicht anders. Denn der Teufel steckt im Detail.

Die Vorgeschichte

Vor 30 Jahren wurde in Washington Geschichte geschrieben: Der damalige israelische Regierungschef Jitzchak Rabin und Palästinenserführer Jassir Arafat taten etwas, was noch wenige Monate zuvor völlig undenkbar schien: Sie unterzeichneten das erste der Oslo-Abkommen [2] und damit den ersten Schritt zur Gründung der palästinensischen Autonomiegebiete.

Die israelische Rechte lief Sturm, der damals noch unbekannte Netanjahu drängte sich mit flammenden Versprechungen vom drohenden Untergang des Staates Israel in die erste Reihe. Und auch die Hamas, damals gerade erst gegründet, nutzte die Gunst der Stunde: "Vom Mittelmeer bis zum Jordan", Arafat habe dieses Prinzip aufgegeben, die Palästinenser verraten, wetterte sie und schickte Selbstmordattentäter aus, die sich selbst und Hunderte Israelis in den Tod rissen.

In Israel wich die Euphorie der Mehrheit schnell der Ernüchterung: Hatte Netanjahu doch recht? Hat das Ganze der Sicherheit geschadet? Der Friedensprozess geriet ins Stocken und löste auf palästinensischer Seite einen ähnlichen Prozess aus.

Man fühlte sich betrogen, es kam zu neuen Ausschreitungen, zu einer neuen Intifada. Hunderte verloren ihr Leben. "Oslo", der Friedensprozess, kam nie richtig in Gang. Was blieb, war die Palästinensische Autonomiebehörde. Die Hoffnung auf einen eigenen Staat.

Und die Sehnsucht nach Demokratie. Nach dem Tod von Jassir Arafat schien es so weit zu sein. 2005 wurde zunächst ein neuer Präsident gewählt. Im Januar 2006 folgten die Parlamentswahlen.

Die Wahlen waren gut vorbereitet, weitgehend frei. Dennoch endeten sie in einem Desaster [3], das bis heute nachwirkt. Und daran hatten die Europäische Union, die USA und Israel einen großen Anteil.

Der Sieg der Hamas

Schon bei den Präsidentschaftswahlen hatte man im Hintergrund kräftig mitgemischt und darauf hingearbeitet, dass der Wunschkandidat Abbas, nach Arafats Tod zunächst Übergangspräsident, gewählt wird.

Das war relativ einfach, weil die Palästinensische Autonomiebehörde damals dank üppiger Finanzhilfen aus dem Westen finanziell gut dastand und keiner der Geldgeber etwas dagegen hatte, dass mit diesem Geld der Wahlkampf von Abbas finanziert wurde.

Doch bei den Parlamentswahlen funktionierte das nicht mehr: Die Wahlliste der Hamas gewann haushoch und beanspruchte den Posten des Regierungschefs für sich.

Und die Politik, die Diplomaten im Westen standen plötzlich vor einem riesigen Dilemma. Die Wähler hatten entschieden, und in einer Demokratie ist das so. Nur gab es ein Problem. Israel erwartete vom Friedensprozess Sicherheit. Die internationale Gemeinschaft wollte Fortschritte.

Und nun hatte eine Liste die Mehrheit gewonnen, die sich zwar nach außen von der Hamas abzugrenzen versuchte, aber dennoch eng mit ihr verbunden war. Abbas hatte es in wenigen Monaten geschafft, möglichst viele seiner Wähler möglichst effizient vor den Kopf zu stoßen. Und die wollten ihn dafür bestrafen.

Aber wie reagiert man darauf als ausländische Regierung, die kurz zuvor zwar nur Kleinwaffen, aber immerhin Waffen geliefert hat, die eine Hamas-nahe Regierung dann gegen Israelis richten könnte? Und wenn dann auch noch die Öffentlichkeit im Dreieck springt und schnelles Handeln fordert?

Die Entscheidungen, die damals getroffen wurden, haben den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern bis heute nachhaltig verändert und zur Entwicklung hin zur Autokratie beigetragen.

Die Fehlentwicklung

Die Finanzhilfen wurden weitgehend eingestellt, um Abbas zu zwingen, den Hamas-Regierungschef Ismail Hanijeh aus dem Amt zu drängen. Was er dann auch tat. Doch dann übernahm die Hamas die Macht im Gazastreifen.

Und Abbas wurde immer stärker als Statthalter Israels wahrgenommen. Aus gutem Grund: Die Politik in Europa und Nordamerika machte deutlich, dass er so lange im Amt bleiben müsse, bis ein geeigneter Nachfolger gefunden sei, bis man sich mit der Hamas auf eine Machtübergabe geeinigt habe.

Im Hintergrund stand immer die Hoffnung, dass bald die Rahmenbedingungen für neue Verhandlungen, für einen neuen Deal geschaffen würden.

Doch die Amtszeit des Präsidenten und des Parlaments lief ab. Ein Nachfolger kam nicht. Dutzende Male wurden Wahlen angekündigt und wieder abgesagt, nicht selten wenige Tage vor dem Termin.

Dazwischen taten Abbas und seine Entourage alles, um alle infrage kommenden Politiker zu drangsalieren, kaltzustellen, zum Teil mit Gewalt. Und damit zugleich die Hoffnungen auf Fortschritte im Friedensprozess zunichtezumachen.

Denn der langjährige Ministerpräsident Netanyahu hat in seiner politischen Karriere nie etwas Substanzielles getan, um sich den Palästinensern anzunähern: In der Verwaltung der Ministerien, im Sicherheitsapparat sitzen Leute, die immer ein Auge darauf haben, wo man wie vorankommen könnte.

Was sie sahen, war ein immer älter werdender Präsident, umgeben von immer älter werdenden Männern, die kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung hatten. Denn wenn man in Verhandlungen geht, muss man sicher sein, dass diejenigen, die auf der anderen Seite des Tisches sitzen, die Ergebnisse auch umsetzen können.

Die wirtschaftliche Realität

Das schwierigste Thema aber sind die westlichen Finanzhilfen. Ursprünglich waren sie als Starthilfe gedacht, bis die Palästinenser eine eigene Wirtschaft aufgebaut haben und auf eigenen Beinen stehen können.

Doch die israelische Besatzung, die mangelnde Kontrolle über die Grenzen und das "Pariser Abkommen" haben eine wirtschaftliche Entwicklung fast unmöglich gemacht. Dabei handelt es sich um einen Vertrag, der Fragen der Besteuerung, der Zölle und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit regelt.

Das Hauptproblem ist, dass das Abkommen nichts mit der wirtschaftlichen Realität zu tun hat und die Autonomiebehörde daran hindert, auf Entwicklungen zu reagieren.

Und dann halten die israelischen Regierungen immer wieder Teile der Steuereinnahmen zurück, die sie den Palästinensern zahlen müssten, um Abbas zu zwingen, etwas zu tun oder nicht zu tun.

So sind die Palästinensischen Autonomiegebiete seit vielen Jahren von der internationalen Gemeinschaft abhängig: direkt durch finanzielle Hilfe. Und indirekt von den Vereinten Nationen, die in den Flüchtlingslagern die vielen Bedürftigen mit Hilfslieferungen unterstützen, Schulen und Krankenhäuser betreiben, die Infrastruktur organisieren.

Outsourcing

Heute sieht es so aus, als habe Israel damals in Oslo vor allem den teuersten Teil der Besatzung ausgelagert: die Verwaltung der palästinensischen Bevölkerungszentren. 1993 lebten 269.000 Israelis in Siedlungen im Gazastreifen, in der Westbank und in Ostjerusalem.

Die militärische Präsenz in den Städten und Dörfern, deren zivile Verwaltung damals Tausende Soldaten band, verschlang nach einer Schätzung der Menschenrechtsorganisation BeTselem umgerechnet rund 500 Millionen Euro pro Jahr.

Während der ersten Intifada thematisierten israelische Medien und Politiker immer wieder die hohen Belastungen für den Staatshaushalt, Tenor stets: Die Allgemeinheit finanziere die Lust der Rechten.

Sicher ist, dass der Siedlungsbau ohne die Schaffung der Autonomiegebiete, ohne die Unterstützung aus dem Ausland, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, nicht finanzierbar gewesen wäre.

Vor einem neuen Wendepunkt

Jetzt stehen Israelis und Palästinenser an einem neuen Wendepunkt. Corona, dann der Ukraine-Krieg, jetzt die Inflation und zu viele Orte auf der Welt, wo Menschen dringend Hilfe brauchen, haben das Geld knapp werden lassen [4].

Zuletzt hat die palästinensische Regierung die Möglichkeit eines Staatsbankrotts ins Spiel gebracht, und diesmal ist es nicht nur eine Drohung: Tausende Beamte, darunter viele Polizisten, haben gekündigt, weil sie seit Ewigkeiten kein Gehalt mehr bekommen haben.

Und auch die Kassen der UN sind leer. Einige ihrer Mitgliedsstaaten, darunter die USA, stellen die Zukunft des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) in Frage. Die UNRWA musste ihre Dienste bereits für mehrere Monate einstellen, es kam zu Streiks [5]. Die Folgen würden nicht nur die Palästinenser, sondern auch Jordanien hart treffen.

Wenn diese Entwicklung anhält, wird sie die Zukunft der palästinensischen Autonomiegebiete, der israelischen Besatzung verändern. Zum Guten? Oder zum Schlechten? Wir werden sehen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9307327

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/features/Nahost-Konflikt-Schwierigste-Phase-seit-Jahrzehnten-7480112.html
[2] https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/275803/osloer-abkommen-als-meilensteine-im-nahost-friedensprozess/
[3] https://www.telepolis.de/features/Wenn-es-nicht-anders-geht-muessen-wir-eben-ohne-die-palaestinensische-Seite-weitermachen-3404666.html
[4] https://www.voanews.com/a/palestinian-occupied-territories-suffering-worst-fiscal-crisis-in-history-/6747639.html
[5] https://www.unrwa.org/newsroom/news-releases/unrwa-west-bank-resumes-services-palestine-refugees