Pandemie-Politik: "Ganze gesellschaftliche Blöcke in völlig unterschiedlichen Lebenswelten"

Seite 3: "Kaum gekannte Kontrolle und Disziplinierung der Bevölkerung"

Wie gestalteten sich die Corona-Maßnahmen als "Klassenkampf von oben"?

Karl Reitter: Klassenherrschaft schließt stets Kontrolle und Disziplinierung ein. "Klassenkampf von oben" bedeutete im Kontext der Pandemie-Politik insbesondere die Etablierung einer – zumindest in unseren Breiten – kaum gekannten Kontrolle und Disziplinierung der Bevölkerung.

Die unmittelbare politische Herrschaft wurde dabei nicht nur mittels Verbote, sondern vor allem mittels Verordnungen ausgeübt. Was das Individuum zu lassen und insbesondere, was es zu tun hatte, wurde ihm genau vorgeschrieben.

Wo es sich aufhalten, mit wem es sich treffen durfte, das alles wurde in einem dystopischen Ausmaß von Staatswegen bestimmt. Mit dem "Grünen Pass" droht eine umfassende Kontrolle, insbesondere der grenzüberschreitenden Bewegung; die EU setzt immer noch auf dieses Instrument.

Betrachtet man die Pandemie-Politik als Test dafür, wie weit die Staatsmacht die Bevölkerung, auch der sog. demokratischen Länder, umfassender Kontroll- und Disziplinierungsmaßnahmen unterziehen kann, so lautet die Antwort: in einem beunruhigenden Ausmaß.

Die Pandemie-Politik intensivierte außerdem eine sich schon in der Krise 2008 zeigende Tendenz. Der Slogan "mehr privat, weniger Staat" entpuppte sich als das, was er immer schon war: als Mythos des Neoliberalismus. Milliarden von Steuergeldern wurden für den Ankauf der Vakzine und der Tests ausgegeben, ohne Umweg über den Markt wurden diese Gelder direkt in die Kassen der Big Pharma gepumpt.

Kaum jemand stellt heute noch in Abrede, dass die Maßnahmen einen enormen Umverteilungsprozess von unten nach oben in Gang gebracht haben. Die Pandemie-Politik ermöglichte aber auch einen weiteren Anschub der Überwachungs- und Kontrollindustrie. Wo die Verfügbarkeit der Arbeitskraft unsicher ist, muss der Arbeitsprozess technologisch umgestaltet werden.

Das fordistische Modell des Fabrikarbeiters ermöglichte zwar gute Profitraten, lief aufgrund der schieren gemeinsamen Präsenz der ArbeiterInnen aber auch Gefahr, dass diese sich politisch zusammenschlossen. Das Kapital musste ständig neue Kontrollmechanismen entwickeln, um dies zu unterbinden.

Auch hier eröffnete die Pandemie-Politik Möglichkeiten für das Kapital. Digitalisierte Prozesse erlauben eine weitere Überwachung des Arbeitsprozesses und eine weitere Fragmentierung der Arbeiter:innenklasse.

Völlig unterschiedliche Lebenswelten

Wenige Wochen Lockdown und die daran anschließende Kommunikation über den medialen Herrschaftsapparat haben dazu geführt, dass ganze gesellschaftliche Blöcke sich in völlig unterschiedlichen Lebenswelten wiederfanden und kaum noch miteinander sprechen konnten. Im Homeoffice wird die Isolation auf die Spitze getrieben, Arbeits- und Freizeit verschwimmen ineinander.

Der Filz aus Big Pharma, Militär und Überwachungsfirmen, großen Medien, WHO und insbesondere unmittelbare oder ausgelagerte Teile des Staatsapparates, der durch die Pandemie-Politik seine Schnittfläche fand, war wahrlich beeindruckend. Die herrschenden Klassen und die an sie angedockten Eliten verstehen es, ihre Klassenherrschaft zu organisieren und zu festigen. Die Chance, die COVID-19 bot, wurde genutzt.

Welche Rolle spielte die Linke dabei?

Karl Reitter: Die Reaktion der Linken auf die Pandemie-Politik war dreifach. Eine Mehrheit duckte sich einfach weg und vermied, sich klar zu positionieren. Angesichts der historisch weltweiten intensiven Eingriffe der Staaten in alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens handelt es sich dabei um eine politische Bankrotterklärung dieser Linken.

Ein kleiner Teil der Linken versuchte, mit bescheidenem Erfolg, emanzipatorische Opposition gegen die Pandemie-Politik aufzubauen. Ein Produkt dieses Widerstandes ist auch unser Buch. Die Hegemonie errang jedoch jener Teil, dem die Maßnahmen nicht weit genug gingen.

Sowohl, was die Lockdowns, als auch, was die Denunziation oppositioneller Aktivitäten als wissenschaftsfeindlich, egoistisch und strukturell antisemitisch betrifft, überbot diese Linke hier und da sogar das Agieren der Staatskanzleien und der Leitmedien.

Ein Ausdruck davon war die Initiative Zero Covid. Wie wir in unserem Buch zeigen, war diese Initiative medizinischer Irrsinn und gesellschaftspolitisch reaktionär. Coronaviren lassen sich selbst durch rigideste Maßnahmen nicht einfach eliminieren, wie das Beispiel der Volksrepublik China wohl zur Genüge beweist.

Anstatt angesichts des Debakels der Pandemie-Politik eine ehrliche und selbstkritische Bilanz zu ziehen, haben sich die ProtagonistInnen von Zero Covid einfach davongeschlichen. Die Seite zero-covid.org ist inzwischen offline. Dass sich die Belegschaften und die arbeitende Bevölkerung nichts sehnlicher wünschten als lückenlose Lockdowns inklusive der Schließung von Kindergärten und Schulen, muss als Fiebertraum bezeichnet werden.

Angesichts der weltweiten Arbeitsteilung ist die Vorstellung zudem reichlich naiv, einen absolut notwendigen Bereich der Produktion herausnehmen zu können, diesen weiterzuführen und zugleich den Großteil der Ökonomie stillzulegen.

Wie konnte es dazu kommen, dass dieser Linken ihre Staatskritik, ihre Wissenschafts- und Medizinkritik nichts mehr galt? Dass sie stattdessen in der Staatsmacht, die sie permanent zu noch härterem Durchgreifen gegen Kritik und KritikerInnen aufforderte, die große emanzipatorische Institution erblicken konnte?

Eine Antwort lautet: Ein wesentlicher Teil der Linken hat den Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten in Gesinnung aufgelöst. In der als alternativlos empfundenen Dichotomie zwischen den aktuell Herrschenden der USA/EU und der rechtspolitischen Opposition ist die Linke schon längst auf die Seite der Herrschaft gerutscht.

An die Stelle des Widerspruchs der herrschenden und der beherrschten Klassen tritt der Widerspruch der Weltanschauungen. Man sollte die Auswirkungen der Haltung der Linken zur Pandemie-Politik nicht überschätzen: Sie wird überflüssig und das ist wohl das Schlimmste, was einer Linken widerfahren kann.