"Papiertiger Russland" und "Doppelmoral gegenüber Washingtons Kriegsverbrechern"
Vor dem Krieg: Wladimir Putin spricht mit Joe Biden per Videoschalte. Der Angriff auf die Ukraine ist kriminell, sagt Chomsky, die Militarisierung im Westen falsch und die einseitige Empörung heuchlerisch. Bild: Presidential Executive Office of Russia / CC BY 4.0
Noam Chomsky sagt: Willkommen auf dem Science-Fiction-Planeten. Er zeigt, wie George Orwells Doppeldenk-Strategie den Ukraine-Krieg eskaliert und die Rüstungskassen füllt.
Noam Chomsky analysiert im Interview die Entstehung des Ukraine-Kriegs, die Doppelmoral angesichts von "Kriegsverbrechern, die in Washington herum spazieren", die Instrumentalisierung des "Papiertigers" Russland, um militärisch aufzurüsten. Außerirdische würden uns, wenn es sie gäbe, als "völlig verrückt" ansehen.
Das Interview führt der Journalist, Buchautor und Produzent von Alternative Radio [1] David Barsamian. Es erschien zuerst auf dem US-amerikanischen Online-Magazin TomDispatch [2]. Übersetzung: David Goeßmann.
Kommen wir zum offensichtlichsten Alptraum dieser Zeit, dem Krieg in der Ukraine und seinen weltweiten Auswirkungen. Doch zunächst ein wenig Hintergrund. Beginnen wir mit der Zusage von Präsident George H.W. Bush an den damaligen sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow, dass sich die Nato "keinen Zentimeter nach Osten" bewegen würde – und diese Zusage wurde bestätigt. Warum hat Gorbatschow sich das nicht schriftlich geben lassen?
Noam Chomsky: Er akzeptierte ein Gentleman's Agreement, was in der Diplomatie nicht so ungewöhnlich ist. Man schüttelt sich die Hand. Außerdem hätte es überhaupt keinen Unterschied gemacht, wenn es auf dem Papier gestanden hätte. Verträge, die auf dem Papier stehen, werden immer wieder zerrissen. Was zählt, ist guter Glaube.
Und in der Tat hat H.W. Bush, der erste Bush, das Abkommen ausdrücklich eingehalten. Er strebte sogar eine Partnerschaft für den Frieden an, die die Länder Eurasiens einbeziehen sollte. Die Nato würde nicht aufgelöst, aber an den Rand gedrängt werden. Länder wie z. B. Tadschikistan könnten beitreten, ohne formell Teil der Nato zu sein. Und Gorbatschow war damit einverstanden. Es wäre ein Schritt in Richtung eines, wie er es nannte, gemeinsamen europäischen Hauses ohne Militärbündnisse gewesen.
Auch Clinton hat sich in seinen ersten Jahren daran gehalten. Die Fachleute sagen, dass Clinton etwa 1994 begann, wie sie es ausdrücken, unterschiedliche Signale auszusenden. Zu den Russen sagte er: Ja, wir werden uns an das Abkommen halten. Der polnischen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten und anderen ethnischen Minderheiten sagte er: Macht euch keine Sorgen, wir werden euch in die Nato einbinden.
Etwa 1996-97 sagte Clinton dies ziemlich explizit zu seinem Freund, dem russischen Präsidenten Boris Jelzin, dem er 1996 zum Wahlsieg verholfen hatte. Er sagte zu Jelzin: Drängen Sie nicht zu sehr auf diese Nato-Sache. Wir werden sie erweitern, ich brauche die Erweiterung wegen der ethnischen Wählerschichten in den Vereinigten Staaten.
1997 lud Clinton die so genannten Visegrad-Länder - Ungarn, die Tschechoslowakei und Rumänien - zum Nato-Beitritt ein. Den Russen gefiel das nicht, aber sie machten nicht viel Aufhebens davon.
Dann traten die baltischen Staaten bei, und wieder war es dasselbe. Im Jahr 2008 lud der zweite Bush, der ganz anders als der erste war, Georgien und die Ukraine in die Nato ein. Jedem US-Diplomaten war klar, dass Georgien und die Ukraine rote Linien für Russland darstellen. Es duldete die Expansion anderswo, aber diese Länder liegen in ihrem geostrategischen Kernland, und sie werden eine Expansion dort nicht dulden. Um die Geschichte fortzusetzen: 2014 fand der Maidan-Aufstand statt, bei dem der prorussische Präsident abgesetzt wurde und die Ukraine sich dem Westen annäherte.
Ab 2014 begannen die USA und die Nato, die Ukraine mit Waffen zu versorgen – mit modernen Waffen, militärischer Ausbildung, gemeinsamen Militärübungen und Maßnahmen zur Integration der Ukraine in das Militärkommando der Nato. Das ist kein Geheimnis. Es war ganz offen. Kürzlich prahlte der Generalsekretär der Nato, Jens Stoltenberg, damit. Er sagte: Das ist es, was wir seit 2014 getan haben.
Es ist natürlich eine sehr bewusste, starke Provokation. Sie wussten, dass sie sich in einen Bereich einmischten, den jeder russische Führer als untragbar ansah. Frankreich und Deutschland legten 2008 ihr Veto ein, aber auf Druck der USA wurde es auf der Tagesordnung belassen. Und die Nato, d. h. die Vereinigten Staaten, beschleunigten die faktische Integration der Ukraine in das Militärkommando der Nato.
2019 wurde Wolodymyr Selenskyj mit einer überwältigenden Mehrheit – ich glaube, etwa 70 Prozent der Stimmen – auf einer Friedensplattform gewählt, einem Plan zur Umsetzung des Friedens mit der Ostukraine und Russland, um das Problem zu lösen.
Er begann, sich dafür einzusetzen, und versuchte tatsächlich, in den Donbass, die russisch geprägte Ostregion, zu gehen, um das so genannte Minsk-II-Abkommen umzusetzen. Es hätte eine Art Föderalisierung der Ukraine mit einer gewissen Autonomie für das Donbass bedeutet, was sie wollten. So etwa wie die Schweiz oder Belgien. Er wurde von rechten Milizen blockiert, die ihm drohten, ihn zu ermorden, wenn er seine Bemühungen fortsetzt.
Nun, er ist ein mutiger Mann. Er hätte weitermachen können, wenn er die Unterstützung der Vereinigten Staaten gehabt hätte. Die USA weigerten sich. Keine Unterstützung, nichts. Das bedeutete, dass er auf dem Trockenen sitzen blieb und sich zurückziehen musste. Die USA waren fest entschlossen, die Ukraine Schritt für Schritt in das militärische Kommando der Nato zu integrieren. Das hat sich nach der Wahl von Präsident Joe Biden noch beschleunigt.
Im September 2021 konnte man es auf der Website des Weißen Hauses nachlesen. Es wurde nicht darüber berichtet, aber die Russen wussten es natürlich. Biden kündigte ein Programm an, eine gemeinsame Erklärung zur Beschleunigung des Prozesses der militärischen Ausbildung, militärischer Übungen, mehr Waffen als Teil dessen, was seine Regierung ein "erweitertes Programm" der Vorbereitung auf die Nato-Mitgliedschaft nannte.
Im November wurde der Prozess weiter beschleunigt. Das war alles vor der Invasion. US-Außenminister Antony Blinken unterzeichnete eine so genannte Charta, die diese Vereinbarung im Wesentlichen formalisierte und erweiterte. Ein Sprecher des Außenministeriums räumte ein, dass sich die USA vor der Invasion weigerten, über russische Sicherheitsbedenken zu sprechen. All dies ist Teil des Hintergrunds.
Am 24. Februar marschierte Putin ein, eine kriminelle Invasion. Die Provokationen bieten keine Rechtfertigung dafür. Wenn Putin ein Staatsmann gewesen wäre, hätte er etwas ganz anderes getan. Er wäre auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron zugegangen, hätte seine zaghaften Vorschläge aufgegriffen und sich um eine Annäherung mit Europa bemüht, um Schritte in Richtung eines gemeinsamen europäischen Hauses zu unternehmen.
Geteilte Empörung: "Kriegsverbrecher, die in Washington herum spazieren"
Die USA haben sich dem natürlich immer widersetzt. Das geht weit zurück in die Geschichte des Kalten Krieges bis zu den Initiativen des französischen Präsidenten Charles de Gaulle zur Schaffung eines unabhängigen Europas. Mit seinen Worten "vom Atlantik bis zum Ural" wollte er Russland in den Westen integrieren, was aus handelspolitischen und natürlich auch aus sicherheitspolitischen Gründen eine ganz naheliegende Lösung war.
Hätte es also Staatsmänner in Putins engem Kreis gegeben, hätten sie Macrons Initiativen aufgegriffen und ausprobiert, ob sie sich tatsächlich mit Europa integrieren und die Krise abwenden könnten. Stattdessen hat er sich für eine Politik entschieden, die aus russischer Sicht völliger Wahnsinn ist.
Abgesehen von der Kriminalität der Invasion hat er sich für eine Politik entschieden, die Europa noch enger an die Vereinigten Staaten bindet. Sie veranlasst sogar Schweden und Finnland, der Nato beizutreten – aus russischer Sicht das denkbar schlechteste Ergebnis, ganz abgesehen von der kriminellen Invasion und den schwerwiegenden Verlusten, die Russland dadurch erleidet.
Also: Kriminalität und Dummheit auf Seiten des Kremls, schwere Provokation auf Seiten der USA. Das ist der Hintergrund, der zu dieser Situation geführt hat.
Wir können uns entscheiden. Wollen wir diesem Schrecken ein Ende zu setzen? Oder wollen wir versuchen, ihn fortzusetzen?
Es gibt nur einen Weg, dem ein Ende zu setzen. Das ist die Diplomatie. Nun bedeutet Diplomatie per Definition, dass beide Seiten sie akzeptieren. Sie mögen das Aushandeln von Kompromissen nicht, aber sie akzeptieren es als die am wenigsten schlechte Option. Es würde Putin eine Art Ausweg bieten. Das ist die eine Möglichkeit.
Die andere ist, den Krieg in die Länge zu ziehen und dabei zuzusehen, wie alle leiden, viele Ukrainer sterben werden, wie Russland leiden wird, wie Millionen Menschen in Asien und Afrika verhungern werden, wie wir die Umwelt derart aufheizen, dass es keine Möglichkeit für eine lebenswerte menschliche Existenz mehr geben wird. Das sind die Optionen.
Die Vereinigten Staaten und der größte Teil Europas haben sich mit nahezu 100 prozentiger Zustimmung für die Option "keine Diplomatie" entschieden. Nach der Devise: Wir müssen weitermachen, um Russland zu schaden.
Sie können Kolumnen in der New York Times, der Londoner Financial Times und in ganz Europa lesen. Ein gängiger Refrain lautet: Wir müssen dafür sorgen, dass Russland leidet. Es spielt keine Rolle, was mit der Ukraine oder anderen Ländern geschieht. Natürlich geht man bei diesem Spiel davon aus, dass Putin, wenn er bis an die Grenze des Erträglichen gedrängt wird, ohne Ausweg, gezwungen ist, seine Niederlage einzugestehen, das akzeptiert und die Waffen, die er hat, nicht einsetzt, um die Ukraine zu verwüsten.
Es gibt eine Menge Dinge, die Russland nicht getan hat. Westliche Beobachter sind überrascht. Vor allem haben die Russen nicht die Nachschublinien aus Polen angegriffen, über die Waffen in die Ukraine geliefert werden. Das könnten sie sicherlich tun. Das würde sie sehr bald in eine direkte Konfrontation mit der Nato, also den USA, bringen. Jeder, der sich schon einmal mit Kriegsspielen beschäftigt hat, weiß, wohin das führen wird – die Eskalationsleiter geht schnell hinauf bis zum Atomkrieg.
Das sind also die Spiele, die wir mit dem Leben von Ukrainern, Asiaten und Afrikanern, der Zukunft der Zivilisation, spielen, um Russland zu schwächen, um sicherzustellen, dass das Land genug leidet. Wenn Sie dieses Spiel spielen wollen, seien Sie ehrlich. Es gibt keine moralische Grundlage dafür. Es ist in der Tat moralisch ein Irrsinn. Und die Leute, die sich auf ein hohes Ross setzen und behaupten, wir würden Prinzipien hochhalten, sind moralische Wirrköpfe, wenn man bedenkt, worum es geht.
In den Medien und in der politischen Klasse der Vereinigten Staaten und wahrscheinlich auch in Europa gibt es viel moralische Empörung über russische Barbarei, Kriegsverbrechen und Gräueltaten. Zweifelsohne gibt es diese Verbrechen, wie sie in jedem Krieg vorkommen. Finden Sie diese moralische Empörung nicht ein wenig selektiv?
Noam Chomsky: Die moralische Empörung ist durchaus angebracht. Es sollte moralische Empörung geben. Aber wenn man in den Globalen Süden geht, können sie nicht fassen, was sie da zu Sehen bekommen. Natürlich verurteilen sie den Krieg. Es ist ein beklagenswertes Verbrechen der Aggression. Dann schauen sie auf den Westen und sagen: Wovon redet ihr eigentlich? Das tut ihr uns doch die ganze Zeit an.
Es ist schon erstaunlich, wie unterschiedlich die Kommentare ausfallen. Lesen Sie die New York Times, ihren großen Denker, Thomas Friedman. Er hat vor ein paar Wochen eine Kolumne geschrieben, in der er verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Er sagte: Was können wir tun? Wie können wir in einer Welt leben, die einen Kriegsverbrecher hat? So etwas haben wir seit Hitler nicht mehr erlebt. In Russland gibt es einen Kriegsverbrecher. Wir sind ratlos, was sollen wir tun? Wir haben uns nie vorstellen können, dass es irgendwo einen Kriegsverbrecher geben könnte.
Wenn Menschen im Globalen Süden das hören, wissen sie nicht, ob sie in Gelächter oder Spott ausbrechen sollen. Wir haben Kriegsverbrecher, die überall in Washington herum spazieren. Wir wissen, wie wir mit unseren Kriegsverbrechern umgehen müssen.
So geschehen erneut beim Jahrestag des Einmarsches in Afghanistan. Zur Erinnerung: Der Krieg war eine Invasion ohne irgendeine Provokation, die von der Weltöffentlichkeit entschieden abgelehnt wurde. Es wurde ein Interview mit dem Verantwortlichen der Invasion, George W. Bush, geführt, der dann in den Irak einmarschierte, ein großer Kriegsverbrecher.
Das Interview wurde in der Rubrik "Stilfragen" der Washington Post veröffentlicht. Man beschrieb dort, wie sie es nannten, den liebenswerten, albernen Großvater, der mit seinen Enkeln spielt, Witze macht und die Porträts zeigt, die er von berühmten Leuten gemalt hat, die er traf. Alles in einer schönen, freundliche Umgebung.
Wir wissen also, wie man mit Kriegsverbrechern umgeht. Thomas Friedman liegt falsch. Wir gehen sehr professionell und freundlich mit ihnen um.
Oder nehmen Sie den wahrscheinlich größten Kriegsverbrecher der Neuzeit, Henry Kissinger. Wir behandeln ihn nicht nur höflich, sondern mit großer Bewunderung. Das ist schließlich der Mann, der der Luftwaffe den Befehl gab, Kambodscha mit einem Bombenteppich in die Hölle zu schicken – "alles, was fliegt, auf alles, was sich bewegt", war seine Formulierung.
Ich kenne kein vergleichbares Beispiel in der archivierten Geschichte für einen Aufruf zum Massenvölkermord. Er löste sehr intensive Bombenangriffen auf Kambodscha aus. Wir wissen nicht viel darüber, weil wir unsere eigenen Verbrechen nicht untersuchen. Aber Taylor Owen und Ben Kiernan, seriöse Kambodscha-Historiker, haben die Angriffe beschrieben.
Und dann ist da noch unsere Rolle beim Sturz der Regierung von Salvador Allende in Chile und bei der Errichtung einer mörderischen Diktatur. Man könnte so weiter machen. Wir wissen also, wie wir mit unseren Kriegsverbrechern umgehen.
Dennoch kann sich Thomas Friedman nicht vorstellen, dass es so etwas wie die Ukraine jemals geben könnte. Es gab auch keinen Kommentar zu dem, was er schrieb, was bedeutet, dass es als ziemlich vernünftig angesehen wurde. Das Wort Selektivität kann man für solche Einseitigkeit kaum anwenden. Es ist mehr als erstaunlich. Ja, die moralische Empörung ist durchaus angebracht. Es ist gut, dass die Amerikaner endlich anfangen, sich über große Kriegsverbrechen zu empören – in diesem Fall allerdings, wenn sie von jemand anderem begangen werden.
Mythos Papiertiger, der die Welt erobert: Gut für die Rüstungsindustrie
Ich habe ein kleines Rätsel für Sie. Es besteht aus zwei Teilen. Russlands Militär ist unfähig und inkompetent. Seine Soldaten haben eine sehr niedrige Moral und werden schlecht geführt. Seine Wirtschaft ist mit der Italiens und Spaniens vergleichbar. Das ist der eine Teil. Der andere Teil ist, dass Russland ein militärischer Koloss ist, der uns zu überwältigen droht. Wir brauchen also mehr Waffen. Erweitern wir die Nato, heißt es. Wie bringen Sie diese beiden widersprüchlichen Gedanken unter einen Hut?
Noam Chomsky: Diese beiden Gedanken sind westliche Standardmeinung. Ich hatte gerade ein langes Interview in Schweden über die Pläne des Landes, der Nato beizutreten. Ich habe darauf hingewiesen, dass die schwedische Führung zwei widersprüchliche Ideen vertritt, die beiden von Ihnen genannten. Zum einen freuen sie sich darüber, dass Russland sich als Papiertiger erwiesen hat, der keine Städte erobern kann, die nur ein paar Kilometer von seiner Grenze entfernt sind und von einer größtenteils aus Bürgern bestehenden Armee verteidigt werden. Sie sind also militärisch völlig inkompetent. Der andere Gedanke ist: Sie sind drauf und dran, den Westen zu erobern und uns zu vernichten.
George Orwell hatte einen Namen dafür. Er nannte es "doublethink", die Fähigkeit, zwei widersprüchliche Ideen im Kopf zu haben und an beide zu glauben. Orwell dachte fälschlicherweise, dass dies nur in einem ultra-totalitären Staat möglich sei, den er in 1984 persiflierte. Er irrte sich. Das kann man auch in freien demokratischen Gesellschaften haben. Ein dramatisches Beispiel dafür erleben wir gerade jetzt. Übrigens ist das nicht das erste Mal.
Eine solche Doppeldenk-Struktur ist zum Beispiel charakteristisch für das Denken im Kalten Krieg. Gehen Sie zurück zum wichtigsten Dokument des Kalten Krieges jener Jahre, dem Strategiepapier des National Security Council NSC-68 von 1950. Wenn man es sich genau ansieht, zeigt es, dass Europa allein, ganz abgesehen von den Vereinigten Staaten, Russland militärisch ebenbürtig war. Aber natürlich mussten wir trotzdem ein riesiges Aufrüstungsprogramm durchführen, um den Welteroberungsplänen des Kremls zu begegnen.
Es war ein bewusster Ansatz. Dean Acheson, einer der Autoren, sagte später, dass es notwendig sei, "klarer als die Wahrheit" zu sein, wie er es ausdrückte, um das Massenbewusstsein der Regierung zu erschüttern. Wir wollen diesen riesigen Militärhaushalt durchsetzen, also müssen wir "klarer als die Wahrheit" sein, indem wir einen Sklavenstaat erfinden, der im Begriff ist, die Welt zu erobern. Dieses Denken zieht sich durch den gesamten Kalten Krieg. Ich könnte Ihnen noch viele andere Beispiele nennen, wir sehen es jetzt wieder auf ganz dramatische Weise. Sie formulieren richtig: Der Westen ist manisch besessen von beiden Ideen, zugleich.
Interessant ist auch, dass der Diplomat George Kennan in einem sehr vorausschauenden Meinungsartikel, der 1997 in der New York Times erschien, die Gefahr einer Ostverschiebung der Nato-Grenzen voraussah.
Noam Chomsky: Kennan stellte sich auch gegen den NSC-68. Tatsächlich war er der Direktor des Planungsstabs des Außenministeriums. Er wurde entlassen und durch Paul Nitze ersetzt. Kennan wurde als zu weich für die harte Welt angesehen. Er war ein Falke, radikal antikommunistisch, selbst ziemlich brutal in Bezug auf die Positionierungen der USA, aber er erkannte, dass eine militärische Konfrontation mit Russland keinen Sinn macht.
Russland, so dachte er, würde letztlich an inneren Widersprüchen zusammenbrechen, was sich als richtig erwies. Aber er galt durchweg als "Taube" in der Regierung. 1952 sprach er sich für die Wiedervereinigung Deutschlands außerhalb des Nato-Militärbündnisses aus. Das war eigentlich auch der Vorschlag des sowjetischen Machthabers Joseph Stalin. Kennan war Botschafter in der Sowjetunion und ein Russland-Spezialist.
Es war also Stalins Initiative und Kennans Vorschlag. Einige Europäer unterstützten ihn. Es hätte den Kalten Krieg beendet und ein neutralisiertes Deutschland bedeutet, nicht-militarisiert und nicht Teil eines Militärblocks. In Washington wurde der Vorschlag fast völlig ignoriert.
Es gab einen angesehenen Spezialisten für Außenpolitik, James Warburg, der ein Buch darüber schrieb. Es ist lesenswert. Es heißt Deutschland: Schlüssel zum Frieden. Darin drängt er darauf, dass diese Idee ernst genommen wird. Warburg wurde nicht beachtet, ignoriert, verspottet. Ich habe es ein paar Mal erwähnt und wurde auch als Verrückter verspottet. Wie kann man Stalin trauen?
Schließlich wurden die Archive geöffnet. Es stellte sich heraus, dass Stalin es offenbar ernst meinte. Wenn Sie heute die führenden Historiker des Kalten Krieges lesen, Leute wie Melvin Leffler, dann erkennen die an, dass es damals eine echte Chance für eine friedliche Lösung gab, die zugunsten einer Militarisierung, einer enormen Ausweitung des Militärhaushalts, verworfen wurde.
Kommen wir nun zur Kennedy-Regierung. Als John Kennedy sein Amt antrat, unterbreitete Nikita Chruschtschow, der damalige russische Staatschef, ein sehr wichtiges Angebot zur gegenseitigen Reduzierung der offensiven militärischen Waffen in großem Umfang, was eine deutliche Entspannung der Lage bedeutet hätte.
Die Vereinigten Staaten waren damals militärisch weit voraus. Chruschtschow wollte die wirtschaftliche Entwicklung Russlands vorantreiben und verstand, dass dies im Kontext einer militärischen Konfrontation mit einem ökonomisch weitaus entwickelteren Gegner unmöglich war. Daher unterbreitete er das Angebot zunächst Präsident Dwight Eisenhower, der darauf nicht einging.
Dann wurde es Kennedy angeboten, und seine Regierung reagierte darauf mit der historisch größten Aufrüstung in Friedenszeiten – obwohl sie wusste, dass die Vereinigten Staaten Russland weit überlegen waren.
Die USA erfanden daher eine "Raketenlücke". Russland sei im Begriff, uns mit seinem überwältigenden Raketenarsenal auszulöschen. Als die Raketenlücke überprüft wurde am Ende des Tages, stellte sich heraus, dass sie zu Gunsten der USA war.
Man kann die Liste fortführen. Die Sicherheit der Bevölkerung ist den politischen Entscheidungsträgern einfach nicht wichtig. Sicherheit für die Privilegierten, die Reichen, den Unternehmenssektor, die Waffenhersteller, ja, aber nicht für den Rest von uns. Dieses Doppeldenken ist ständig vorhanden, manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Es ist genau das, was Orwell beschrieben hat: Hyper-Totalitarismus in einer freien Gesellschaft.
In einem Artikel in Truthout zitieren Sie Eisenhowers "Cross-Of-Iron"-Rede von 1953. Was fanden Sie daran interessant?
Noam Chomsky: Sie sollten sie lesen und Sie werden sehen, warum sie interessant ist. Es ist die beste Rede, die er je gehalten hat. Das war 1953, als er gerade sein Amt antrat. Im Grunde wies er darauf hin, dass die Militarisierung ein enormer Angriff auf unsere Gesellschaft sei. Er – oder derjenige, der die Rede geschrieben hat – hat es ziemlich eloquent ausgedrückt. Ein Düsenflugzeug bedeutet so und so viele Schulen und Krankenhäuser weniger. Jedes Mal, wenn wir unseren Militärhaushalt aufstocken, greifen wir uns selbst an.
Er hat das sehr ausführlich dargelegt und eine Kürzung des Militärhaushalts gefordert. Er selbst hatte eine ziemlich miserable Bilanz, aber in dieser Hinsicht traf er genau ins Schwarze. Und diese Worte sollten sich in unser aller Gedächtnis einprägen. Kürzlich hat Biden nämlich einen riesigen Militärhaushalt vorgeschlagen. Der Kongress hat ihn sogar über seine Wünsche hinaus aufgestockt, was einen massiven Angriff auf unsere Gesellschaft darstellt, genau wie Eisenhower es vor so vielen Jahren erklärt hat.
Der Vorwand ist erneut, dass wir uns gegen diesen Papiertiger verteidigen müssen, der militärisch so inkompetent ist, dass er sich nicht einmal ein paar Meilen über seine Grenze hinaus bewegen kann, ohne zusammenzubrechen. Also müssen wir uns mit einem monströsen Militärbudget selbst schwer schaden und die Welt gefährden, indem wir enorme Ressourcen vergeuden, die notwendig wären, um die schweren existenziellen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, bewältigen zu können.
In der Zwischenzeit lassen wir Steuergelder in die Taschen derjenigen fließen, die fossile Brennstoffe produzieren, damit sie die Welt weiterhin so schnell wie möglich zerstören können. Das ist es, was wir mit der enormen Ausweitung sowohl der Produktion fossiler Brennstoffe wie auch der Militärausgaben erleben.
Es gibt Menschen, die darüber glücklich sind. Gehen Sie in die Chefetagen von Lockheed Martin und ExxonMobil, sie sind begeistert. Für sie ist es eine Goldgrube. Sie werden sogar gelobt dafür. Sie werden gelobt, dass sie die Zivilisation retten wollen, indem sie die Möglichkeit für Leben auf der Erde zerstören. Vergesst den globalen Süden! Wenn man sich vorstellt, dass Außerirdische, sollte es sie geben, uns beobachten, sie würden uns alle für völlig verrückt halten. Und sie hätten Recht.
Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Robert Pollin) auf Deutsch: "Die Klimakrise und der Global Green New Deal" (Unrast Verlag 2021).
David Barsamian ist der Gründer und Moderator des Radioprogramms Alternative Radio und hat unter anderem Bücher mit Noam Chomsky, Arundhati Roy, Edward Said und Howard Zinn veröffentlicht. Sein neuestes Buch mit Noam Chomsky ist Chronicles of Dissent (Haymarket Books, 2021). Das 1986 gegründete Alternative Radio ist ein wöchentliches einstündiges öffentlich-rechtliches Programm, das allen öffentlichen Radiosendern in den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa kostenlos zur Verfügung steht.
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