Pendelquarantäne in Berlin
Berliner Klinik, Patienten und Personal wegen Infektionen mit neuem Coronavirustyp abgeschottet. WHO-Experten und UN-Generalsekretär befürchten noch weitere Mutationen
Während UN-Generalsekretär António Guterres am Montag in einer Videorede beim Weltwirtschaftsforum (WEF) die Industrieländer vor weiteren gefährlichen Virusmutationen warnte, die auch sie erreichen könnten, wenn Impfstoffe nicht global als "öffentliche Güter" verfügbar gemacht würden, stand das Berliner Humboldt-Klinikum bereits am dritten Tag in Folge in Quarantäne.
Dies soll insgesamt zwei Wochen so bleiben. Der Grund sind die dort festgestellten Infektionen mit der aus Großbritannien bekannten Mutation des Coronavirus, die zumindest als ansteckender gilt als die bisher gängige Variante. Der britische Premierminister Boris Johnson hatte die Mutation B.1.1.7 am Freitag auch als bis zu 30 Prozent tödlicher bezeichnet. Davon ging der wissenschaftliche Berater der britischen Regierung, Patrick Vallance, nach einer Datenanalyse zumindest für bestimmte Altersgruppen aus.
Bisher soll das Sterberisiko 90jähriger Corona-Patienten bei 28 Prozent liegen, wie der Stuttgarter Mathematik-Professor Christian Hesse auf Grundlage von Daten aus Deutschland und internationaler Studien ausgerechnet hat. Bei 60jährigen verdoppelt demnach eine Infektion das normale altersbedingte Sterberisiko innerhalb eines Jahres. Laut Hesse entspricht dies statistisch einem plötzlichen Alterungsschub um sieben Jahre - die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen liegt in Deutschland bei 83 und die von Männern bei 78 Jahren.
Im Humboldt-Klinikum in Berlin-Reinickendorf, wo seit Samstag rund 1.500 Mitarbeitende und 400 Patienten unter Quarantäne stehen, waren zuvor in der Station für Innere Medizin und Kardiologie Infektionen mit dem mutierten Virustyp B.1.1.7 festgestellt worden.
"Es fing an, so ein bisschen auszufasern", begründete der zuständige Amtsarzt Patrick Larscheid gegenüber dem Rundfunk Berlin Brandenburg die Abschottung des Hauses.
Die Beschäftigten befinden sich allerdings in "Pendelquarantäne": Um den Betrieb am Laufen halten zu können, werden für sie eigens Charter-Busse der Berliner Verkehrsbetriebe eingesetzt. Die Kleinbusse fungieren als Sammeltaxen, die das diensthabende Personal zu Hause abholen und nach der Schicht heimfahren.
Bis Montagabend war der Virustyp B.1.1.7 in zwei weiteren Berliner Kliniken nachgewiesen worden - im Universitätsklinikum Charité und im Spandauer Vivantes-Krankenhaus. In beiden Häusern soll es sich bis dato aber nur um wenige nachgewiesene Fälle handeln. 22 von 25 positiven Testergebnissen stammten aus dem Humboldt-Klinikum. Vier "aktive" B.1.1.7-Fälle waren bis Montag abend in Berlin außerhalb der Krankenhäuser bekannt.
Weltweit gesehen schätzte der UN-Generalsekretär in seiner Rede am Montag die Lage dramatisch ein: "Es besteht jetzt die klare, reale Gefahr von Mutationen, die das Virus übertragbarer oder tödlicher oder resistenter gegen vorhandene Impfstoffe machen. Wir müssen schnell handeln", sagte Guterres.
Wie lange die vorhandenen Impfstoffe wirken, wann Geimpfte womöglich eine Auffrischung benötigen oder Coronaviren Impfstoffresistenzen entwickeln, ist bislang ungewiss. "Die nicht ganz so gute Nachricht ist, dass die schnelle Entwicklung dieser Varianten darauf hindeutet, dass sich das Virus schneller zu einem impfstoffresistenten Phänotyp entwickelt könnte, als uns lieb ist", erklärte der Vakziologe Philip Krause, der eine Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu COVID-19-Impfstoffen leitet, vor wenigen Tagen im Science Magazine.