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Philosophen sollten mehr zweifeln

Eine Replik auf das Interview mit Thomas Metzinger über Philosophie und Hirnforschung

Erkenntnisfortschritt, geistige Autonomie, Rationalismus - das sind humanistische Ideale, in deren Zeichen Metzinger Philosophie und Wissenschaft sieht. Gerade die auch von ihm vorangetriebene Neuroethik scheint hier aber in einem fragwürdigen Licht: Sie hat zu oft die Form von Öffentlichkeitsarbeit und Mittelbeschaffungsmaßnahme angenommen. Es braucht, wie Metzinger selbst vorlebt, keine Feindschaft zwischen Philosophie und Wissenschaft zu geben; beide Parteien sollten dabei aber nicht das vergessen, was sie am tiefsten miteinander verbindet, nämlich methodischen Zweifel. Die fehlgeleiteten Diskussionen zu Gehirndoping und Willensfreiheit machen dies deutlich.

Wissenschaftler wie Philosophen hätten zentrale Aspekte der Willensfreiheit missverstanden, Journalisten die Diskussion unnötig aufgebauscht, die Gesellschaft bisher die eigentliche Relevanz der Hirnforschung verkannt und die Unterzeichner des Memorandums für eine Reflexive Neurowissenschaft [1], zu denen ich gehöre, betrieben haltloses Neuro-Bashing: "Hirnforschung ist doof!", ist die Botschaft, die Thomas Metzinger von unserer Einladung zu einem interdisziplinären und kritischen Systemdenken mitgenommen hat ("Neuro-Bashing" als Nachfolger des "Veganer-Bashings" [2]).

Folgt man seiner Darstellung, dann liegt bei der Diskussion um die Hirnforschung einiges im Argen. In dieser Schlussfolgerung stimmen wir sogar überein, doch in der Lokalisation des Problems gehen unsere Meinungen weit auseinander: Ein Fokus auf die Dynamik der Wissenschaftskommunikation liefert meines Erachtens einen Schlüssel zum Verständnis.

Überholtes Kommunikationsmodell

Wir müssen uns von der naiven Sichtweise verabschieden, die den Forscher oder Philosophen auf der einen Seite als objektiven Repräsentanten der Wissenschaft aber die sogenannte interessierte Öffentlichkeit auf der anderen Seite als passive Zuhörer sieht. Gemäß diesem auch als Defizit-Modell bekannten Ansatz haben die einen, woran es den anderen mangelt, nämlich Wissen.1 [3] Versorgten die Experten die Laien damit, dann wäre das Problem gelöst. Würde Wissenschaftskommunikation in der Praxis so funktionieren, dann gäbe es keine anhaltenden Missverständnisse zur Evolutionstheorie, Ursachen der Klimaveränderung oder eben den Entdeckungen der Hirnforschung.

Das Defizit-Modell gilt aber schon lange als überholt: Weder sind Wissenschaftler objektiv, das heißt sie stehen nicht über den Interessen, noch sind Laien passiv. Dank der fortschreitenden Organisation der Wissenschaft gemäß unternehmerischem Denken sind Forscher und Philosophen zunehmend Ich-AGs, die im Konkurrenzkampf um begrenzte Ressourcen ihre Ideen, Theorien und Forschungsprojekte verkaufen müssen, nämlich an Berufungskommissionen, Forschungsinstitutionen und nicht zuletzt die Öffentlichkeit, die als Steuerzahler wissenschaftliches Arbeiten finanziert.

Ökonomischer Anpassungsdruck von oben

Die Anpassungsfähigen sind diejenigen, die in diesem Kampf überleben. Thomas Metzingers einstiger Mentor, der frühere Professor an der FU-Berlin und für seine Romane wie "Nachzug nach Lissabon" bekannte Peter Bieri, hat den philosophischen Bleistift abgegeben, als ihm dieses Spiel zu bunt wurde. Er kritisierte, dass die Universitäten "zur Zeit durch die Perspektive der Unternehmensberatung kaputtgemacht werden. Wir bekommen ständig Fragebögen: Wie viele Gastprofessuren haben Sie wahrgenommen? Wie viele Drittmittel haben Sie eingeworben? Eine Diktatur der Geschäftigkeit. All diese Dinge haben mit der authentischen Motivation eines Wissenschaftlers gar nichts zu tun."2 [4]

Die an den Universitäten gebliebene alte und neue Professorengarde hingegen überbietet sich eifrig mit langen Publikationslisten und akkumulierten Fördersummen; sie hat sich an der unternehmerischen Universität eingerichtet und liefert das, was Hochschulräte und Wissenschaftsminister unter der Maxime "Sei exzellent!" von ihnen verlangen. Wissenschaft ist eine politische Arena geworden, in der sich Länder, Städte, Institute und schließlich einzelne Menschen permanent in Rankings vergleichen.

Der "Neuroethiker" als Erfolgsmodell

Als Anpassungsstrategie im Kontext der Hirnforschung hat sich nach US-amerikanischem Vorbild die Einführung eines neuen Experten bewährt. Dieser heißt "Neuroethiker" und sein Erfolg hängt von zwei Vorgängen ab: Dass er erstens die Öffentlichkeit von der großen gesellschaftlichen Relevanz der Hirnforschung überzeugt, womit er gleichzeitig kostenlose Publicity-Arbeit für die Mainstream-Neurowissenschaft macht, und zweitens allen weismacht, dass er - oder sie - genau der richtige für die Analyse der neuen Entwicklungen ist.

Das muss nicht verkehrt sein, denn schließlich kann es ja von großem Nutzen sein, sich rechtzeitig über die Folgen von Wissen und Technologie Gedanken zu machen. Nach mehr als zehn Jahren Neuroethik darf man aber behaupten, dass dieser Experte wenig Gutes bewirkt hat. Man nehme ein beliebiges seiner Themen, sei es Gehirndoping, Neuromoral, Gedankenlesen oder Neurorecht - keine der Prophezeiungen ist bisher eingetreten: Weder machen Psychopharmaka oder gar Gehirnchips uns massenweise schlauer, noch können wir im Gehirn ablesen, was moralisch richtig oder falsch ist, noch dort Wahrheit und Lüge unterscheiden, noch wurde das Strafrecht umgestürzt. Allein die Publikationslisten wurden länger und länger, die Projektmittel wurden mehr und mehr.

Phänomen "Gehirndoping" herbeigeredet

Beim Gehirndoping ist dies besonders frappierend: Selbst die jungen Studierenden haben den Neuroethikern bisher nicht den Gefallen getan, alle möglichen Mittelchen aus dem Psychopharma-Labor auszuprobieren, um bessere Noten zu kriegen. Im Gegenteil wurden diese Labore, soweit sie kommerziellen Firmen gehörten, die auf Gewinnmaximierung angewiesen sind, zwischenzeitlich geschlossen: wegen mangelnder Renditeaussichten.3 [5]

Auch wenn Neuroethiker noch so oft das Gehirndoping herbeireden, was wahlweise futuristisch oder alarmierend von Journalisten aller Couleur aufgegriffen wurde, in der Welt passieren ganz andere Dinge: Die Mittel, die tatsächlich in nennenswerten Mengen konsumiert werden, sind alte Bekannte wie Amphetamin - beforscht seit mehr als 100 Jahren und bekannt unter dem Szenenamen "Speed" - oder das schon in den 1940ern entdeckte Methylphenidat (Ritalin), ein etwas schwächerer Verwandter von Amphetamin. Von den neuen Mittelchen, mit denen der Neuroethiker jahrelang die Werbetrommel gerührt hat, ist weit und breit nichts zu sehen.

Eigentliches Problem von Neuroethikern übersehen

Dort aber, wo der Anstieg im psychopharmakologischen Konsumverhalten wirklich dramatisch ist, nämlich bei den Verschreibungszahlen durch Ärzte, will der Neuroethiker indes nicht nachsehen. Das sei schließlich medizinische Behandlung und kein Neuroenhancement, falle also nicht in sein Zuständigkeitsgebiet.4 [6] Dabei werden allein in den USA auf staatlicher Kommission inzwischen jährlich fast 100.000 kg Methylphenidat und mehr als 70.000 kg Amphetamin (mit Derivaten) produziert. Für Methylphenidat hat sich damit von 1990 bis 2013 die Produktionsquote versechsundreißigfacht; dennoch passiert es hin und wieder, dass nicht alle Rezepte bedient werden können und Patienten wochen- oder gar monatelang auf Nachschub warten müssen.

Der Neuroethiker verliert sich indessen in neuen Fantasien, die nicht mehr die Verbesserung des akademischen Denkens zum Gegenstand haben, sondern das moralische Entscheiden: Moral auf Rezept. Das sogenannte "Moral Enhancement" ist wieder ein gefundenes Fressen für die Medien. Damit wird aber auch deutlich, dass die Arbeit des Neuroethikers nicht nur ihren primären Preis hat, also die für ihn bezahlten Forschungsgelder, die schließlich nur einmal ausgegeben werden können und an anderer Stelle fehlen, sondern auch einen sekundären: Dadurch, dass das Thema schnell besetzt und unter einem bestimmten Vorzeichen beschrieben wird, kommen andere, womöglich unangenehme Fragen gar nicht erst auf. Schließlich wähnt sich die Gesellschaft in der Sicherheit des Neuroethikers.

Auf dem Weg zum Übermenschen

Deshalb wurde auch die Enhancement-Debatte bisher kaum aus dem Blickwinkel der Anpassung an globalen Leistungsdruck und der Züchtung eines neuen Übermenschen beleuchtet. Dazu, was mit den Milliarden Menschen geschehen wird, die durch das Raster des Neuroenhancements fallen und abgehängt auf der Strecke bleiben, hat man von Neuroethikern bisher wenig gelesen. Die Ergebnisse wären vielleicht wirklich beunruhigend; und man könnte es sich leicht mit den Kollegen verscherzen, die heute am Übermenschen basteln und mit denen man zusammen Forschungsanträge schreibt.

Stattdessen wurden reihenweise Zahlen zur Verbreitung des Psychopharmaka-Konsums verkehrt wiedergegeben. Beliebt war und ist es etwa, Studien, die allgemeinen Drogenkonsum untersuchen, unter dem Etikett des Neuroenhancements zu diskutieren; so schreibt man sich sein Phänomen herbei. Beliebt war und ist es auch, statistische Ausreißer kreativ zu interpretieren: Wenn etwa der Mittelwert einer Studie bei vier Prozent lag, es von über 100 Datenpunkten aber einen Abweichler bei 25 Prozent gab, dann schaffte es letzterer in die wissenschaftlichen Publikationen - und so auch in die Medien.5 [7] Daher greift auch die Verteidigung, Schuld seien allein die Medien, ins Leere: Die dramatischen Zahlen werden schließlich von den Neuroethikern selbst geliefert, zum Teil in hochrangingen Zeitschriften.

Stressbewältigung statt Enhancement

Inzwischen haben Sozialwissenschaftler den Anschluss an die Diskussion gefunden und stellen nicht nur unangenehme Fragen, sondern können dazu sogar empirische Daten liefern: Was jahrelang als Verbesserung des Denkens dargestellt wurde, scheint in der Praxis eher ein Umgang mit Motivationsproblemen oder eine Stressbewältigungsstrategie zu sein.6 [8] Dafür würden freilich wenige Forschungsgelder bezahlen, jedenfalls nicht dem Neuroethiker. Überhaupt muss man an der Vorstellung, das Leben der Menschen ausgerechnet im Gehirn zu verbessern, zweifeln. Dass weltweite Vergleichsstudien etwa Einkommen, Sicherheit, Wohnung oder Work-Life-Balance schon lange als Verbesserungsfaktoren identifiziert haben, fällt dem Neuroethiker nicht auf; das ist eben nicht sein Fachgebiet.7 [9]

Thomas Metzinger und ich dürften darin übereinstimmen, dass sich in der Willensfreiheitsdebatte wenige Kollegen mit Ruhm bekleckert haben. Ich sehe darin aber ein bestimmtes System: Von der erzeugten öffentlichen Aufmerksamkeit profitierten nicht nur Mainstream-Neurowissenschaftler und Neuroethiker, sondern schließlich auch Medien und andere Wissenskommunikatoren. Die Hirnforschung schien auf einmal wahnsinnig relevant, etwas völlig Neues über den Menschen zeichnete sich am Horizont ab.

Altes Determinismusargument neu aufgewärmt

Dabei war das Argument, unser Verhalten sei determiniert, ein alter Hut. Förmlich jede philosophische Schule von der antiken Stoa über die mittelalterlichen Religionsphilosophen bis zu Kant, Schopenhauer und in die heutige Zeit dürfte sich schon mit der Frage beschäftigt haben, wie wahlweise natürliche oder göttliche Determination mit menschlicher Freiheit in Einklang zu bringen ist. Dabei ist es noch nie zu einem Umsturz der rechtlich-moralischen Ordnung gekommen.

Dass man Menschen auch und gerade dann für ihr Verhalten verantwortlich machen kann, wenn sie durch ihr Gehirn determiniert sind, bestätigen neuerdings Anthropologen, die Neurologen und Psychiatern sowie deren Patienten in der klinischen Praxis untersuchen: Ganz im Einklang mit der neuen Gesundheitsreligion und dem Gedanken der Plastizität - der Formbarkeit von Körper und Gehirn - werden wir alle zu mehr Selbstdisziplin angehalten.

So stellte etwa Julie Netherland bei ihrer Forschung in einer neurowissenschaftlich geprägten Suchtklinik fest, dass die Patienten gerade aufgrund ihrer im Gehirn verankerten Erkrankung zu noch mehr Askese angetrieben wurden;8 [10] und auch wenn biologische Forschung psychiatrische Patienten tendenziell von Schuldvorwürfen befreit, werden die Betroffenen nach heutigem Kenntnisstand darum nicht weniger sozial ausgegrenzt.9 [11] Von Verantwortlichkeit für uns selbst befreit uns der biologische Determinismus allem Anschein nach jedenfalls nicht; dank Plastizitätsthese, die unter anderem durch die Epigenetik gestützt wird, ist das Gegenteil der Fall.

Wenn das Gehirn uns festlegt, was legt dann das Gehirn fest?

Selbst wenn (Gehirn-) Verschaltungen uns festlegen, wie der frühere Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung Wolf Singer es einmal auf den Punkt brachte, wirft das nur die neue Frage auf, was denn unser Gehirn festlegt. Von linearem Kausaldenken sollte man sich hier in jedem Fall verabschieden: Es ist eine bisher höchstens ansatzweise verstandene Interaktion aus (sozialer) Umwelt, biologischer Veranlagung, unseren Erfahrungen und den ablaufenden psychischen Prozessen mit vielen, nichtlinearen Rückkopplungsschleifen. Freiheit ist dann kein Alles oder Nichts, sondern ein Mehr oder Weniger. Die gerade auch empirisch viel wichtigere Frage ist die, unter welchen Umständen wir möglichst frei sind; es geht um die Freiheitsgrade und die notwendigen wie hinreichenden Bedingungen dafür.

Die Fruchtfliege, die von meinem Glas Rotwein - vergorenem Traubensaft - wie hypnotisiert angelockt wird, erkennt nicht ihre Lebensgefahr, auch wenn ich sie schon drei-, viermal beinahe erwischt habe. Beim fünften Mal schließlich habe ich sie. Ihr werden am Abend noch weitere folgen. Wir Menschen haben aber weit mehr Erkenntnis-, Reflexions- und Entscheidungsmöglichkeiten als die Fruchtfliege und in diesem Sinne auch viel mehr Freiheitsgrade.

Gehirnsicht lenkt von politischer Frage ab

Gesellschaftspolitisch wichtig ist die Frage danach, welche äußeren Zwänge unser Denken und Entscheiden einschränken, etwa geschürte Ängste, scheinbare Sachzwänge, provozierte Erschöpfung oder angebliche Alternativlosigkeit, und welche sie erweitern, etwa Zeit, Recherche oder kritische Prüfung. Diese gerade auch vom humanistischen Standpunkt aus wichtigen Fragen fallen freilich unter den Tisch, wenn man unsere Freiheit nur in Gehirnverschaltungen sucht.

Die selbstständige Denkfähigkeit, die für die Realisierung humanistischer Ideale so entscheidend ist, scheinen aber viele heutzutage zu verlieren, sobald das Schlagwort "Hirnforschung" fällt oder einem Begriff ein Neuro-Präfix vorangestellt wird. Forschungsergebnisse werden dann nicht mehr kritisch hinterfragt, sondern einfach hingenommen. So wurde auch den von Metzinger zitierten psychologischen Experimenten, die zeigen würden, dass der Glaube an Determinismus uns unmoralischer macht, bereits widersprochen: Beispielsweise sei in diesen Versuchen vielmehr ein Fatalismus- als ein Determinismusglaube induziert worden.10 [12]

Fatalismus kann ermüden, Determinismus aber motivieren

Dabei ist selbst oder gerade in einer deterministischen Welt moralisch-politisches Handeln sinnvoll: Schließlich können wir durch unser Denken, Sprechen und Handeln auch oder gerade dann auf das Denken, Sprechen und Handeln anderer einwirken, unsere Mitmenschen und Umwelt mitdeterminieren. Nur in einer fatalistischen Welt, in der sowieso alles schlechter wird, ganz gleich, was wir tun, ist moralisch-politisches Handeln sinnlos. Man sollte sich also davor hüten, den Glauben an unsere - wenn auch durch verschiedene Faktoren bedingte - Freiheit vorschnell aufzugeben.

Das beste Beispiel für weitreichende Missverständnisse ist hier die Rezeption des Libet-Experiments. Die Literatur zu den damals bahnbrechenden Versuchen Benjamin Libets, mithilfe der Elektroenzephalographie die Dynamik unseres Bewusstseins besser zu erforschen, dürfte inzwischen einige Regalmeter füllen.

Libet-Experiment von Anfang an missverstanden

Wie viele sind dem einfachen Kausalmodell - dem Bereitschaftspotenzial im Gehirn folgt das bewusste Erleben einer Entscheidung, dem wiederum die Handlung folgt - auf den Leim gegangen? Neben der berechtigten neurowissenschaftlichen, psychologischen und philosophischen Kritik am Versuchsaufbau überrascht mich am meisten, dass ein Teil der Befunde, nämlich derjenige, der dem einfachen Kausalmodell widerspricht, einfach ausgeblendet wurde.11 [13]

Libet konnte das Bereitschaftspotenzial nämlich auch dann messen, wenn die Versuchspersonen die Handlung nicht vollzogen.12 [14] Damit scheidet die gemessene Gehirnreaktion aber von vorne herein als deterministische Ursache der Handlung aus. Dieser von den meisten über Jahrzehnte hinweg ignorierte Aspekt seiner vielfach rezipierten Versuche wurde vor Kurzem von den neuseeländischen Neuropsychologen Judy Trevena und Jeff Miller ausführlich und unter modernen experimentellen Bedingungen untermauert13 [15]: Das Bereitschaftspotenzial ist allenfalls eine notwendige, mit Sicherheit aber keine hinreichende Bedingung der Bewegungshandlung.

Fehldarstellungen weit verbreitet

Auch andere Beispiele für angeblich bahnbrechende neurowissenschaftliche Erklärungen des Menschen werfen Fragen auf: So ist der oft zum Verständnis des "moralischen Gehirns" herangezogene neurologische Patient Phineas Gage, mit dem nicht zuletzt Antonio Damasio seine Theorie der Somatischen Marker untermauert hat, den historischen Quellen gemäß nicht antisozial, geschweige denn kriminell gewesen.14 [16] Diese Eigenschaften hat man ihm im Laufe von 170 Jahren immer wieder angedichtet, um seinen Theorien vom "moralischen Gehirn" mehr Überzeugungskraft zu verleihen. Widersprüchliche Evidenzen wurden konsequent ausgeblendet oder uminterpretiert.

Auch wo Gerhard Roth Willenstäuschungen durch elektrische Stimulation des Gehirns suggeriert, deuten die Originalberichte auf das Gegenteil15 [17]: Selbst wenn der Strom bei entsprechender Stärke letztlich ein Verhalten erzwang, wussten die Patienten sehr wohl, dass dies vom Versuchsleiter ausgelöst wurde, nicht von ihnen selbst.

Wohl frei erfundenes Experiment berichtet

Am frappierendsten ist jedoch die Darstellung eines Experiments, das wahrscheinlich nie stattgefunden hat: So schilderte Daniel Dennett einen Versuch, bei dem Patienten mit einem Knopfdruck einen Diaprojektor weiterschalten sollten. Der Knopf sei in Wirklichkeit jedoch eine Attrappe gewesen. Gleichzeitig sei ihr Gehirn mit dem Projektor verbunden gewesen.

Kurz bevor die Patienten den Knopfdruck hätten auslösen wollen, habe jedoch - sehr zu ihrem Erstaunen - schon eine unbewusste Gehirnreaktion das Weiterschalten verursacht. Wieder schien das Hirn an unserem Bewusstsein vorbei das Verhalten festzulegen, ohne dass wir es merken; eine Hypothese, die übrigens nicht erst die jüngere Hirnforschung, sondern bereits vor hundert Jahren Sigmund Freud formulierte.

Als der Wissenschaftsphilosoph Dirk Hartmann dem von Dennett berichteten Versuch auf den Grund gehen wollte, stellte sich heraus, dass es sich wahrscheinlich bloß um ein Gedankenexperiment eines Neurochirurgen handelte, dieser Versuch jedoch nie tatsächlich ausgeführt wurde.16 [18] Freilich haben viele Dennetts Schilderung ungeprüft abgeschrieben, Fachleute wie Journalisten, und damit das Neuro-Menschenbild untermauert. Die Korrekturen der Fehldarstellungen blieben in der Regel aus; das neue Menschenbild steht aber auf tönernen Füßen.

Zur Wissenschaft gehört Zweifeln

Damit zeigt sich, dass diejenigen, die mit den angeblichen Befunden empirischer Forschung hausieren gehen, oft wissenschaftliche Grundregeln vernachlässigen. So formulierte die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihrer Denkschrift zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis17 [19] aus gutem Grund:

Forschung als Tätigkeit ist Suche nach neuen Erkenntnissen. Diese entstehen aus einer stets durch Irrtum und Selbsttäuschung gefährdeten Verbindung von Systematik und Eingebung. Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und gegenüber anderen ist eine Grundbedingung dafür, dass neue Erkenntnisse - als vorläufig gesicherte Ausgangsbasis für weitere Fragen - überhaupt zustande kommen können. Ein Naturwissenschaftler wird durch seine Arbeit dazu erzogen, an allem, was er tut und herausbringt, zu zweifeln, ... besonders an dem, was seinem Herzen nahe liegt.

Schon im 19. Jahrhundert wurde übertrieben

Vom Zweifeln war in der Debatte bisher aber wenig zu sehen. Stattdessen wurden die Befunde regelmäßig verkürzt, theoretische wie methodische Einwände vernachlässigt und die gesellschaftliche Relevanz übertrieben. Es sollte uns nachdenklich stimmen, dass schon Josef Hyrtl, bedeutender Physiologe des 19. Jahrhunderts und damaliger Rektor der Universität Wien, in seiner Aufsehen erregenden Rede zum 500. Jubiläum seiner Universität über die damalige Materialismusdiskussion feststellte18 [20]:

Fasse ich, zum Schlusse eilend, das Gesagte zusammen, so kann ich mir nicht erklären, welche wissenschaftlichen Gründe das Wiederaufleben der alten, materialistischen Weltanschauung des Epikur und Lucrez in Schutz nehmen oder rechtfertigen und ihr eine allgemeine und bleibende Herrschaft zusichern sollen. Beobachtung und Erfahrung sprechen heute nicht mehr als damals zu ihren Gunsten, und die mit Recht so gepriesene, exacte Methode der Naturwissenschaft hat nichts gebracht, ihre Haltbarkeit zu vermehren. […] Ihre Erfolge beruhen nicht auf der Klarheit und Unangreifbarkeit ihrer Argumente, sondern auf der Kühnheit ihres Auftretens und in dem herrschenden Geiste der Zeit, welcher Lehren dieser Art um so lieber popularisiert, je gefährlicher sie der bestehenden Ordnung der Dinge zu werden versprechen.

Medien profitieren von Übertreibungen

Damals wie heute, genau 150 Jahre später, entpuppen sich die weitreichenden Schlüsse für das Menschenbild aus Naturwissenschaft und Hirnforschung allzu oft als heiße Luft; heiße Luft aber, die allzu gerne von den Medien aufgegriffen wird, wenn die Schlussfolgerungen nur provokant genug sind.

Tatsächlich deutet wissenschaftssoziologische Forschung, etwa zur Kommunikation der angeblichen Effekte von Psychopharmaka, daraufhin, dass die Medien von diesem Muster gleich doppelt profitieren19 [21]: Zuerst werden Sensationsmeldungen darüber produziert, wie wirksam die Mittel sind; wenn der Hype hinreichend befeuert wurde, haben schließlich die Nachrichten einen hohen Aufmerksamkeitswert, die ihn als bloßen Mythos entlarven.

Im Einklang mit der gebotenen wissenschaftlichen Vorsicht und in Abwandlung eines Zitats des Physikers Niels Bohr hat der Hirnforscher Karl Zilles einmal folgendes über den Zusammenhang von Neurowissenschaft und Menschenbild formuliert20 [22]:

Es ist falsch, zu denken, es wäre Aufgabe der Hirnforschung, herauszufinden, wie der Mensch beschaffen ist. Die Aufgabe der Hirnforschung kann nur sein, herauszufinden, was wir - mit ihren Mitteln - über den Menschen sagen können.

Wissenschaftliche Vorsicht

So verstanden rücken eben auch die Erkenntnisbedingungen - die Mittel und Methoden - einer jeden Wissenschaft in den Blick. Diese Erkenntnis ist immer bedingt und liefert, bestenfalls, einen Mosaikstein zum Verständnis der großen Welträtsel.

Diejenigen, die mit ihren Schlussfolgerungen weit übers Ziel hinausschießen, stören aber nicht nur dieses Mosaik, sondern leiten schlimmstenfalls diejenigen, die ihnen folgen, in die Irre; auch wer lieber nicht bei diesem Vabanquespiel mitmachen würde, gerät im Konkurrenzkampf freilich unter Zugzwang. Es ist kein Wunder, dass in einem Umfeld, in dem nur bahnbrechende Erfolge belohnt werden, Übertreibungen an der Tagesordnung sind. Wir brauchen endlich wieder ein System, in dem auch Zweifeln seinen festen Platz hat.21 [23]

Erfolge der Kritiker

Dass nicht alles, was man mit einem Neuro-Präfix versehen hat, der Wahrheit letzter Schluss ist, spricht sich nach einigen kritischen Publikationen allmählich herum.22 [24] Jüngst hat auch die "Critical Neuroscience"-Gruppe erneut viele Aufsätze versammelt, die oberflächliche Erklärungen hinterfragen und das Potenzial kritischer Wissenschaft entfalten (Critical Neuroscience: The context and implications of human brain research [25]).

Es wäre bloß schade, würde man nun das Kind mit dem Bade ausschütten und darum auch die richtigen und wichtigen Schlussfolgerungen der Hirnforschung ablehnen. Als Beispiel sei nur auf die Paradoxie verwiesen, den bereits erwähnten Wolf Singer reihenweise zu hoch dotierten Vorträgen über Willensfreiheit einzuladen, anstatt ihn um eine Vorlesung über die Funktionsweise des visuellen Systems, sein eigentliches Fachgebiet, zu bitten. Ist denn die Frage, wie wir Menschen sehen können, nicht faszinierend genug?

Umdenken der Entscheidungsträger

Ein neuerer Bericht unter Federführung des US-Gesundheits- und Verteidigungsministeriums zur Neurobiologie der Aggression deutet daraufhin, dass stellenweise auch bei wichtigen Entscheidungsträgern ein Umdenken stattfindet. So schlussfolgerten dessen Herausgeber im Februar 201323 [26]:

It is not possible to understand the biology of behavior without understanding the context in which that biology occurs, as well as the society in which that individual dwells. This is true in our understanding of aggression; there is no highly accurate means of identifying individuals likely to commit an impulsive or planned violent act. The context in which aggression and violence occur can be modified much more easily than identifying individuals likely to commit an aggressive act; by manipulating context, society may reduce aggression by individuals indirectly.

Experten fällt auf: Der Kontext ist wichtig!

Nachdem jahrelang einige Forscher in den Vereinigten Staaten aber auch hierzulande die Idee verkauft haben, man könne die Verbrechens- oder gar Terrorismusbekämpfung durch neurowissenschaftliche Verfahren revolutionieren, drückt sich in dem Bericht die einzig vernünftige Feststellung aus: Dass nämlich die Determinismusfrage nicht im Gehirn endet und das Denken, Erleben und Handeln des Menschen in seinem Kontext gesehen werden muss - und das ist eben vor allem auch die soziale Umwelt.

Um diese Schlussfolgerung ging es uns ebenfalls im Memorandum für eine Reflexive Neurowissenschaft [27]. Wer freilich, wie Thomas Metzinger, darin die Aussage missversteht, Hirnforschung sei "doof", mit dem lässt sich schwer diskutieren.

Hirnforschung - aber bitte mit Reflexion

Die Entscheidungen, das europäische Human Brain Project [28] oder die US-amerikanische Brain Initiative [29] jeweils mit Geldern im Milliardenbereich zu fördern, läutet eine neue Neuro-Runde ein. Es wäre schön, wenn damit auch ein höheres Reflexionsvermögen einherginge, um gedankliche Kurzschlüsse, die schon im 19. Jahrhundert entlarvt wurden, ein für allemal hinter sich zu lassen.

Dann wären Erkenntnisfortschritt, geistige Autonomie und Rationalismus nicht länger nur leere Etikette zum Verkauf eines Forschungsprogramms, sondern würden sie den wissenschaftlichen Diskurs zutreffend charakterisieren. Das müsste doch im gemeinsamen Interesse von Philosophen und Wissenschaftlern sein.

Stephan Schleim ist Assistenzprofessor für Theoretische Psychologie an der Universität Groningen (Niederlande). Er studierte bis 2005 bei Thomas Metzinger an der Universität Mainz und war dort studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie.


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[23] https://www.heise.de/tp/features/Philosophen-sollten-mehr-zweifeln-3367192.html?view=fussnoten#f_21
[24] https://www.heise.de/tp/features/Philosophen-sollten-mehr-zweifeln-3367192.html?view=fussnoten#f_22
[25] http://www.frontiersin.org/human_neuroscience/researchtopics/critical_neuroscience_the_cont/1708
[26] https://www.heise.de/tp/features/Philosophen-sollten-mehr-zweifeln-3367192.html?view=fussnoten#f_23
[27] http://www.psychologie-heute.de/home/lesenswert/memorandum-reflexive-neurowissenschaft/
[28] http://www.humanbrainproject.eu/
[29] http://www.nih.gov/science/brain/