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Physik und Tod und deutscher Taumel

Bild: © Neue Visionen Filmverleih

In welcher Welt leben wir? Timm Krögers "Die Theorie von Allem" hält, was der Titel verspricht. Einer der schönsten, ungewöhnlichsten deutschen Filme seit Jahren.

"Was soll ich sagen? Das hier könnte sich als richtungsweisend erweisen. Das rieche ich. Wie kommen sie überhaupt darauf?"

Aus: "Die Theorie von Allem"

Es geht um Physik. Eine Talkshow, offensichtlich nicht der "Club 2", denn da gab es gar kein Publikum, sondern eine schmierige deutsche Vorführsendung, die an Antworten nicht interessiert ist, nur an der feixenden Eitelkeit des Moderators.

Es ist 1974. Dies sei kein Roman, sagt der Autor zu seinem Roman, der Verlag habe das Ganze so herausbringen wollen. "Das ist keine Geschichte." Es handle sich um Tatsachen. "Sie nehmen also an, dass wir in einer anderen Welt leben, als sie", ätzt der Moderator.

Es geht um Physik. "Die moderne Physik", sagt der junge Mann, "fußt auf der klassischen Interpretation der Quantenmechanik, also Max Born, Nils Bohr, Schrödinger. Letztlich geht es darum: In welcher Welt leben wir?

"Ist das hier, diese Welt, in der ich hier bei Ihnen sitze, ist das die einzig wirkliche Welt oder gibt es nicht auch noch andere Möglichkeiten parallel existierender Welten, Welten, in denen die Dinge parallel verlaufen könnten?"

Die Untoten des Nachkriegs

Es geht um Erinnerungen, um Gedächtnisbilder. Recht früh im Film sagt ein kleiner Schweizer Junge zu den deutschen Gästen "Heil Hitler!" und kriegt dafür eine Ohrfeige. Recht spät sehen wir ein Grab und begreifen, dass eine Hauptfigur des im Jahr 1962 spielenden Films eigentlich schon 1942 gestorben war. Auch der Grabstein ist noch ein Pastiche, ein Stand-In, denn die fragliche Figur liegt tatsächlich in einem Massengrab im Osten. Oder doch nicht?

Das Schweizer Kind weiß alles. Es weiß Dinge, die noch gar nicht passiert sind. Genau wie die Frau. Genau wie das Kino. Erinnern wir uns: Der Film begann mit der Zukunft des Jahres 1962. Wir sind von Anfang an Komplicen des Mehrwissens, Besserwisser.

Und doch: Es ist nur eine Möglichkeit. Die Untoten des Nachkriegs. Wir reden hier von Multiversen.

Die Theorie von Allem (0 Bilder) [1]

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Blick in den Abgrund

Was ist das für ein Film? Es ist der Film eines Regisseurs, der es ernst meint, und der sein Publikum nicht unterschätzt. Der außerdem – und vielleicht hängt beides zusammen – eigenwillig ist.

Das heißt, dies ist natürlich kein Film für jedermann. Dies ist ein Film, der voraussetzt, dass man entweder die Filmgeschichte kennt oder sich von ihr faszinieren lässt. Dass man unter "aktuell" nicht zeitgeistig und zeitgemäß versteht.

Sondern dass man versteht, dass auch der Blick in die Vergangenheit – in eine Vergangenheit mit anderen Werten, mit einer anderen Art zu denken, mit anderen Erfahrungen – uns alle weiterbringen kann. Dass vielleicht gerade dieser Blick ein Blick ist, mit dem wir die Komplexität der Gegenwart bändigen können und viele Probleme der Gegenwart einer Lösung näherbringen.

Insofern ist der Film von Timm Kröger nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine politische und moralische Lektion. Und zugleich geht es diesem Regisseur um Lektionen am allerwenigsten.

Es geht ihm fraglos um Ernst, um einen Ernst, der das Pathos nicht scheut, aber es doch immer wieder ironisch und manchmal auch satirisch bricht. Denn ganz ernst nehmen kann man diese Charaktere natürlich nicht.

Geliebte Geister

Eine Erinnerung aus dem Reich der Schatten. Wie Hitchcocks "Vertigo": Ganz traurig und sehr schön. Dass das Kino nicht etwa die Fakten vor den Geistern errettet, sondern umgekehrt die Geister am Leben erhält oder wiederauferstehen lässt, das hat Friedrich Kittler, der genial-versponnene Medienwissenschaftler, schon vor vielen Jahren geschrieben, und an die Nähe des frühen Films zu spiritistischen Sitzungen erinnert.

Dies ist eine Geschichte über die Toten, die nicht sterben wollen. Über Erinnerungen, die nicht vergehen können. Über das Verdrängte, das immer wiederkehrt. Über Untote. Über geliebte Geister, die mit uns im Raum sitzen.

Ein eigenwilliger Filmemacher

Jetzt kennen ihn alle; jetzt schreiben alle von seinem soghaften Erzählen und den Multiversen - und ganz zurecht. Denn es ist eine großartige, formbewußte, elegante Art und Weise, wie hier erzählt wird. Insbesondere große Komplimente machen muss man im Kameramann Roland Stuprich, einem Meister der Bildgestaltung bei beiden Filmen.

Schon in seinem Erstling "Zerrumpelt Herz [3]", der 2014, obwohl er in Venedig lief, nur von ganz wenigen, zu wenigen, wahrgenommen wurde, zeigte sich Kröger als ein eigenwilliger Filmemacher, der genau weiß, was er will – und was nicht.

"Zerrumpelt Herz" erzählt von drei Bildungsbürgern im Wald der späten 1920er-Jahre und verband spätromantische Musik mit dem Bild einer immer undurchschaubareren, immer geheimnisvolleren Welt. Das Kammerspiel wurde zum Melodram, voller Anspielungen auf deutsche Kulturgeschichte, auf die "Deutsche Trilogie" Viscontis und die Malerei des 19. Jahrhunderts.

Das Ergebnis waren Sehnsuchtsbilder: eine Gothic-Novel aus der Vorgeschichte des Nazismus, der sich aufs Subtilste durch den Film zieht - in Kleidung, Gesten, Sprache, Themen -, und ihn zugleich ins Surreale wendet. Wie eine Kurzgeschichte von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allen Poe in der Filmsprache von Antonioni.

Bei den italienischen Filmkritikern machte "Zerrumpelt Herz" Furore, sie sogen diesen Film auf, sahen darin die Mythen der Heimat von "Doktor Faustus", das Land der Dichter und Denker.

Wie Menschen früher gedacht, geredet und gefühlt haben

Bereits zur gleichen Zeit erzählte Kröger von seiner Idee einer "Trilogie zum deutschen 20. Jahrhundert", und ergänzte, er plane einen Film über Physiker während der Kuba-Krise 1962.

"Ich habe das Gefühl, die Vergangenheit spricht bis heute mit uns."

Es gebe "unverdaute Geister" der Historie zuhauf. Und zugleich trotz aller Filme über vergangene Zeiten keinen Sinn für das eigentlich Historische:

"Was mich oft stört, ist, dass bei uns eine falsche Vorstellung darüber herrscht, wie Menschen früher gedacht haben und wie sie geredet und gefühlt haben."

Tim Kröger ist ein Solitär. Er ist im besten Sinne des Wortes ein spleeniger Regisseur: Seine Filme sind eigenwillig, versponnen, zuweilen auch kauzig. Wenn man sie sieht, schaut man einem Regisseur beim Denken, hin und wieder auch beim Suchen zu.

Und was dabei herauskommt, das ist immer eigenwillig, eigensinnig, individuell, es ist nicht vorhersehbar, wie bei so vielen im deutschen Film. Es sind keine angepassten, dem Erwarteten entsprechenden Statements.

Chaos und Verwirrung einer quantenmechanischen "Vielweltentheorie"

Dieser Film hat eigentlich drei Anfänge und mindestens ebenso viele Enden. Dazwischen liegt eine Geschichte, die sich gradlinig vollzieht, obwohl sie an der Oberfläche zunächst chaotischer und verworrener erscheinen kann, als sie es tatsächlich ist.

Das liegt daran, dass Chaos und Verwirrung, das "Wahrscheinlichkeitsgeschwurbel" – so eine Figur – einer quantenmechanischen "Vielweltentheorie" selbst in ihrem Zentrum stehen.

Doch wer sich dem von Regie und Drehbuch ausgelegten Erzählfaden vertrauensvoll überlässt, wird mit sicherer Hand ins frühe Nachkriegsdeutschland des Jahres 1962 geführt; in ein Land, in dem die Gespenster der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts noch überaus präsent sind.

Es beginnt, wie schon angesprochen, zunächst mit der einzigen Farbpassage dieses Schwarz-Weiß-Films: Eine kurze Szene aus einer frühen Fernsehtalkshow im Jahr 1974: Johannes Leinert, ein mittvierzigjähriger Schriftsteller und studierter Physiker tritt auf, um seinen ersten Roman vorzustellen. Dessen Titel: "Die Theorie von allem".

Leinert macht klar, dass es sich aus seiner Sicht um viel mehr handelt, als um einen Roman; dass nämlich das, was dort zu lesen ist, nicht fantastisch, sondern wahr sei. Schnell wird dieser Auftritt daher zu einem Spießrutenlauf, und Leinert, der öffentlichen Lächerlichkeit preisgegeben, verlässt die Talkshow vorzeitig.

Es folgt eine Schwarzblende, die Leinwand zeigt nun – in Schwarz-Weiß und "12 Jahre zuvor ..." – ein prachtvolles Alpenpanorama im verschneiten Schweizer Graubünden. Vordergründig ein idyllisches Bild, wäre da nicht die beunruhigende Musik, die ahnungsvoll darauf verweist, dass diese Welt nicht lange heil bleiben wird.

Bild: © Neue Visionen Filmverleih

Zwei knapp zehnjährige Kinder, Toni und Susi, spielen im Schnee und nach einer steilen Schlittenfahrt scheint das Mädchen plötzlich verschwunden. Sie hatte in einem Heuschober Zuflucht gesucht, doch in diesem Bretterschuppen verbirgt sich offensichtlich noch mehr.

Ein Schacht, aus dem Licht und merkwürdige Geräusche dringen, die die Neugier der Kinder wecken. Sie trauen sich zögernd immer tiefer hinein, die Musik schwillt bedrohlich an, und plötzlich finden die Kinder etwas, das uns das Bild noch nicht enthüllt ...

Ein Bildungsreisender bricht auf

Nun erst setzt wieder nach einer kurzen Blende in einem dritten Anlauf die eigentliche Filmhandlung ein: Johannes Leinert, jetzt 12 Jahre jünger und noch Student am Hamburger Institut für Theoretische Physik, packt im Haus der Mutter seine Sachen. Die Mutter ist um den Sohn besorgt, zugleich ermutigt sie ihn, auf der bevorstehenden Reise mit seinem Doktorvater gut zu studieren.

Das ganze, zwischen Realismus und Märchenhaftem changierende Setting – ein begabter junger Mann, der wie ein klassischer Bildungsreisender voller Hoffnung aufbricht in die weite Welt, um dort das Fürchten zu lernen und erwachsen zu werden – erinnert nicht zufällig an "Die zweite Heimat" von Edgar Reitz und deren Hauptfigur des Hermännchen, der ebenfalls 1962 ähnlich optimistisch in die Welt hinausgeht.

Diese drei Anfänge sind wichtig und keineswegs zufällig gewählt, denn sie schon stimmen den Zuschauer ein in einen Film, in dem die Ebenen sich immer wieder überlagern und einander konterkarieren.

Gemeinsam mit seinem Doktorvater Professor Julius Strathen reist Johannes dann nach Graubünden. Dort versammeln sich Physiker zu einem Kongress über neueste Fragen der Elementar-Physik, nebenbei läuft man Ski.

Am ersten Tag lernt Johannes die für ihn ungewohnte Welt des Wissenschaftsbetriebs kennen. Er trifft den von Strathen offensichtlich ungeliebten Kollegen Professor Heinrich Blumberg und andere ausländische Physiker.

Besonders gespannt erwartet man den Vortrag eines iranischen Wissenschaftlers, dessen Ankündigung verspricht, alle bisherigen Widersprüche der konventionellen Quantenmechanik beizulegen und eine "Theorie von Allem" vorzulegen. Bald nach Johannes' und Strathens Ankunft wird dieser Vortrag allerdings wegen Ausreiseproblemen abgesagt.

Präzise Einblicke in die Nachkriegs-Bundesrepublik

Vor allem über das spannungsreiche, konkurrierende Verhältnis zwischen Strathen und Blumberg und ihre Gespräche gibt Regisseur Timm Kröger auch einige präzise Einblicke in die realhistorische politische und sozio-kulturelle Situation der Nachkriegs-Bundesrepublik: So wird über Strathen wie Blumberg gesagt, sie hätten beide "gemeinsam unter Heisenberg gedient".

Gemeint ist der weltberühmte Quantenphysiker Werner Heisenberg. Während über Strathen erzählt wird, dieser sei erst 1955 aus den USA zurückgekommen – vermutlich also war er während des Dritten Reichs im Exil – heißt es über Blumberg, dieser habe im Dritten Reich "die hebräischen Strömungen in der deutschen Wissenschaft bekämpft". Blumberg wiederum bezeichnet Strathen als "Rechenschieber von Heisenberg" und einen "frischgebackenen Judenfreund".

Uber allem schweben unausgesprochene Erfahrungen von Weltkrieg und Bombenangriffen, Vertreibung und Völkermord, neuer Demokratie und uraltem Antisemitismus.

Verschwörung und Vielweltentheorie

Strathen ist ein phlegmatischer Skeptiker, der jeden "spekulativen Quatsch" verachtet, Blumberg wiederum ermuntert solche Spekulationen bei Johannes und dessen "potentiell revolutionäre Ideen".

Gerade dadurch wird er für den unter seinem für solche Ideen komplett ignoranten Doktorvater leidenden Studenten zur Inspiration. Mehr und mehr streift der junge Doktorand seine anfängliche Schüchternheit ab.

Das liegt auch an seiner Bekanntschaft mit der Pianistin Karin, von der er sofort fasziniert ist, zumal diese über rätselhaftes Wissen verfügt, insbesondere über ihn Dinge zu wissen scheint, die nur er selbst kennen kann, oder die gar in der Zukunft liegen.

Als an einem der nächsten Tage Blumberg erst abreist, dann tot aufgefunden wird und später wieder lebend erscheint, als Karin, nachdem sie eine Nacht mit Johannes verbracht hat, unversehens wieder kühl und abweisend wird, steigert sich Johannes' Verwirrung zusehens. Er glaubt, einer Verschwörung auf der Spur zu sein.

Oder wird er verrückt? Oder wird hier und jetzt einfach die "Vielweltentheorie" der Quantenphysik wahr?

Die deutsche Antwort auf "Oppenheimer"

Wenn wir uns in einem Grand Hotel in der Schweiz in verschneiter Berglandschaft aufhalten, darf man durchaus an den Zauberberg denken.

Man könnte hier von der Wiederverzauberung des Zauberbergs sprechen – auch weil viele von uns tatsächlich in einem Kino in den letzten Monaten schon einen Vorbereitungsfilm auf diesen deutschen Film gesehen haben.

Nämlich "Oppenheimer" von Christopher Nolan. Denn darin geht es ja nicht nur um den Bau der Atombombe, sondern auch um Kernphysik und Quantenmechanik und Kernspaltung, so wie hier.

Der angekündigte Vortrag über die Theorie von Allem meint natürlich mindestens den Glauben, dass man mit der Quantenmechanik so etwas wie die Weltformel gefunden hat.

Menschen, die daran glauben und daran forschen, sind vielleicht Genies. Vielleicht sind sie aber auch ein bisschen wahnsinnig. Und genau auf dieser Schwelle zwischen Genie und Wahnsinn bewegt sich der Film.

"Die Theorie von Allem" erscheint nicht weniger, als die deutsche Antwort auf Christopher Nolans "Oppenheimer" zu sein. Und der "Nolan-neskere" der beiden Filme. Weil ja Christopher Nolan tatsächlich die Methode hat, die Chronologie konsequent zu stören und aus dieser Störung heraus vollkommen neue Erzählweisen zu entwickeln.

Sein "Oppenheimer" ist allerdings ein ziemlich linearer Film, während der Film von Tim Kröger tatsächlich nicht so linear ist.

Beide handeln von der Verbindung von Wissenschaftsgeschichte, Atomphysik und der Situation des Kalten Kriegs. Im Gegensatz zu Nolans Film erzählt Kröger aber nicht gradlinig, sondern verschachtelt, ambivalent, auf mehreren Ebenen – und zeigt eben damit die einmalige Macht des Kinos.

Die Leinwand gibt auch kompliziertesten physikalischen Formeln unmittelbar sinnliche Gestalt, sie hält Widersprüche aus, und fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach Überzeugungskraft.

Die Quantenmechanik ist die Theorie von Allem.

Einflüsse

Filmhistorisch und stilistisch ist "Die Theorie von Allem" eine Fundgrube für Filmkenner, die ihre soghafte Wirkung auch dadurch entfaltet, dass Zitate und Anspielungen integraler Teil des Bildertextes sind. Dies ist ein Paranoia-Thriller mit Mysteryelementen, stark vom Kino der 1940er- und 1950er-Jahre beeinflusst.

Namentlich von Carol Reeds "Der dritte Mann" und "Nachtzug nach München", ebenso wie von anderen Film-Noirs, sowie von polnischen Filmen des Kalten Kriegs (etwa Jerzy Kawalerowicz' "Pociaq" ("Nachtzug")). Kameramann Roland Stuprich gelingt ein prachtvolles Schwarzweiß, das Erinnerungen an den Film-Expressionismus wachruft.

Einflüsse von Hitchcock sind auch über die Verwendung bestimmter Musik-Stücke von Bernard Herman erkennbar, der Einfluss von Reitz' "Zweiter Heimat" ist so offensichtlich wie die der Filme von Helmut Käutner und Wolfgang Staudte, aber auch jener von David Lynch.

Viele andere Bezüge wird man ebenfalls finden. Die Charaktere, die diesen Film bevölkern, sind aber weniger Archetypen als moderne Menschen.

In der besonderen Sensibilität für wie dem Einsatz von Musik, als auch in den Verbindungen klassisch-zeitloser wie moderner Stil-Elemente zeigt sich bereits im zweiten Spielfilm Timm Krögers die unverwechselbare Handschrift dieses Regisseurs, der mit diesen beiden Filmen zu allen Hoffnungen Anlass gibt.

Das liegt daran, dass dieser Regisseur, aber keiner Schule oder erkennbaren Gruppe angehört, sein Filmemachen offensichtlich ernst meint, viel ernster als einige andere deutsche Kollegen.

Wege der Welterzeugung

Wie jedes gute Kino stellt dieser Film Sinnfragen. Er versucht in unterhaltsamer Form die Wirklichkeit zu begreifen und uns Auskünfte über sie zu vermitteln. Und er versucht, die Vergangenheit zu verstehen. Kröger, der diesen Film schon vor Jahren als zweiten einer Trilogie zum deutschen 20. Jahrhundert beschrieben hatte, holt geschichtsphilosophisch weit aus.

Er lässt vergangene Zeiten im Kino wiederauferstehen, aber als soghafte sinnliche Erfahrung, nicht nur historisch bebildert.

Es ist die Logik des Traums, die hier dominiert und die aus Leitmotiven ein immersives Gesamtbild komponiert.

Am Ende von "Die Theorie von allem" schreibt sich Kröger dann auf sehr originelle Weise in die deutsche Kinogeschichte ein, wie in die des europäischen Autorenfilms.

Das Publikum hört dann einen Off-Text, der die Geschichte des Protagonisten in einer möglichen Weise weitererzählt und der von dem Regisseur Dominik Graf gesprochen wird. Eine Art Nouvelle-Vague-Moment, ein Truffaut-Echo, zugleich in einer spezifisch deutschen Version.

Es lohnt sich übrigens unbedingt, diesen Film mehr als einmal zu sehen – man wird immer wieder einen neuen Film entdecken eben die Vielweltentheorie –, Timm Kröger betreibt Filmemachen als das, was Nelson Goodman die "Weisen der Welterzeugung" nannte; er ist ein Welterzeuger, ein Weltenbauer.

Magie des Kinos

Als Johannes dieses eigenartigste, unsagbarste Kapitel seines kleinen Lebens vor sich sah, schlecht imaginiert, noch schlechter umgesetzt, vollzog etwas in ihm einen unwiderruflichen Bruch mit der Außenwelt.

Die Theorie von Allem

Was soll man von all dem nun halten? Im Film selbst angelegt sind mehrere Interpretationen, unter anderem auch die, dass alles, was wir sehen, sowieso "nur" die Fantasie der Hauptfigur ist, beziehungsweise die Verfilmung seines Romans.

So zum Beispiel, wenn uns die Titelmusik der Talkshow zum Eingang bald im Film beim ersten Konzert im Speisesaal des Grand Hotels wieder begegnet – dies ist die Logik des Traums, die aus Leitmotiven ein immersives Gesamtbild zusammenkomponiert. Wie in "Vertigo".

Der Film hat ein intensives Verhältnis zur Geschichte, besonders der deutschen. Auch das Verhältnis zur Ästhetik ist eigen. Er hat eine Idee von dem, was deutsch ist: Expressionismus, Romantik, Unklarheit, philosophisches Geschwurbel, der Wald und die Berge... So funktioniert "Die Theorie von Allem" wie ein ausländischer Blick auf Deutschland.

Er zeigt einem eine Welt, in der man sich gerne aufhält. Es gibt einfach unendlich viele Welten und in irgendeiner ist dies eben wahr. Das ist im Prinzip die Magie des Kinos.

Man darf diesen Film nicht nur ernst nehmen, auch wenn es, wie gesagt, Tim Kröger ganz ernst meint.

Nur der Film kann uns retten ...

Dem naheliegendem Vorwurf, "Die Theorie von Allem" wolle zu viel, sei zu ehrgeizig, muss man entgegnen, dass das deutsche Kino allzu lange ambitionslos darniederlag und einen Film, der endlich mal viel, oder gar "alles" will, unbedingt begrüßen müsste. Kleinere Schwächen, ein erzählerisches "Durchhängen" im Mittelteil ist vor diesem Hintergrund mehr als verzeihlich. Man kann gar nicht ehrgeizig genug sein.

Insgesamt gelingt Kröger und seinem Team mit "Die Theorie von Allem" ein Werk von bestechender Schönheit und einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme seit Jahren.

Worin besteht der Sinn dieses Films?, fragen manche. Dies ist wenigstens ein Film. Herausstehend im Einerlei, nicht nur dem deutschen.

Nur der Film kann uns retten ...


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