"Physiologisch gesehen sind Frühgeborene wie Leichen"

Seite 2: "Unterernährte, dumme und verkeimte Kinder"

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Ein weiterer Arzt berichtet: "Seine Therapie fußt auf Laborwerten. Ob ein Frühgeborenes schwer atmet, unruhig ist, schreit oder Schmerzen hat, scheint M. nicht sonderlich zu interessieren. Alles dreht sich um messbare Daten." Aktiv würde dem Kind dadurch nicht geschadet. "Geschadet wird durch Unterlassung." Schmerztherapie beispielsweise gäbe es in der Kinderklinik Harlaching "sehr selten".

Die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Harlaching gehört zum Städtischen Klinikum München. Sie steht unter hohem finanziellen Druck. Foto: Ulrike Duhm.

Wissenschaftliches Spezialgebiet des Professors ist die Ernährung von Frühgeborenen. "Alles geht streng nach Formel: 17 Gramm Nahrung pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag. Auch wenn die Kinder spucken und kotzen", sagt eine Schwester. Die individuellen Bedürfnisse der Kinder würden "ignoriert". Die Frühchen auf der Station wären "ständig so abgefüllt, dass sie kein Hungergefühl mehr entwickeln" würden. Vor seinem Dienstantritt hätte die Klinik nur "unterernährte, dumme und verkeimte Kinder" entlassen, soll der Chefarzt gesagt haben. Die Klinik dementiert.

Auch würde der Chefarzt, so erzählt eine Pflegerin, mit der Kamera auf der Station umhergehen, und Neugeborene fotografieren, oft auch nachts. "Grade war das frisch geborene Kind zur Ruhe gekommen. Da erschien der Chefarzt mit einer Familienangehörigen. Spot an. Grelles Licht auf das Kind. Sie öffnete die Inkubatorklappe und er knipste los."

Putative Nothilfe

Seit Anfang 2013 hätte sich die Situation auf der K9 sukzessiv verschlechtert: "Zeitweise", berichtet eine Pflegekraft, "waren einer Schwester fünf bis sechs Intensivpatienten zugeteilt." Das sei "höchst fahrlässig". Gesprächsversuche mit dem Chefarzt hätten nichts gebracht. Überlastungsanzeigen an die Klinikleitung wären ohne Resonanz geblieben.

Das Pflegeteam hätte sich daraufhin an Klinikchefin Elizabeth Harrison gewandt: In einem Schreiben vom 20. März teilten die Schwestern mit, sie wären nicht mehr in der Lage, ihre "Sorgfaltspflicht" gegenüber den Patienten zu erfüllen. Sorge würde den Schwestern auch die "Fluktuation erfahrener Ärzte" bereiten. Weitere Schreiben des Pflegeteams an die Geschäftsführung folgten.

Die Klinikleitung nahm die Hilferufe nicht wahr. Pflegekräfte, die Kritik übten, fühlten sich von ihren Vorgesetzten "zunehmend bedroht oder nicht gehört". Zur ehemalige Stationsleiterin der Frühchenstation hätte Harrison gesagt: "Noch so ein Brief und Sie sind weg." Die Klinik dementiert das und verweist auf diverse "interne Möglichkeiten für kritisches Feedback" sowie Betriebsvereinbarungen über "Kommunikation und Eskalation" und "partnerschaftliches Verhalten zum Schutz vor Mobbing".

Auf diesem Nährboden kam es am 31. Juli zur Nothilfe: "Wir konnten es nicht verantworten, tatenlos zuzusehen", sagt eine Schwester und spricht damit für das ganze Pflegeteam. Der Brandbrief sei "letztes verzweifeltes Mittel" gewesen, um "ein Verhalten zu beenden, das in unserer Wahrnehmung Wohlergehen und Gesundheit von Kinder gefährdet".

Rückblickend hätten sie allerdings anders formuliert: "Wir wollten keinen Kausalzusammenhang zwischen medizinischer Behandlung und dem Tod von Frühgeborenen herstellen. Bei sehr kleinen Neugeborenen lässt sich schwer sagen, was ursächlich für den Tod ist."

"Zweierlei Maß"

Die Kündigungen kamen prompt. Sechs der zwanzig Schwestern wurden entlassen. Als Begründung wurden "schwerwiegende Verstöße gegen arbeitsvertragliche Pflichten" angegeben. Auch der Betriebsratsvorsitzende sollte gefeuert werden. Der Betriebsrat hat das jedoch verhindert.

Der Anwalt der gekündigten Schwestern, Gerhard Rieger, hat Kündigungsschutzklagen eingereicht. Die Erfolgsaussichten beurteilt der Münchner Fachanwalt für Arbeitsrecht als sehr gut. Der Arbeitgeber habe "aus unsachlichen Gründen zweierlei Maß" angelegt: Ein Teil der Pfleger wurde gekündigt, der andere abgemahnt. Das Schreiben, das die Kündigung auslöste, sei jedoch "von allen zu gleichen Teilen" erstellt worden. "Da hat wohl der Chefarzt entschieden, wen er nicht mehr sehen möchte", so Rieger.

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