"Physiologisch gesehen sind Frühgeborene wie Leichen"

Seite 3: Die Sachverständigen

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Das Klinikum schaltete die Staatsanwaltschaft ein und beauftragte den Gutachter Egbert Herting - er ist Präsident der Gesellschaft der für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin sowie Ordinarius der Uniklinik in Lübeck -, die medizinische Versorgung in der Kinderklinik zu prüfen. Im August veröffentlichte das Klinikum dazu die Pressemitteilung "Gutachter entlastet Chefarzt".

Das Pflegeteam übergab eine erweiterte Dokumentation zu den Vorfällen auf der K9 an die Staatsanwaltschaft. Ein neues Gutachten wurde in Auftrag gegeben. Als Sachverständiger wurde wieder Egbert Herting bestellt, aus "verfahrendökonomischen Gründen" wie Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch sagt.

Das fertige Gutachten liegt nun vor. Im Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft heißt es dazu: "Die Vorwürfe etwaiger Behandlungsfehler, wurden durch die Sachverständigen Prof. Dr. Herting, Prof. Dr. Göpel und Priv.-Doz. Dr. Härtel anhand der Behandlungsunterlagen sowie einer Klinikbegehung durch Prof. Herting überprüft."

Professor Egbert Herting ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Campus Lübeck des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. Die beiden anderen Sachverständigen - Prof. Dr. Wolfgang Göpel und Dr. Christoph Härtel - sind seine Mitarbeiter: Oberärzte am selben Klinikum.

Akten von Toten

Im Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft steht: "Die Sachverständigen gelangten zu dem Ergebnis, dass Behandlungsfehler nicht feststellbar seien und die Behandlung als solche nicht zu beanstanden sei. Es sei jedoch ein bestehendes Kommunikationsdefizit gegeben." Weiter heißt es: "Kommunikationsdefizite sowie etwaige Aussagen wie 'Frühchen sind wie Leichen' stellen kein strafrechtlich zu ahndendes Fehlverhalten dar, auch wenn hieraus zwanglos eine letztendlich schädliche Belastung des Betriebsklimas mit negativen Auswirkungen für Mitarbeiter und Patienten resultieren kann." Und: "Auch das monierte Fotografieren der behandelten Patienten begründet keinen Anfangsverdacht für eine Straftat."

Von den Sachverständigen begutachtet wurden Akten von Toten und aktuelles Stationsgeschehen.

Die Sachverständigen begutachteten Akten von Verstorbenen. Die Pflegefachkräfte wurden zu den monierten Vorgängen nicht befragt. Foto: Ulrike Duhm.

Die Staatsanwaltschaft München I hat die Sache zu den Akten gelegt. Da kein Anhaltspunkt für eine verfolgbare Straftat bestehe, so Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch, "haben wir die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abgelehnt und die Vorprüfungen damit beendet".

Chefarzt M. wird vom Klinikum mit diesen Worten zitiert: "Mir lag und liegt das Wohl der Kinder und Eltern am Herzen. Ich bedaure sehr, dass es zu den haltlosen Vorwürfen gegen mich gekommen ist. Ich bin aber sehr sicher, dass mit den eingeleiteten Maßnahmen ein Neuanfang möglich ist, getragen von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung."

Das Gutachten

Was im Gutachten steht, weiß außer Verfasser, Klinikspitze und Staatsanwalt wohl niemand. Dem Aufsichtsrat des Klinikums und dem Münchner Stadtrat wurde es nicht zugänglich gemacht - "aus Gründen des Datenschutzes und der ärztlichen Schweigepflicht", wie Kliniksprecher Raphael Diecke sagt.

Nur zwei Sätze aus dem Gutachten sind wörtlich bekannt: allgemeine Aussagen über Sterblichkeit und Therapiestandards im Kinderklinikum. Die Pressemitteilung des Klinikums vom 10. Oktober zitiert sie wie folgt: "Die Ergebnisqualität in der Neonatologie in Harlaching ist im Hinblick auf die Sterblichkeit sicher als überdurchschnittlich zu betrachten." Und: "Insgesamt lässt sich sagen, dass Therapiestandards im Bereich der Versorgung kleiner Frühgeborener angewandt werden, die dem aktuellen Wissenstand und derzeit gültigen Leitlinien entsprechen."

Der Rest ist Konzernverlautbarung: "Gutachter entlastet Chefarzt von allen Vorwürfen", teilt die Klinik mit. "Alle medizinischen Vorwürfe", die von den 20 Pflegefachkräften gegen den Chefarzt erhoben worden seien, wären "haltlos", sagt die Klinik. Eine "lückenlose Sachverhaltsaufklärung" hätte stattgefunden. Weiterhin heißt es: "Weder die gutachterliche Überprüfung der Patientenakten, noch die Begutachtung der Patientenbehandlung vor Ort in der Kinderklinik in Harlaching ließen ein medizinisches Fehlverhalten erkennen."

"Akten vorübergehend nicht auffindbar"

Die gekündigten Pflegekräfte verstehen die Welt nicht mehr. Zu keinem Zeitpunkt hätte der Gutachter sie zu den im Brandbrief monierten Vorgängen befragt. "Wir Schwestern wurden nur kurz und nach unserem Empfinden nicht ausreichend befragt", berichtet eine Pflegekraft. Der Gutachter sei an einem Vormittag mitgelaufen und habe das Stationsgeschehen beobachtet. "Er erkundigte sich, wie wir im Früh- und Nachtdienst besetzt seien, und wollte wissen, wie viele Kinder wir zu versorgen hätten." Er hätte "allgemeine Fragen" gestellt. Zum kritischen Thema "rektales Anspülen" hätte der Gutachter lediglich wissen wollen, ob Arzt oder Schwestern diese Aufgabe übernähmen.

"Es geht nicht um Todesfälle", sagt eine Schwester, "sondern darum, dass es seit Monaten vielen Kindern auf der Station schlechter ging. Der Gutachter hat Papiere verstorbener Patienten gelesen und den aktuellen Stationsbetrieb beobachtet. Was jedoch das Pflegepersonal in den letzten Monaten beobachtet hat, ist offensichtlich nicht von Interesse."

Laut Auskunft eines Oberarztes des Klinikums wären auch "mindestens zwei der drei Oberärzte der Neugeborenen-Intensivstation sowie Assistenzärzte vom Gutachter nicht befragt" worden. Neugeborne können nicht sprechen. Wie aber will man vergangene Behandlungen beurteilen, wenn man nicht mit dem Personal darüber redet? "Der Staatsanwaltschaft", so der Oberarzt, "ging es offenbar nur um die Fälle mit Todesfolge."

Dass eine "lückenlose" Aufklärung stattgefunden habe, bezweifeln die Schwestern auch aus anderem Grund: Laut Auskunft der Pflegekräfte seien am ersten Augustwochenende "Akten vorübergehend nicht auffindbar" gewesen und einzelne "Behandlungsmaßnahmen vom Chefarzt nicht dokumentiert" worden. Beide Vorwürfe dementiert die Klinik.

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