Plagiate und das Internet
Oder warum man Studenten zum Plagiieren ermuntern sollte
Was ich sagen, oder, genauer gesagt, schreiben werde, wird ohne Zweifel viele schockieren, vor allem wenn man meinen Beruf und Hintergrund als Autor und als Lehrer mit einbezieht. Erlauben Sie mir daher eine Erklärung.
Erzieher stehen in Ungarn an einer Schwelle, an der sie den Studenten ein Maximum an Wissen und Geschick, das in der Eile und Schnelligkeit der heutigen Welt erforderlich ist, zur Verfügung stellen können.
Die Informationstechnologie, vor allem die Verwendung der unterschiedlichen Netzwerkzeuge wie das WWW, FTP (file transfer protocol), gopher, etc. oder die einfache Email, besitzt das Potential, die Standards und die Qualität der Ausbildung in der Region zu steigern - trotz einer aus Budgetkürzungen und Downsizing resultierenden Krise, der sich viele Lehrinstitutionen in Zentral- und Osteuropa gegenübersehen.
Leider stehen die Lehrer Computern im Klassenzimmer noch immer skeptisch gegenüber, auch wenn der Minister für Erziehung und Kultur in Ungarn ambitionierte Pläne hat, die weiterführenden Schulen bis zum Ende des Jahrhunderts ans Internet anzuschließen. Die meisten dieser Lehrer arbeiten seit mindestens 15 Jahren auf diesem Gebiet und fast keiner von ihnen nutzt die ihm zugänglichen Möglichkeiten der Netze. Die Mythen, die sie über das Internet kennen, also daß es ein Pfuhl der Anarchie und Pornographie sei, verschlimmern die Situation noch.
Die universitären Institutionen Ungarns sind dank der Ignoranz der Lehrer angefüllt mit ungenutztem Potential. An der englischen Fakultät der größten Universität für Kunst und Geisteswissenschaften (ELTE) in Budapest wehrten beispielsweise die Lehrer den Vorschlag eines Studenten ab, eine Datenbank von Essays anzulegen, die für die Studenten über das Internet zugänglich wäre.
Die Nützlichkeit des Computers als Hilfsmittel beim Lernen wurde unlängst von einem Lehrer in einem Fortbildungszentrum in Budapest mit Telefonsex verglichen. Außerhalb von Budapest, wie in Miskolc (Ostungarn) oder Veszprem (Süd-West Ungarn), haben die Studenten nur eine verschwommene Vorstellung davon, daß sie eigentlich einen Internet-Zugang besitzen.
Viele Lehrer haben Angst vor Computern oder dem Internet, da sie der Meinung sind, daß diese es den Studenten das Kopieren von Essays oder Prüfungsbögen zu leicht machen. Ironischerweise haben genau diese Lehrer mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit ihre Diplome und andere Abschlüsse durch Abschreiben bekommen. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß über 80% der in diesem Land produzierten intellektuellen Arbeit bewußt oder unbewußt abgeschrieben wurde. Ausländische Lehrer in Ungarn sind erstaunt darüber, wie weit verbreitet diese Praxis ist.
Studenten fällt es schwer, das Problem des Plagiierens ernst zu nehmen, wenn sie sehen, daß die Regeln schamlos von denen gebrochen werden, die sie anmahnen. In einem Fall verlor eine Studentin den Glauben an das Lehrsystem, als ihr Ausbilder sie vor dem Abschreiben warnte, während er ihr ein Beispiel aus seiner eigenen Dissertation vorhielt, das ganze Auszüge aus einem Buch enthielt, das die Studentin kannte. In einem anderen Fall setzte der Chef einer Fakultät (der auch Dekan war) seinen Namen als Co-Autor eines Handbuches ein, das von einem ehemaligen Kollegen (einem Ausländer, der nicht mehr in Ungarn lebte) geschrieben worden war, ohne daß er das geringste damit zu tun gehabt hätte.
Es gab vergebliche Versuche von Lehrern (vor allem von ausländischen Gastlehrern) eine Art Richtlinie für Plagiate einzuführen. Plagiate sind in dem System so verbreitet, daß nur eine radikale Aktion die nötigen Änderungen führen könnte. Der einzige Weg dies zu tun, scheint im Einsatz eines hybriden Ansatzes von Camus und Descartes zu liegen, den man am besten als "reductio ad absurdum" beschreiben kann.
Der Wert eines solch radikalen Ansatzes liegt nicht unbedingt in der Reform der Lehrstandards in Ungarn, sondern vielmehr in der Tatsache, daß den Studenten eine umfassende Lehre, nämlich der Gebrauch der Informationstechnologie, zuteil würde. Daraus folgend würde er auch den Lehrern den Anstoß geben, Computer als Lehr- und Lernmittel in Betracht zu ziehen. Im Gegenzug wären sie dann in der Lage, die Vorteile des Internet zu erkennen, mit dem nicht nur die Zugriffsmöglichkeiten der Studenten auf Lernmittel vergrößert werden, sondern auch ihre eigene Arbeit sehr viel einfacher würde. Zum Beispiel müßten sich die Lehrer nicht mehr lange überlegen, ob eine Arbeit abgeschrieben ist oder nicht, um dann die Bibliotheken nach dem Buch, aus dem die Information entnommen wurden, zu durchsuchen. Dank dem Internet kann solches Material mit dem Gebrauch der passenden Suchbegriffe innerhalb von Minuten gefunden werden. Natürlich würde das bedeuten, daß die Lehrer in der Anwendung von Informationstechnologien geschult werden müßten, was viele fürchten. Einem alten Hund kann man, wie man so schön sagt, keine neuen Tricks mehr beibringen - oder höchstens einigen von ihnen.
Die Lehrer in Ungarn wollen nicht verstehen, daß die Studenten, die plagiieren wollen, ihre Spuren sehr viel genauer verwischen müßten, wenn sie selbst geübter im Umgang mit den Netzwerkzeugen (z.B. den Internet-Suchmaschinen) wären. Sie müßten das Material aus einem größerem Angebot von Quellen kopieren und einige Passagen neu schreiben, um so Worte und Sätze besser zu verstecken. Am Ende könnte solch ein Prozeß dazu führen, daß die Studenten Originalarbeiten verfassen.
Dieser Prozeß wurde am eindrücklichsten von Arthur Koestler in seinem Buch "Geist in der Maschine" beschrieben. Er behandelt darin das allgemein bekannte Problem des zwanghaften Lügens bei kleinen Kindern und kommt zu der kühnen Behauptung, daß Lügen ein Ausdruck von Kreativität sei. Wenn man dem Kind nicht droht oder die Autorität benützt, es damit zu konfrontieren, wenn es lügt, sondern statt dessen versucht, die einzelnen Ungereimtheiten des Märchens hervorzuheben, wird sich das Kind seiner Taten bewußt, während es gleichzeitig die Möglichkeit erhält, seine Absichten zu erklären. Wenn das Kind dann älter wird, kommt es möglicherweise zu dem Schluß, daß es einfacher ist, die Wahrheit zu sagen, als sich damit abzumühen, sich eine glaubwürdige Lüge auszudenken.
Bei den Plagiatoren könnte dies auch funktionieren. Es ist sehr viel mehr Arbeit, ein guter Plagiator als etwas selbst zu machen. Zu diesem Schluß werden die meisten Studenten nach einer Weile kommen. Außerdem geht es im Zuge dieses Erkenntnisprozesses darum, was die Lehrer den Studenten, die eine Seminararbeit oder ein Thesenpapier geschrieben haben, an erster Stelle vermitteln, d.h. sie sollen eine große Vielzahl an Quellen herankommen und die Informationen in ihren eigenen Worten wieder geben. Daher sollten Studenten nicht deshalb bestraft werden, weil sie abgeschrieben haben, sondern weil sie es so schlecht getan haben.
Aus dieser Perspektive gibt es ein Problem, das angesprochen werden sollte (oder wenn es schon angesprochen wurde, dann sollte dies noch deutlicher geschehen). Es ist nicht nur für die Lehrer, sondern für alle, die Informationsvermittler werden oder dies schon sind, wichtig. Das sind Menschen, die Erfahrung und Geschicklichkeit im Umgang mit Informationstechnologien besitzen und dieses Geschick dazu nutzen, Informationen für andere Personen zu erhalten, sei es für einen Klienten (gegen Gebühr) oder für einen Freund (ohne Gebühr). Das fragliche Problem hat etwas mit der Ethik der Vermittlung von Informationen zu tun: Sollten Informationsvermittler ( Lehrer, Profis oder was auch immer) nur mit dem Zugang zu Informationen und deren Auffinden zu tun haben, um so ihren Klienten zu helfen, das zu erhalten, was sie brauchen, ohne dabei die Auswirkungen zu berücksichtigen, die der Gebrauch (oder Mißbrauch) solcher Informationen nach sich ziehen könnte?
Nachdem man über diese Frage nachgedacht hat, kommt man zum Schluß, daß das Vermittlungsgeschäft von Informationen unter die gleiche Kategorie fällt, unter der man etwa auch Anwälte finden kann. Anwälte arbeiten unter Vertrauensgesichtspunkten für ihren Klienten, und es ist ihre Aufgabe, auch wenn sie Vorschläge machen können, letztendlich die Interessen ihres Klienten zu vertreten. Geht man noch weiter, so ist die Rolle eines Lehrers - im Gegensatz zu einem kommerziellen Informationsmakler - ein wenig anders, eher wie die eines Arztes, der den hippokraktischen Eid ablegen muß, bei dem die Rettung eines Lebens das vorrangige Ziel sein muß. Dementsprechend ist das vorrangige Ziel oder der hippokratische Eid eines Lehrers, die Studenten mit dem nötigen Geschick und Wissen für ihre Zukunft auszustatten.
In Ungarn ist genau diese Zukunft gefährdet. "Es ist nichts falsch an einem Verkehrsgesetz", wie Martin Luther King einmal sagte," das besagt, daß man an einer roten Ampel anhalten muß. Aber wenn ein Feuer ausbricht, dann überfährt der Wagen der Feuerwehr diese rote Ampel und der normale Verkehr geht besser zur Seite. Oder wenn ein Mann am Verbluten ist, dann überfährt die Ambulanz dieses rote Licht mit höchster Geschwindigkeit." Wir haben, mit anderen Worten, eine Pflicht gegenüber unserem Gewissen. Die Studenten zum Plagiieren zu ermuntern, ist dabei eine Strategie für eine erzieherische Reform oder gewissermaßen für einen gesellschaftliche Veränderung, die so kraftvoll ist wie ein Krankenwagen, sobald dessen Sirenen aufheulen und seine Lichter sich zu drehen beginnen.
Anmerkung: Dieser Artikel kann von ungarischen Studenten nur für nicht.kommerzielle und akademische Zwecke abgeschrieben werden. Ansonsten wenden Sie sich bitte an meinen Herausgeber oder schicken mir Geld.