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Plagiate und das Versagen von Bibliotheken, Verlagen und TĂ€tern

Jochen Zenthöfer

Jochen Zenthöfer, geb. 1977, ist freier Journalist und berichtet seit vielen Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) ĂŒber Wissenschaftsplagiate. Bild: privat

Mit dem Entzug des akademischen Grades ist die Verantwortung nicht erfĂŒllt. Hochschulen mit unterschiedlicher Praxis. Listen bei Vroni Plag. Ein Buchauszug.

Ist eine Doktorarbeit als Plagiat erkannt und der Grad, oft nach gerichtlichen Auseinandersetzungen, entzogen, ist die Verpflichtung einer UniversitĂ€t keineswegs erfĂŒllt. Die UniversitĂ€t hatte die Qualifikationsarbeit, oft eine selbstĂ€ndige Schrift, in den bibliographischen Angaben ihres Bibliothekskatalogs ursprĂŒnglich als "Dissertation" gekennzeichnet. Das ist nun zu korrigieren.

ZusĂ€tzlich wĂ€re eine Information der Öffentlichkeit, oder zumindest ein Hinweis in Bibliothekskatalogen, denkbar, der ĂŒber das Plagiat informiert. Unterbleibt dies, perpetuieren sich Plagiate. Die Hochschule hat also eine Informationspflicht.

Im Januar 2021 befragte ich dazu fĂŒr die FAZ den Direktor der UniversitĂ€tsbibliothek MĂŒnchen, Klaus-Rainer Brintzinger, als Sektionsvorsitzenden im Deutschen Bibliotheksverband. Er sagte, Bibliothekskataloge seien keine Verzeichnisse gĂŒltiger Dissertationen.

"Es besteht kein Anspruch darauf, dass das, was in den Katalogen steht, wissenschaftlich gesichert oder strafrechtlich unbedenklich ist. Bibliothekskataloge sind Findmittel und kein Instrumentarium zur ÜberprĂŒfung wissenschaftlicher ValiditĂ€t oder DignitĂ€t." Vor einiger Zeit hatte sein Verband eine Empfehlung herausgegeben, wonach bei betroffenen Dissertationen der Hochschulschriftenvermerk zu löschen ist.

Jochen Zenthöfer
Plagiate in der Wissenschaft
Wie "VroniPlag Wiki" Betrug in Doktorarbeiten aufdeckt

Das ist jene Information, die im Katalog meist mit den Worten "Zugleich Dissertation [...]" beginnt. Durch die Löschung des Vermerks ist der Titel noch auffindbar, aber nicht mehr als Qualifikationsschrift gekennzeichnet. Problematisch ist jedoch, dass diese Korrektur nur im eigenen Bibliothekskatalog und den im eigenen Verbund angeschlossenen Katalogen sichtbar wird.

In Deutschland existieren derzeit aber fĂŒnf große Kataloge. Versuche, einen einheitlichen nationalen Katalog einzufĂŒhren, scheiterten in der Vergangenheit am föderalen Beharrungsvermögen der LĂ€nder. Hinzu kommen Kataloge in anderen Staaten, die eine Dissertation ebenso erwerben und fĂŒhren könnten. Außerdem gibt es Privatbibliotheken.

Der Leiter der Kölner Forschungsstelle fĂŒr Medienrecht, Rolf Schwartmann, veröffentlichte im September 2018 ein Rechtsgutachten zur "datenschutzrechtlichen ZulĂ€ssigkeit der Kenntlichmachung des Entzugs eines Doktorgrades in (Online-)Bibliothekskatalogen". Das Gutachten entstand unter Mitarbeit von Maximilian Hermann und Robin L. MĂŒhlenbeck. Zentrale Frage war, ob ein Entzugshinweis in Bibliothekskatalogen datenschutzrechtlich zulĂ€ssig ist. Dies bejahen die Autoren. Dabei gehen sie sogar noch weiter. Ein Entzugsvermerk "Doktorgrad entzogen durch [...] am [...]", der lediglich die allgemeine Information des Entzugs, ohne Angabe des wissenschaftlichen Fehlverhaltens, als Entzugsgrund enthĂ€lt, erfĂŒlle die Aufgabe der Sicherung der IntegritĂ€t der Wissenschaft nicht. "Er sagt nĂ€mlich nichts ĂŒber den wissenschaftlichen Mangel aus, der fĂŒr die Pflege der Wissenschaft aber gerade entscheidend ist. Eine Aussage ohne Bezug zum wissenschaftlichen Fehlverhalten liegt nicht im Aufgabenbereich einer Hochschule."

Erst durch einen Hinweis auf das Bestehen eines wissenschaftlichen Grundes fĂŒr den Entzug des Grades werde die Aufgabe, die im Erhalt der GlaubwĂŒrdigkeit der Wissenschaft liegt, erfĂŒllt.

Umgang mit dem zu Unrecht verliehenen Doktorgrad

Eine neue gesetzliche Regelung brauche es dafĂŒr nicht. Denn "der informierende Vermerk ĂŒber den Entzug wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens in einem Onlinekatalog erweist sich, bezogen auf den rechtskrĂ€ftigen Entzug des Doktorgrades, als notwendige Folgemaßnahme ohne Eingriffsgehalt."

Das Informationshandeln hinsichtlich des Entzugs sei eine Art "Folgenbeseitigung" des zu Unrecht verliehenen Doktorgrades. "Der bereits öffentlich gewordene falsche Schein, es liege ein wissenschaftliches Werk vor, wird wiederum auch öffentlich korrigiert. Durch den informierenden Vermerk werden keine ĂŒber die bereits im Rahmen des Entzugs selbst betroffenen Grundrechtspositionen tangiert."

Das bedeutet: Die Hochschule hat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, ĂŒber den Entzug des Doktorgrades und dessen Grund im Bibliothekskatalog zu informieren. Dies ist kein Eingriff in die RechtssphĂ€re des Betroffenen. Also bedarf es fĂŒr das Informationshandeln als solches keiner expliziten ErmĂ€chtigung.

Schwartmann betont: "FĂŒr die Reinheit der Wissenschaft ist es unverzichtbar, öffentliche Kenntnis darĂŒber zu erlangen, ob ein als wissenschaftlich geltendes Werk auch tatsĂ€chlich wissenschaftlich korrekt erarbeitete Aussagen enthĂ€lt."

Aufgabe der Hochschulen sei es, die GlaubwĂŒrdigkeit der Wissenschaft zu erhalten. Dazu mĂŒssten Arbeiten, die einen inhaltlich- wissenschaftlichen Makel aufweisen, gekennzeichnet werden.

Es sei Forschern, aber auch der IntegritĂ€t der Wissenschaft, nicht zuzumuten, unwissentlich auf Ergebnisse aufzubauen, die den Makel des rechtskrĂ€ftigen Entzugs des akademischen Grades tragen. "WĂ€hrend beispielsweise der Entzug einer Fahrerlaubnis nicht öffentlich gemacht werden muss, um den Straßenverkehr zu schĂŒtzen, kann der wissenschaftliche Diskurs eben nur durch die Veröffentlichung geschĂŒtzt werden."

Der Betroffene habe auch nach Ablauf von vielen Jahren kein Recht auf Vergessenwerden. "Jedenfalls solange die betroffene Arbeit verfĂŒgbar ist, kann die IntegritĂ€t der Wissenschaft nur durch den öffentlichen Fortbestand des Entzugsvermerks gewahrt werden. So wie das Plagiat nicht verjĂ€hrt, verjĂ€hrt auch die Pflicht, es öffentlich zu machen, nicht."

Schwartmann muss es wissen. Er ist auch Vorsitzender der Gesellschaft fĂŒr Datenschutz und Datensicherheit.

Von 1887 bis 1987 wurden alle in Deutschland verliehenen Doktor- grade in einem gedruckten Verzeichnis zentral dokumentiert. Diese Verzeichnisse, die auch DDR-Promotionen erfassen, liegen bis heute in LesesĂ€len von UniversitĂ€tsbibliotheken aus. Herausgegeben wurden die BĂ€nde zunĂ€chst von der Preußischen Staatsbibliothek, spĂ€ter von der Deutschen BĂŒcherei in Leipzig.

Eine ursprĂŒnglich geplante digitale FortfĂŒhrung des Projekts scheiterte wohl auch an der steigenden Zahl von Promotionen und den vielen Korrekturen, die vorgenommen werden mussten.

GrĂŒnde waren schon damals TitelentzĂŒge oder verĂ€nderte Familiennamen der immer zahlreicher promovierten Frauen, die geheiratet hatten. Heute gibt es kein zentrales Verzeichnis aller Promotionen.

Es wĂ€re sinnvoll, eine solche Liste zu schaffen, der auch die im Ausland erworbenen Grade zu melden sind. Wenn die Liste online gefĂŒhrt wĂŒrde, könnten auch Entzugsvermerke rasch eingearbeitet werden.

RealitÀt zu Entzugshinweisen

Ob und wie Bibliotheken Hinweise zu Plagiaten und zum Entzug eines Doktorgrades anbringen, ist im föderalen Deutschland sehr unter- schiedlich. Die UniversitĂ€t Erlangen-NĂŒrnberg etwa kennzeichnet vor- bildlich und aus eigenem Antrieb. Andere UniversitĂ€ten bringen solche Hinweise erst nach entsprechender journalistischer Nachfrage an. So schreibt mir die UniversitĂ€t Gießen im April 2021:

Der Doktorgrad wurde Herrn [...] – wie Sie korrekt feststellen – durch die JLU entzogen. Das Verfahren hat im August des vergangenen Jahres seinen rechtskrĂ€ftigen Abschluss gefunden und wurde formell vom zustĂ€ndigen Fachbereich beendet.

Bedauerlicherweise hatte eine diesbezĂŒgliche Information dazu die UB [UniversitĂ€tsbibliothek] nicht erreicht, so dass dort zunĂ€chst keine Aktualisierung vorgenommen werden konnte. Inzwischen ist die entsprechende Datei ĂŒber die Giessener Elektronische Bibliothek (GEB) nicht mehr abrufbar und ein entsprechender Vermerk ist auf der Frontpage zu finden.

Anders verhĂ€lt es sich bei der Berliner Humboldt-UniversitĂ€t, etwa im Fall Sch. und ihrer Dissertation zu "Illness, Media, and Culture – Ein interkultureller Vergleich der Darstellung von Allergien in englischen und US-amerikanischen Lifestyle-Magazinen". Im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek ist zu diesem Werk angemerkt:

Diese Dissertation ist aus rechtlichen GrĂŒnden gesperrt. UrsprĂŒnglich als Dissertation veröffentlicht, Doktorgrad wurde am 12.07.2019 entzogen.

Zwei Zeilen darĂŒber findet sich jedoch ein Link auf den Dokumentenserver der Humboldt-UniversitĂ€t, auf dem die Arbeit bis Redaktionsschluss dieses Buches vorgehalten wird, sogar "kostenfrei zugĂ€nglich", wie es ausdrĂŒcklich heißt (und zutreffend ist). Von einer Sperrung ist nichts zu merken.

Die Humboldt-UniversitĂ€t hat in ihren bibliographischen Hinweisen keine Anmerkung zum Gradentzug angebracht, auch nicht in der Textdatei. Vielmehr steht dort immer noch "Dissertation". Das gilt auch fĂŒr den universitĂ€tseigenen Bibliothekskatalog. Unter "Öffentliche Notizen" steht dort bei der Online-Version lediglich: "kostenfrei". FĂŒr die Version auf Papier ist notiert: "Exemplar ist am Standort". Im Text ist sogar noch die SelbstĂ€ndigkeitserklĂ€rung enthalten: "Hiermit erklĂ€re ich, [Sch.], die vorliegende Dissertation selbstĂ€ndig verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt zu haben."

Als Leserin oder Leser erfĂ€hrt man vom Entzug des Grads ausschließlich aus dem Katalog der Deutschen Nationalbibliothek, und dort ohne Angabe eines Grundes.

Im Fall He. hat die UniversitĂ€t Hamburg folgenden Vermerk in ihren Bibliothekskatalog eingefĂŒgt: "Gilt nicht mehr als Hochschulschrift, 06.10.2017." Allerdings fĂ€llt der Hinweis im unteren Drittel der bibliographischen Angaben kaum auf. Prominenter ist weiterhin diese Information in der dritten Zeile, direkt unter der Verfasserangabe: "Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1997-1998". Dabei steht "Diss." fĂŒr Dissertation.

Fehlende Hinweise in Bibliotheken

Ein Blick in den Katalog der Deutschen Nationalbibliothek zeigt: Dort gibt es keinen Hinweis auf einen Entzug des Doktorgrades. Bei einem Online-BuchhĂ€ndler ist das Werk fĂŒr 55,20 Euro weiter zu er- werben. Die einzige Leserrezension des Bandes enthĂ€lt unter dem Titel "Bestechend scharfe Analyse" dieses Lob:

Besonders hervorzuheben ist die sprachliche PrĂ€zision, mit der [H.] seine umfassende Untersuchung vortrĂ€gt – sicher auch ein Verdienst des fachmĂ€nnischen Lektorats, fĂŒr welches [H.] mit dem Hamburger Philologen [...] einen Experten ersten Ranges verpflichten konnte.

Der Zweitgutachter der Dissertation sagte nach Bekanntwerden der PlagiatsvorwĂŒrfe:

Ich hatte bereits in meinem Zweitgutachten zur Dissertation [des H.] zum Ausdruck gebracht, dass die Dissertation im Wesentlichen nur bereits bekannte Erkenntnisse enthĂ€lt. [...] Ich sehe mich in meiner damaligen, fĂŒr die Beurteilung maßgebenden Annahme getĂ€uscht, dass – mögen auch die Erkenntnisse im Wesentlichen nicht neu gewesen sein – doch die gesamte Darstellung inhaltlich und textlich allein vom Verfasser stammt. Hierin hatte ich die eigene Leistung des Verfassers gesehen. Die Grundlage fĂŒr diese Beurteilung ist vollstĂ€ndig entfallen.

Vroni Plag Wiki hat auf 86,1 Prozent der Textseiten Übernahmen dokumentiert. Dass es sich bei dem Werk um ein teilweises Plagiat handelt, ist aber, auch aufgrund der fehlenden Hinweise in Bibliothekskatalo- gen, kaum bekannt. Das Buch wird weiter munter zitiert, etwa im Jahr 2018 in einer Berliner Promotion.

Auch der Fall Ho. ereignete sich an der UniversitĂ€t Hamburg. Der Doktorgrad wurde 2017 entzogen. Im Bibliothekskatalog der Hoch- schule heißt es: "Gilt nicht mehr als Hochschulschrift", ohne Angabe des Grundes.

Der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek ist in diesem Fall auskunftsfreudiger. Hier heißt es: "Dieses Dokument ist aus rechtlichen GrĂŒnden gesperrt. UrsprĂŒnglich als Dissertation veröffentlicht, Doktorgrad wurde 2017 entzogen."

Warum ist diese Information im Fall Ho. vorhanden, im Fall He. aber nicht? Die Deut- sche Nationalbibliothek wird nicht automatisch ĂŒber GradentzĂŒge informiert. Vielmehr erfolgt das oft eher zufĂ€llig, manchmal auch nur aufgrund eines Hinweises aus der Nutzer(innen)schaft der Bibliothek. Auch ich habe bereits solche Hinweise an die Titelaufnahme (E-Mail: Titelanfragen@dnb.de) gegeben.

Wenn der Gradentzug belegt ist, etwa durch Abschrift eines diesbezĂŒglichen Gerichtsurteils, ergĂ€nzt die Nationalbibliothek ihre bibliographischen Hinweise. Trotzdem ist die Doktorarbeit, ggf. erst nach RĂŒcksprache, weiter verfĂŒgbar. Das halte ich auch fĂŒr richtig. Eine Zensur sollte nicht stattfinden. Zudem muss die ÜberprĂŒfung der PlagiatsvorwĂŒrfe fĂŒr jedermann möglich sein. Deshalb ist es gut, wenn solche Dissertationen, wie alle anderen auch, dauerhaft archiviert bleiben.

Im Fall Ma. hat sich die UniversitĂ€tsbibliothek MĂŒnster eine kreative Lösung einfallen lassen. Zur ursprĂŒnglich online verfĂŒgbaren Doktorarbeit heißt es nun auf dem Dokumentenserver: "Entzug des Doktorgrades 2019. Die Dateien dieses Dokuments sind nicht frei zugĂ€nglich. Bitte nutzen Sie die gedruckte Version." Das hat zur Folge, dass keine Online-Versionen mehr durchs Internet geistern und zitiert werden, die Arbeit aber weiterhin ausgeliehen und gelesen werden kann.

Die VroniPlag Wiki-Mitwirkende und Berliner Informatikprofessorin Debora Weber-Wulff hat eine Liste aller Entzugsvermerke nach EntzĂŒgen wegen Plagiaten erstellt [2].

Die knapp 100 Vermerke enthalten in keinem einzigen Fall den Hinweis auf Plagiate. "Datenschutzrechtlich steht einem Vermerk aber nichts entgegen. Im Sinne der Wissenschaft ist er auch", meint dazu der Datenschutzexperte und Jurist Rolf Schwartmann in der F.A.Z. vom 22. September 2018.

Weber-Wulff fĂŒhrt eine weitere (leider unvollstĂ€ndige) Liste mit Doktorgraden, die unabhĂ€ngig von Dokumentationen in VroniPlag Wiki entzogen wurden [3].


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7181520

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-6258-0/plagiate-in-der-wissenschaft
[2] https://vroniplag.fandom.com/de/wiki/Benutzer:WiseWoman/Entzugsvermerke
[3] https://vroniplag.fandom.com/de/wiki/Benutzer:WiseWoman/AndereEntzogeneGrade