Polen: Es geht nicht nur um Abtreibung!

"Black Friday"-Demonstration in Warschau. Bild: Ewa Rogala

Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch soll auf radikale Art beschnitten werden, was auch Aktivitäten rund um mögliche Schwangerschaften, Verhütung, Fruchtbarkeit betrifft

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Deutschlands östliches Nachbarland ist im Umbruch. Deutlich wird dies jüngst an einer großen Demonstration in Warschau, bei der nach behördlichen Schätzungen 55.000 Menschen teilnahmen, die allerdings in den staatlichen Medien Polens kaum Aufmerksamkeit erzielte. Die Demonstration richtete sich gegen die Verschärfung des polnischen Abtreibungsrechts. Nach Umfragen sprechen sich 70 Prozent der Bevölkerung dagegen aus.

Mit der Verschiebung der polnischen Politik in Richtung nationalistischem Konservatismus und unterstützt durch einen starken Katholizismus polnischer Prägung wollen die Regierungsparteien das Recht auf Schwangerschaftsabbruch auf radikale Art beschneiden. "Ungeborenes Leben gilt als heilig" fasst Joanna Ławicka, Präsidentin der Stiftung "Prodeste", jene politische Haltung zusammen, aus der heraus der Gesetzesentwurf entsteht.

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"Black Friday"-Demonstration in Warschau. Bild: Ewa Rogala

Sie sagt: Es geht nicht nur um den Akt des Abtreibens, sondern um die Kriminalisierung von Abtreibung und all der Aktivitäten rund um mögliche Schwangerschaften, Verhütung, Fruchtbarkeit. Sie kritisiert die absehbare Kriminalisierung der Schwangeren und nennt Beispiele: Viele Schwangerschaften sind nicht erfolgreich. Wenn ein Kind abgeht und eine Frau deswegen zum Arzt geht, so könnte der Arzt künftig verpflichtet sein, dies den Behörden zu melden, denn der Abbruch der Schwangerschaft könnte nicht-natürliche Ursachen haben, sondern eine Abtreibung sein.

Frauen, die trotz Schwangerschaft Risikosportarten betreiben und dabei ihr Kind verlieren, könnten nach angestrebter Rechtslage verurteilt werden für einen "unbeabsichtigten Schwangerschaftsabbruch". Fruchtwasserentnahme zur Diagnose könnte strafbar werden, weil der Eingriff ein gewisses Risiko mit sich bringt, das die Schwangerschaft beenden könnte. So lange das Gesetz noch nicht verabschiedet ist, zahlt die polnische Regierung allen Frauen 4000 Zloty (ca. 1000 Euro) (), wenn sie stark behinderte Kinder austragen, selbst wenn es als sicher gilt, dass diese Kinder bei der Geburt oder Tage später sterben werden.

Der folgende Text entstand vor dem Hintergrund dieser Verschärfung des polnischen Abtreibungsrechts. Joanna Ławicka hat ihn 2016 auf Facebook veröffentlicht, im Zusammenhang mit den jüngsten Protesten in Polen wurde er viel geteilt und hat viele Likes erhalten. Sie will mit diesem Text Aspekte thematisieren, die im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen zu selten gesehen werden.

Joanna Ławicka: #czarnyprotest

Da ich seit vielen Jahren mit Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen arbeite, erlebte ich viele genetisch bedingte, vorgeburtliche Schäden, die durch Pathogene in der Schwangerschaft verursacht wurden (Toxoplasmose, Röteln und andere). Viele der Menschen sind laut Gesetzgeber Menschen mit Behinderungen - mit irreparablen Schäden. Ich mag solche Begriffe nicht. All diese Menschen sind großartige Menschen, die in ihrem Leben viele Dinge durchgemacht haben. So viel, dass es für einen nicht-betroffenen Menschen nur schwer vorstellbar ist. All diese Menschen haben wundervolle Eltern, die ihnen Liebe geben und versuchen, das Leben einfacher zu machen.

Ich habe auch mit Kindern mit tödlichen Behinderungen im Endstadium gearbeitet und junge Bewohner von Sozialhilfestellen für behinderte Kinder erlebt. Ich verband Wundliegegeschwüre und wusch Kinder die Exkremente vom Körper, weil der Gesetzgeber vorsah, die Zahl der für sie vorgesehenen Windeln zu begrenzen, was ihre grundlegende Menschenwürde verletzt. Ich unternahm mit einem kleinen 11jährigen Mädchen den ersten Spaziergang ihres Lebens. Zuvor hatte sie den Stift nur für medizinische Untersuchungen verlassen.

Ich lehrte einen 13-jährigen Jungen, trotz seiner schrecklichen Tetraplegikerlähmung mit einem Löffel zu essen. Ich vergesse niemals seine große Freude darüber, wozu er selbständig fähig ist und seine Tränen des Entsetzens, als ihm der Löffel brutal aus der Hand geschlagen wurde mit den Worten: "Wer wird nach ihm aufräumen?"

Mädchen mit schwerer geistiger Behinderung erzählten mir unter Tränen, wie sie von behinderten Jungen vergewaltigt wurden, die im gleichen Pflegeheim wohnten. Niemand hat es ihnen vorher geglaubt, weil sie als behindert galten mit dem Hang zur Konfabulation. Es nützte nichts, dass die Erzählungen der Mädchens so detailreich waren, dass sie die von ihnen beschriebenen Situationen nicht anders kennen konnten als aus direkter Erfahrung. Diese jungen, behindertem Frauen, die in einem Pflegeheim aufwuchsen wurden schwanger. Niemand weiß wann und wie dies passierte, doch auf die Frage wie dieses wundersame Ereignis zustande kam, zuckte das Personal nur teilnahmslos mit den Schultern. Wenn diese Frauen ihre Kinder gebären und umarmen wollen, werden sie dennoch voneinander getrennt untergebracht.

Eine Gruppe etwa zwanzigjähriger leicht behinderte junge Frauen, die abgemagert und im Drogenrausch sediert wie 60 wirken und auf den Bänken des Pflegeheim-Parks vor sich hinschaukeln, erwachten jedesmal zum Leben, wenn eine Pflegerin mit einem Kind im Kinderwagen vorbeikam: "Lassen Sie mich das Baby streicheln!" Ihnen war es auch egal, wenn das "Baby" 12 Jahre alt war und im Rollstuhl saß. Ich sah einen intellektuell eingeschränkten Teenager mit Achondroplasie, der auf dem Balkon sitzend am Daumen nuckelte, in Tränen ausbrechen und ständig wiederholend "Mama, Mama" wimmernd - sie sahen sich zuletzt vor vielen Jahren, trotzdem sie von Zeit zu Zeit anruft und verspricht, vorbeizukommen. Irgendwann.

Niemand wird das Drama dieser Menschen und ihrer Eltern verstehen, wenn er es nicht selbst gesehen oder selbst erlebt hat. Niemand, der diese Angst nicht selbst erlebt hat, kennt die Freude eines Elternteils, das morgens aufwacht und sieht, dass sein Kind noch am Leben ist. Niemand kennt die Bürde einer Vergewaltigungsschwangerschaft, der diese Schwangerschaft nicht selbst überstanden hat. Nur Paare mit unerfülltem Kinderwunsch kennen die Verzweiflung, wenn auch der nächste Zyklus wieder ergebnislos vorüber ist.

Wir werden nicht alle Probleme dieser Welt lösen. Wir können anderen so viel wie möglich helfen, soweit es in unseren persönlichen Möglichkeiten liegt. Aber wir sollten uns nicht das Recht nehmen, jeden selbst wählen zu lassen. Man hätte den beiden 12jährigen Mädchen, die nach einem Missbrauch 2016 schwanger wurden und sich mit ihren Eltern zu einem Schwangerschaftsabbruch entschieden, selbständig entscheiden lassen sollen. Stattdessen führte der Druck von Pro Life und katholischen Kreisen in Polen dazu, dass sie den geplanten Schwangerschaftsabbruch beiseite legten und ihre Babys austrugen, und dafür in einschlägigen Medien als "Helden" gefeiert wurden.

Wie erklärt man behinderten Mädchen, was eine Vergewaltigung ist? Wie erklärt man ihnen die aus diesem Missbrauch resultierende Schwangerschaft? Wie erklären wir ihnen die Leiden einer Fehlgeburt? Wie erklären wir ihnen, dass sie sich in diesem Fall einer möglichen Strafverfolgung gegenüber sehen?

Solche Situationen erlebt zu haben, ist das eine. Gesetze zu schaffen, die den betroffenen Frauen das Recht nehmen, Entscheidungen im Einklang mit ihrem Gewissen und Glauben zu treffen - das ist Entmenschlichung. Wie erklärt ein Arzt einer werdenden Mutter, dass er die Herz-Operation an ihrem noch ungeborenen Kind nicht vornehmen wird, weil er sich bei einem Misserfolg selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde, wenn das Kind bei der Operation stirbt? Wie erkärt man werdenden Eltern, dass eine Fruchtwasserentnahme zur weiteren Diagnose nach alarmierendem Ultraschall nicht durchgeführt wird, weil das 1%ige Risiko eines ungewollten Schwangerschaftsabbruchs sowohl Eltern wie auch Ärzte dem Risiko der Strafverfolgung aussetzt? Wie erklärt man Eltern mit Kinderwunsch, dass eine künstliche Befruchtung (in-vitro-Schwangerschaft) nicht möglich ist, weil die die dabei entstehenden überzähligen Embryonen zerstört werden und dies gemäß dem Gesetz als Verbrechen gilt.

Geben Sie uns Frieden, liebe Herren von Regierung und Parlament. Lass die Menschen selbständig Entscheidungen nach ihrem Gewissen treffen! Wer auf die Positionen der polnischen Bischöfe schaut, möge den Kopf nach Rom drehen und den Papst hören, der sagt, es sei nicht gut zu versuchen, Gottes Gesetze in menschliche Gesetze zu gießen. Angelehnt an die göttlichen Gesetze, an die Sie glauben - und Sie haben das Recht dazu -, wollen Sie über jegliches menschliche Leben entscheiden. Auch über Mütter und Väter, deren Kinder mit schweren Defekten geboren werden, über vergewaltigte Mädchen und ihre Kinder und sogar über das Leben von Familien, die von Nachkommen träumen ...

Als er nach dem wichtigsten Gebot gefragt wurde, nannte Jesus Christus, der - wie Sie glauben - der Sohn Gottes war, nicht das fünfte Gebot "Du sollst nicht töten". Das wichtigste sei das Gebot der Liebe, zu dem er sagte: "Liebe deinen nächsten wie dich selbst". Wie weit reicht Ihre Selbstliebe, meine Damen und Herren?

(Der Text schloss mit einem Aufruf, sich am "Schwarzen Dienstag" (3. Oktober 2016) und jüngst zum "Schwarzen Freitag" (23. März 2018) zu beteiligen.