Polen soll einen Kanzler bekommen

Die polnische Regierung will die Verfassung ändern und nach deutschem bzw. österreichischem Vorbild die Macht des Präsidenten schwächen

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Ende November überraschte Donald Tusk die polnische Öffentlichkeit. Um die ständigen Querelen zwischen dem Regierungschef und dem Staatspräsidenten zu beenden, schlug der Premierminister zunächst eine Verfassungsänderung vor, die sich an der deutschen orientieren sollte. Eine Verfassungsänderung erachten die meisten Polen zwar für notwendig, doch es wird bezweifelt, ob das deutsche Kanzlersystem nach Polen übertragen werden kann. Deswegen strebt die Regierung nun eine Verfassungsreform vor, die sich an dem politischen System Österreichs orientiert. Ein Hinweis darauf, dass Tusk bei den in diesem Jahr stattfindenden Präsidentschaftswahlen nicht antreten wird.

Polens Premierminister Donald Tusk ist ein leidenschaftlicher Fußballfan. Deswegen mag sich der Anhänger des Erstligisten Lechia Danzig vielleicht wie ein Fußballtrainer vorgekommen sein, als er Ende November vor die Presse trat und eine kritische Halbzeitbilanz seiner ersten zwei Amtsjahre zog. Ein Resümee, das ziemlich ernüchternd ausfällt. Im Herbst 2007 noch eine Art Hoffnungsträger der Polen, die genug hatten von den populistischen Tönen der Kaczynski-Zwillinge und mit Tusk an der Regierungsspitze auf eine Rückkehr in die Normalität hofften (Polens Rückkehr zur Normalität), verliert sich der liberalkonservative Politiker heute in einem permanenten Machtkampf mit dem Staatspräsidenten Lech Kaczynski, bei dem es mal um Kompetenzstreitigkeiten bei EU-Gipfeln, mal um die Verabschiedung von Gesetzen geht. Mit dem Ergebnis, dass Tusk die vor zwei Jahren angekündigten und notwendigen Reformen wie beispielsweise die im Gesundheitswesen oder Rentensystem nicht in die Tat umsetzen konnte.

Schlimmer noch, die Liste der politischen Misserfolge ist für Tusk größer als die der nicht eingelösten Wahlversprechen. Das Mediengesetz, mit dem Polens öffentlich-rechtlicher Rundfunk entpolitisiert werden sollte, entwickelte sich zu einer peinlichen Posse, dank der ein ehemaliger Neo-Nazi mehrere Monate lang den Intendanten des Staatsfernsehens TVP mimen konnte (Chaos zur besten Sendezeit). Heute ist der Sender wieder unter der Kontrolle der nationalkonservativen PiS von Jaroslaw Kaczynski – und dies für die nächsten drei Jahre.

Regelrecht blamiert hat sich die Regierung bei der Rettung der polnischen Werften, deren drohende Schließung die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der politischen Wende überschattete. Denn der Investor aus Katar, den die Regierung als Retter der Schiffbaubetriebe in Danzig, Stettin und Gdingen präsentierte, hatte gar kein Interesse, Geld für die legendären Werften auszugeben. Dies zeigte sich im September, als Warschau vergeblich auf die erste Kaufrate des Investors aus der Wüste wartete. Und wenige Wochen darauf, als die schadenfreudigen Gesänge der politischen Konkurrenz gerade abgeklungen waren, musste Donald Tusk mit der Glücksspiel-Affäre (www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31032/1.html) die bisher schwerste Krise bestehen, die einige personelle Veränderungen in der Regierung und der Parlamentsfraktion nach sich zog.

Die Misserfolge werfen nicht nur dunkle Schatten auf seine bisherige Amtszeit, sondern schmerzen Tusk noch wegen eines anderen Umstands: sie machen sich bemerkbar auf seine Umfragewerte. In einer Ende Dezember veröffentlichten Erhebung des Meinungsforschungsinstituts CBOS, sprachen sich 45 Prozent der Befragten negativ über Donald Tusk aus, und somit so viele wie nie zuvor. Für Donald Tusk, der sich bei seiner politischen Tätigkeit zu sehr von demoskopischen Untersuchungen beeinflussen lässt, wie sein Koalitionspartner und Stellvertreter, Wirtschaftsminister Waldemar Pawlak vor einigen Monaten in einem Interview kritisch bemerkte, ist das eine erschreckende Entwicklung. Ausgerechnet ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, bei denen Tusk bisher antreten wollte, sinken seine Popularitätswerte. Dies zwar langsam, dafür aber konstant, wie die Umfragen der letzten Monate beweisen.

Doch Tusk ist realistisch genug, um den Grund für die politischen Misserfolge und die schlechter werdenden Umfragewerte zu kennen. Auf einer am 21. November stattgefundenen Pressekonferenz, mit der ein zweitätiges Symposium beendet wurde, das den ersten zwei Jahren der aktuellen Regierung gewidmet war, bekannte Tusk selbstkritisch, dass der ständige Machtkampf mit dem Staatsoberhaupt das Grundproblem seiner bisherigen Amtszeit ist. Erstaunlich war jedoch der Lösungsvorschlag des Premierministers. "Mit unserer Verfassung haben wir eine Situation geschaffen, in welcher der Konflikt zwischen den für Polen verantwortlichen politischen Institutionen solange nicht lösbar ist, solange diese Ordnung existiert", sagte Tusk und schlug zur Überraschung von Freund und Feind eine Verfassungsänderung vor, die noch im Herbst nächsten Jahres, kurz vor den Präsidentschaftswahlen, in Kraft treten sollte.

Der Präsident soll sein Veto-Recht verlieren

Ehrgeizig erscheinen die Verfassungspläne von Donald Tusk aber nicht nur wegen der Zeitvorgabe, die der liberalkonservative Politiker genannt hat, sondern auch wegen ihrer Komplexität. Denn die von Tusk vorgeschlagene Verfassungsänderung, die nach dem Willen des Regierungschefs von allen im Sejm vertretenen Parteien erarbeitet und getragen werden soll, sieht tief greifende Umgestaltungen im politischen System des Landes vor. So sollen sowohl der Sejm, in dem heute 460 Abgeordnete sitzen, als auch der 100 Sitze umfassende Senat, die zweite Kammer des Parlaments, verkleinert werden. Die meisten Auswirkungen hätte die von Tusk offerierte Verfassungsreform jedoch für den polnischen Staatspräsidenten. Dieser soll nämlich nicht mehr vom Volk direkt, sondern von einer Nationalversammlung, zusammengesetzt aus dem Sejm und dem Senat, gewählt werden. Und nicht nur diese Idee orientiert sich an der deutschen Verfassung. Ebenso wie hierzulande soll das polnische Staatsoberhaupt zukünftig nur noch repräsentative Aufgaben haben. Was bedeutet, dass der Präsident sein Vetorecht verlieren würde, bei Bedenken Gesetzesvorlagen nur noch dem Verfassungsgericht zur Überprüfung vorlegen dürfte, während der Premierminister an Machtfülle hinzugewinnen würde.

Der Vorschlag erscheint auf den ersten Blick mehr als sinnvoll, da die 1997 verabschiedete Verfassung tatsächlich einige Kompetenzbereiche zwischen dem Präsidenten und der Regierung nicht genau abgrenzt. Ein Makel, der in den letzten 12 Jahren immer wieder zum Vorschein kam. Bereits der ehemalige Präsident Aleksander Kwasniewski machte von seinem Vetorecht häufig Gebrauch, selbst in den letzten vier Jahren seiner Amtszeit, als mit dem Bund der Demokratischen Linken (SLD) eine Partei den Premierminister stellte, deren Fraktionsvorsitzender Kwasniewski von 1991 bis 1995 war. Doch am meisten zeigten sich die Schwächen der polnischen Verfassung in den letzten zwei Jahren. Mit seinem Veto kolportierte Präsident Lech Kaczynski fast jedes Gesetzesvorhaben der Regierung Tusk und avancierte dadurch zu Polens einflussreichstem Oppositionspolitiker. Schlimmer noch als in der Innenpolitik, zeigten sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Premierminister und dem Staatspräsidenten in der Außenpolitik. Beide verfolgten unterschiedliche Ziele, weshalb das Land zu einem unberechenbaren Partner auf der diplomatischen Bühne wurde.

Alle Parteien wollen Verfassungsveränderungen, aber die Positionen gehen auseinander

Dass solch ein Zustand alle politischen Kräfte unzufrieden stellt, ist nicht überraschend. Fast alle Parteien halten Verbesserungen der Verfassung für notwendig. Dies bewies am deutlichsten die Reaktion von Jaroslaw Kaczynski. "Man muss die Verfassung ändern, weil sie schlecht ist", sagte der ehemalige Premierminister und Vorsitzende der wichtigsten Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Doch Kaczynski hat bezüglich der Vorschläge seines Nachfolgers einige Bedenken. "Da die Verfassung schlecht ist, muss man sie in vielen Punkten ändern, und nicht nur in denen, die in der jetzigen Situation der regierenden Bürgerplattform als notwendig erscheinen", erklärte Kaczynski, der die Bereitschaft seiner Partei zu solchen Gesprächen betonte, gleichzeitig jedoch klarstellte, dass man sich für diese Zeit nehmen sollte. "Dies ist ein ernstes Thema, welches man nicht schnell abhandeln kann. Ansonsten wäre das nämlich nur ein propagandistischer Schachzug."

Bedenken gibt es aber nicht nur wegen der zeitlichen Vorgabe, die Tusk gemacht hat, sondern auch wegen seiner konkreten Vorschläge. "Das Kanzlersystem passt nicht nach Polen", erklärte Ex-Präsident Kwasniewski in einer der wichtigsten politischen Fernsehtalkshows des Landes und begründete dies mit der polnischen Geschichte sowie dem polnischen Parteiensystem. Und ähnlicher Meinung scheinen auch die Polen zu sein. Wie eine im Auftrag des Fernsehsenders TVN durchgeführte Umfrage ergab, wollen 91 Prozent der Befragten den Präsidenten weiterhin selbst wählen. Und 52 Prozent sprechen sich gegen eine Stärkung des Regierungschefs nach deutschem Vorbild aus.

Doch diese Zweifel, die auch einige wichtige Vertreter seiner Partei Bürgerplattform (PO) haben, schienen Tusk nicht zu stören. In den letzten Wochen forcierte seine Kanzlei die Idee der Verfassungsänderung und beriet sich dabei mit einigen renommierten Verfassungsrechtlern. Wie bekannt wurde, sprachen sich diese jedoch gegen eine radikale Verfassungsänderung aus. Ihrer Meinung nach soll der Präsident weiterhin vom Volk gewählt werden, sowie sein Vetorecht behalten. Zukünftig soll es dem Sejm nur erleichtert werden, dieses Veto zu überstimmen, wozu heute 3/5 der Abgeordnetenstimmen notwendig sind.

An Konzepten für eine Verfassungsreform arbeitete aber nicht nur die Kanzlei des Premierministers. In den letzten vier Wochen präsentierten fast alle wichtigen Parteien eigene Verfassungsvorschläge. So stellte die PiS von Jaroslaw Kaczynski am 12. Dezember eine Verfassung vor, die "dem Wohle Polens dienen soll", wie Jaroslaw Kaczynski sagte, und die sich, wie nicht anders zu erwarten, von der von Donald Tusk erheblich unterscheidet. Statt eines starken Regierungschefs, favorisiert die nationalkonservative Partei einen noch stärkeren Präsidenten an der Staatsspitze.

Eigene Vorstellungen von einer Verfassung hat auch der Koalitionspartner von Donald Tusk. Die Bauernpartei PSL stellte am 5. Dezember ihre Pläne für eine Verfassungsreform vor, die sich von denen ihres Koalitionspartners unterscheiden. So schlägt die PSL ebenso wie die PiS vor, dass der Präsident weiterhin vom Volk gewählt wird und dieser auch sein Vetorecht behält. Doch dieses soll zukünftig vom Sejm leichter überstimmt werden können. Zudem spricht sich die Bauernpartei gegen eine Verkleinerung des Sejm und des Senats aus, wobei die zweite Parlamentskammer zu einem Expertengremium aus Wissenschaftlern, Staatsrechtlern und Wirtschaftsfachleuten umfunktioniert werden soll.

Doch lieber nach österreichischem Vorbil?

Bei diesen unterschiedlichen Verfassungsvorschlägen wird deutlich, dass eine Verfassungsreform, für die eine 2/3 Mehrheit im Sejm notwendig ist, nur durch einen Kompromiss erreicht werden kann. Und zu diesem scheint Donald Tusk bereit. Am 17. Dezember sagte Grzegorz Schetyna, Fraktionsvorsitzender der regierenden Bürgerplattform, in einem Interview für den Radiosender TOK FM, dass man zwar weiterhin ein Kanzlersystem anstrebe, jedoch nicht mehr nach dem deutschen, sondern nach dem österreichischen Vorbild. Dies bedeutet, dass der Präsident weiterhin vom Volk gewählt werden würde. Für die umstrittene Verkleinerung der beiden Parlamentskammern plädiert Donald Tusk jedoch weiterhin. Zudem sagte der ehemalige Innenminister und Vertraute von Donald Tusk, dass eine Verfassungsreform erst nach den Präsidentschaftswahlen im Herbst realisiert werden würde.

Für die Beobachter der polnischen Innenpolitik ein weiterer Hinweis darauf, dass Tusk nicht bei den Präsidentschaftswahlen antreten wird. Diese Spekulation nährt der Premierminister auch durch aktuelle Interviews nicht ohne Grund. Alle aktuellen Umfragen sagen Lech Kaczynski, unabhängig von den Gegenkandidaten, eine Niederlage bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen voraus. Für Donald Tusk eine mehr als angenehme Situation. Mit einem Parteifreund als Staatsoberhaupt dürfte es für ihn leichter werden, seine Verfassungspläne in die Tat umzusetzen und dadurch zum ersten "Kanzler" in der polnischen Geschichte zu avancieren. Tusk wäre der große Gewinner, auch wenn er bei den Wahlen gar nicht antreten würde.