Polizeigewalt gegen Proteste der Gelbwesten: "Reihenweise Verstümmelungen"

Archivbild aus dem Jahr 2007, noch mit der mittlerweile veralteten Flashball-Waffe. Foto: Nerban Del Burn / CC BY-SA 2.0 FR

Gummigeschosse zur Verteidigung gegen "Lynchmobs"? Die Regierung bestreitet Angriffe von Polizisten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Gummigeschosse" klingt relativ harmlos, ist es aber nicht; auch "Flashball" suggeriert der Öffentlichkeit, dass die Polizei zwar mit schmerzhaften Mitteln vorgeht, aber doch innerhalb von Grenzen, die Schlimmes verhindern. Manche assoziieren "Flashball" vielleicht sogar mit einem der martialischen Schieß-Spiele, wo mit Farbstoffpatronen aufeinander gezielt wird.

Dass der Einsatz der vermeintlich harmlosen Geschosse zu brutalen Verletzungen führen und lebensgefährliche Folgen haben kann, wurde vergangene Woche ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Libération, Le Monde, Le Point, France Inter, France Culture, Le Figaro, Nouvel Observateur, AFP und andere etablierte Medien haben das Thema "Polizeigewalt" aufgenommen.

Augen verloren, Hand verstümmelt, Zähne verloren

Es ist nicht nur der engagierte Journalist David Dufresne, der dem Innenministerium seit Wochen "Zwischenfälle" signalisiert - am Donnerstagabend war es Nummer 312. Oder die aktivistische Webseite "Désarmons-les" ("Lasst sie uns entwaffnen"), die seit dem 17. November 2018, dem ersten Akt der Gilets jaunes, bis zum 12. Januar 2019, 97 Verletzte auflistet, mit Fotos, die unmittelbar jeder Verharmlosung widersprechen. Einige haben ein Auge verloren, manche eine Hand, viele ihre Zähne.

Auch traditionelle Medien wie France Soir berichteten von der Gewalt und dass die Polizei unter Druck gerät. Anlass zum Alarm seien die "reihenweisen Verstümmelungen", die es in dieser Abfolge seit Jahrzehnten nicht mehr in Frankreich gegeben habe.

2.000 Demonstranten sollen nach Regierungsangaben seit Mitte November verletzt worden sein, 1.000 Verletzte werden aufseiten der Ordnungskräfte gezählt. Doch werden dazu keine genaueren Angaben gemacht. Bekannt ist, dass die Aufsichtsbehörde der Polizei, die "Polizei der Polizei" (IGPN - Inspection générale de la Police nationale) laut France Soir derzeit 200 Beschwerden über Polizeigewalt vorliegen hat.

LBD: Verteidigungskugeln

Im Mittelpunkt der momentanen Aufmerksamkeit stehen Waffen mit "dazwischenliegender Gewalt", um armes de force intermédiaire annähernd wortgetreu zu übersetzen. In den Nachrichten kommen sie oft als "nicht-tödliche" Waffen vor, die von der Polizei verwendet werden, um Gummigeschosse oder "Flashballs" auf Demonstranten abzuschießen. Tatsächlich wurden die Flashballs in den letzten Jahren von der französischen Polizei ersetzt durch "Verteidigungskugeln", so die wörtliche Übersetzung von Balles de Défense (BD). Die dazugehörige Waffe wird Lanceur de Balles de Défense genannt und ihre Abkürzung LBD steht für eine lange Reihe sehr unangenehmer Vorkommnisse. Sie ist berüchtigt.

Das Zentralorgan der bürgerlichen Konservativen, der Figaro, klärte an diesem Donnerstag über die LBD-40 auf, zeigte sie in einer großen Infografik unter der Feststellung, dass "mehrere Gilets jaunes von Schüssen der LBD-40 durch die Polizei und die Gendarmerie verletzt wurden". Man erfährt, dass die 40mm-Kugel mit einer Geschwindigkeit von 100 Meter in der Sekunde den Lauf verlässt, dass ein Laserpointer auf die Waffe gesetzt werden kann, der eine "sehr gute Treffsicherheit" auf 40 Meter erlaube, und dass die Reichweite in einem Bereich zwischen 25 und 50 Metern liege. Die Munition bestehe aus einer 40x46mm-Kugel aus Kautschuk, die auf eine "pyrotechnische Kartusche" montiert sei.

Der Unterschied zur Flashball-Waffe wird von der Zeitung Ouest-France anschaulich bebildert und auf der oben erwähnten Seite Désarmons-les erfährt man, dass die LBD-40 (aka GL06-NL) der Schweizer Firma Brüger & Thomet dem deutschen Konkurrenten HK69 von Heckler&Koch vorgezogen wurde, als die französische Regierung 2005 nach den großen Unruhen in den Vorstädten die Polizei mit nicht-tödlichen Waffen mit kurzer Reichweite aufrüsten wollte. Zuständig ist das Bureau des Armements et des Matériels Techniques (BAMT). Um die Dimension anzudeuten:

Ende 2008 hat das BAMT eine Ausschreibung für die Lieferung von 212.000 bis zu 1.204.500 Verteidigungskugeln (LBDR 40x46mm) lanciert. Sie sollten auf die Polizei, die Gendarmerie und die Gefängnisverwaltung aufgeteilt werden. Ende 2015 wurde eine neue Ausschreibung vom BAMT lanciert, für 115.000 neue balles de défense. Im Februar 2016 beschafften sich die Spezialeinheiten BAC (Brigade Anti-Criminalité, Einf. d.V.) und PSIG (Gendarmerie-Einheiten; Einf. d.V.) 134 neue Waffen für diese Munition. Die Waffe hat einen guten Käufer gefunden.

Désarmons-les

Allerdings, so warnt die Webseite der Aktivisten: "Ihre Eigentümlichkeiten machen sie zu einer gefährlichen Waffe, sprich: tödlich auf einer Entfernung unter 25 Meter."

Neuer Rekord

Laut der Nachrichtenagentur AFP haben Verletzungen durch die Gummikugeln BD und andere Polizeigewalt - es werden auch sogenannte Offensivgranaten eingesetzt (Nachtrag: welche die verstümmelten Hände erklären könnten) - zwischen November 2018 und Januar 2019, also im Zeitraum der Gelbwestenproteste, zu 48 Ersuchen an die Polizeiaufsichtsbehörde IPGN geführt. 2017 gab es nur acht solcher Anfragen und elf im Jahr zuvor, wo die nicht-letale Waffe wegen der Proteste gegen das Arbeitsgesetz bereits häufig eingesetzt wurde, nämlich 2.500 Mal laut der Polizeiaufsichtsbehörde. Das sei eine Steigerung um 46 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Die Wochen seit dem ersten Akt der Proteste dürften alle Rekorde brechen. Zwar ist noch nicht sicher, wie viele der oben erwähnten 200 Anzeigen polizeilicher Gewalt, die bei der Polizeiaufsichtsbehörde eingegangen sind, auf die LBD zurückzuführen sind, aber es gibt eine Schockmeldung, die in den vergangenen Tagen für Entsetzen sorgte, und es gibt Aussagen aus der Regierung, die ebenfalls schockieren.

Regelrecht hingestreckt

Ein Mitglied der Feuerwehr und Familienvater, also nicht gerade ein Schwarzer-Block-Typ, wurde am vergangenen Samstag in Bordeaux allen Anzeichen nach von der Polizei mit einem Schuss aus einer LBD regelrecht hingestreckt. Er lief vor der Polizei davon, die auf den Flüchtenden schoss und ihn am Kopf traf. Im Krankenhaus wurde er ins Koma versetzt. Seine Familie bangte um sein Leben.

Mehrere Videos zeigen den Vorfall aus unterschiedlichen Perspektiven und lassen kaum Zweifel an der erwähnten Darstellung. Gleichwohl: Die Angelegenheit wird untersucht. Es ist noch nicht mit absoluter Sicherheit festgestellt, dass die Hirnblutungen des Mannes, die dazu führten, dass er im Krankenhaus in ein künstliches Koma versetzt werden musste, von einer "Verteidigungskugel" der Ordnungskräfte stammen. Auch wurde seitens der Polizei vorgebracht, dass man eine Gruppe von mutmaßlichen Casseurs ("Randalierer") verfolgt habe, die den Anschein machten, dass sie einen Apple-Store beschädigen wollten.

Die Videos lassen dies nicht erkennen, sie zeugen eher von einem leichtfertigen Umgang der Polizei mit der Gummi-Geschoss-Waffe, wie sich dies auch auf anderen Videos zeigt, die man z.B. beim genannten Journalisten David Dufresne findet.

Aber auch amtlich wurde zuletzt vor der Art und Weise gewarnt, wie die Polizeikräfte die Waffe einsetzen. In Frankreich gibt es den Posten des Verteidigers der Rechte, Défenseur des droits, der via Amt darauf achten soll, dass die Grundrechte der Bürger etwa gegenüber der Exekutive gewahrt bleiben. Bekleidet wird der Posten gegenwärtig von Jacques Toubon, welcher dem Parlament kürzlich die Empfehlung vorlegte, die LBD zurückzuziehen.

"Dann wären sie vielleicht schon gelyncht worden"

Der Staatssekretär im Innenministerium, Laurent Nuñez, schloss jedes Verbot aus. Er verwies darauf, dass der Gebrauch der Waffe strengen Regeln unterliege und er machte auf drastische Weise auf die Notwendigkeit der Waffe aufmerksam:

Wenn die Polizisten nicht diese Mittel zur Verteidigung hätten, dann wären manche bei den letzten Demonstrationen vielleicht schon gelyncht worden.

Laurent Nuñez, Staatssekretär des Inneren, Frankreich

Es ist nicht wirklich realitätsfremd, was Nuñez vorbringt. Es gab entfesselte, hässliche, brutale Gewalt aus den Reihen derer, die an den Protesten der letzten Wochen teilnahmen. Es mischen sich Gewaltbereite darunter. Nach allem, was in den vergangenen Wochen von den Demonstrationen der Gelben Westen auch berichtet wurde, ist es vermutlich keine Übertreibung, wenn Polizisten vorbringen, dass sie "mit Flaschen beworfen werden, mit Bausteinen, mit Säure, Schraubbolzen mit Muttern". Kein Polizist würde mehr auf die Demonstrationen gehen, wenn man ihnen diese Waffen nähme, so die Aussage eines Polizeivertreters bei France Soir.

Allerdings gibt es rechtliche Vorgaben, an die sich die Polizisten halten müssen ("verhältnismäßig", "im Notfall") - sie machen es aber nicht, so der Vorwurf von David Dufresne. Der davon spricht, dass Polizisten Demonstranten regelrecht "massakrieren".

Der Vorwurf, den Dufresne bereits letzte Woche äußerte, mag übertrieben klingen, aber er begründet dies ausführlich. Zu erklären ist die Wut damit, dass die Regierung diesen Aspekt vollkommen ignoriert. Macron sprach immer nur von der Gewalt der Demonstranten, die in der Republik keinen Platz habe. Von der Polizeigewalt sprach er nicht. Sein Innenminister trieb diese Ansage noch weiter. Castaner sagte auf die Frage eines Journalisten:

Ich kenne keinen Polizisten und keinen Gendarmen, der die Gilets jaunes angegriffen hätte.

Innenminister Christophe Castaner

Castaner sprach von "attaquer", wie oben gezeigt, heißen die Gummigeschosse auch Verteidigungskugeln, somit ist schon klar, welche Linie die Regierung verfolgt. Auf YouTube werden in dem Video zur Aussage des Innenministers neben Castaners Bilder von verletzten Demonstranten abgescrollt. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Außer dass sich die Regierung auf einem schwierigen Konfrontationskurs mit der Wahrnehmung vieler Franzosen befindet. Die Polizeigewalt, die nicht im Einklang mit den erwähnten rechtlichen Vorgaben steht, wird von Berichterstattungs-Profis dokumentiert. Darüber hinaus gibt es die Aussage aus der Polizei, wonach die Regierung maßgeblich Taktik und Vorgehen der Ordnungskräfte bestimmt. Am 23. Dezember, so Mediapart, habe die Regierung 1,280 neue LBDs bestellt. Bislang sei nichts von einer abschreckenden Wirkung der Waffe bekannt.

Morgen findet Acte X der Gilets jaunes statt.