Populismus in Richterrobe
Oberster Sozialrichter will Ungeimpfte zur Kasse bitten. Das wäre aber nicht durchsetzbar. Und es würde mit einem zentralen Prinzip des Solidarsystems brechen – mit Folgen über die Coronapandemie hinaus
Ungeimpfte Covid-19-Patienten an den Kosten ihrer medizinischen Behandlung zu beteiligen, hat kürzlich Rainer Schlegel gefordert. Die Idee ist nicht ganz neu, aber sie kam nun noch mal von pikanter Stelle. Denn Schlegel ist Präsident des Bundessozialgerichts, also der Rechtsinstitution, die ggf. über genau solche Streitfragen zu urteilen hat, wenn Versicherte und Krankenkassen uneins sind.
Symptomatisch für die politische Diskussionskultur
Juristisch ist sicherlich vieles machbar. Doch der Vorschlag ist populistisch und zugleich symptomatisch für die politische Diskussionskultur, in der selbst etablierte gesellschaftliche Grundentscheidungen jederzeit mit Einzelvorschlägen infrage gestellt werden können.
Rainer Schlegel verwies beim Jahrespressegespräch am 8. Februar 2022 auf Kosten bis zu 200.000 Euro für einen Patienten mit künstlicher Beatmung. Für nur einen solchen Coronapatienten müsse ein durchschnittlich verdienender Beschäftigter und dessen Arbeitgeber rund 34 Jahre lang Beiträge einzahlen. Eine Beteiligung an diesen Kosten müsse sich nach den individuellen Verhältnissen richten, "sollte dem Versicherten aber auch wehtun".
Gegenwärtige Rechtslage
Nach der augenblicklichen Rechtslage ist eine solche Kostenbeteiligung wohl nicht möglich. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags (Dokument WD 9 – 3000 – 109/21) sehen allenfalls spezielle Einzelfälle, bei denen die Krankenkassen eine Kostenbeteiligung fordern könnten. In § 52 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch heißt es dazu im ersten Absatz:
Haben sich Versicherte eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen, kann die Krankenkasse sie an den Kosten der Leistungen in angemessener Höhe beteiligen und das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer dieser Krankheit versagen und zurückfordern.
"Der Vorsatz muss sich auf die Krankheit beziehen und nicht lediglich auf die Handlung, bei der sich der Versicherte die Krankheit zugezogen hat", heißt es im Sachstandsbericht der Wissenschaftlichen Dienste. Es seien "nur die Fälle erfasst, in denen der Patient bei seinem Verhalten nicht auf das Ausbleiben der Krankheit hofft, sondern die Krankheitsfolge billigend in Kauf nimmt".
Bei ungesunder Lebensführung oder dem Verzicht auf Vorsorgeuntersuchungen greift dieser Passus bisher nicht.
Verursacherprinzip bei Krankenversicherungen und Willkür
Anders könnte es aussehen, wenn eine allgemeine Impfpflicht eingeführt und ein Verstoß dagegen als Vergehen pönalisiert wäre. Dies hatte der oberste Sozialrichter bei seiner Forderung nach Kostenbeteiligung allerdings nicht zur Bedingung gemacht.
Ungeachtet der konkreten Rechtslage und ihrer möglichen Veränderung sollte man allen Ideen, das Verursacherprinzip bei den Krankenversicherungen einzuführen, eine Absage erteilen. Denn sie werden zu einem nie endenden Gezerre ums Geben und Nehmen führen, deren jeweilige noch so komplexe Regelung stets Ausdruck von Willkür bleiben wird.
Was sollte eine Kostenbeteiligung von Coronapatienten bringen?
Die erste Frage, die man sich stellen muss: Was sollte eine Kostenbeteiligung von Coronapatienten bringen? Ums Geld kann es nicht wirklich gehen. Das deutsche Gesundheitssystem verteilt jeden Tag etwa eine Milliarde Euro. Da wäre auch eine schmerzhafte Eigenbeteiligung ungeimpfter Covid-Patienten weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Eine erzieherische Lenkungswirkung darf man ebenfalls ausschließen – auch wenn es im Laufe der Epidemie schon allerlei Versuche dieser Art gab: Etwa die Warnung vor gefährlichen Sportarten, weil eine Unfallversorgung aufgrund der Corona-Situation nicht garantiert werden könne. Oder die Drohung mit dem Medikamentencocktail einer Intensivbehandlung, den doch niemand, der kleinen Impfspritze vorziehen könne.
Niemand wird sich nur deshalb für die Impfung entscheiden, weil hohe Selbstbeteiligungskosten bei einer ITS-Einweisung drohen; denn das Risiko der lebensgefährlichen Erkrankung ist für den einzelnen nicht sehr real, entsprechend wird nicht abgewogen zwischen Impfung oder Intensivstation, sondern schlicht zwischen Impfung und Nicht-Impfung.
Wer würde noch Skifahren, wenn er damit rechnete, so schwer wie Michael Schumacher zu verunfallen? Und wer würde es nur lassen, weil die immensen Behandlungskosten zumindest teilweise selbst zu tragen wären? Aber Schlegel meint:
Wer sich nicht impfen lassen möchte, obwohl dem medizinisch nichts entgegensteht, wird selbstverständlich bestmöglich behandelt, sollte aber die Kosten der Behandlung zumindest zu einem gewissen Teil mittragen müssen. [...] So hat jeder potenzielle Patient ein Preisschild vor Augen und kann sich dann überlegen, ob er lieber die kostenlose Impfung nimmt oder die Behandlungskosten im Fall eines schweren Verlaufs tragen möchte.
Prof. Dr. Rainer Schlegel im Interview mit der Wirtschaftswoche
Die Büchse der Pandora
Die Idee ist populistisch: Sie zielt auf Egoismus und Neid. "Wie, für den Ungeimpften soll ich zahlen? Nein, der ist doch selbst schuld, soll er schauen, wo er die zehntausende Euro hernimmt. Nicht von mir jedenfalls!" Das wäre allerdings das Ende der Solidargemeinschaft.
Denn wenn es einmal losgeht, nach guten und bösen Krankheiten zu trennen, nach vermeidbaren und unvermeidbaren Unfällen, dann wird das Hauen und Stechen kein Ende nehmen. Wieso soll ich für die Kur von jemandem zahlen, der sich vor egoistischem Ehrgeiz in seinem Job zerstört hat?
Ist der verletzte Golf-Fahrer nicht selbst schuld, dass er sich nicht mit einem SUV gepanzert hat? Darmkrebs bei Fleischessern – selbst schuld! Demenz bei Unsportlichen – selbst schuld! Sportunfälle bei Sportlichen – selbst schuld!
Aber die Büchse der Pandora ist damit noch nicht geschlossen. Steht nicht demjenigen mehr zu, der auch mehr eingezahlt hat? Ist zumindest sichergestellt, dass jeder leistet, was er bei gutem Bemühen leisten kann?
Freiwillig in Teilzeit arbeiten – wo kämen wir hin, wenn das alle machten? Sollten die gratis mitversicherten Kinder nicht wenigstens einen Teil ihrer Schulferien arbeiten müssen, ob nun zur Einzahlung in die Sozialkassen oder direkt als gemeinnütziger Arbeitsdienst? Und wo bleibt die Berücksichtigung der Rentenleistungen?
Am Lieblingsbeispiel Raucher wurde dies schon mehrfach durchgerechnet – mit unterschiedlichen Ergebnissen (weil die Berechnungen von vielen Annahmen abhängen) – aber klar ist: Wer früher stirbt, entlastet die Renten- und Krankenkassen, von Karsten Vilmar vor Jahren mal als "sozialverträgliches Frühableben" karikiert.
Der Einstieg ins Social Scoring
Das von Schlegel befürwortete Verursacher- oder Schuldprinzip für Leistungen der Krankenversicherung wäre der Einstieg ins Social Scoring. Dann gibt es gute und schlechte Wesen in der sozialen Zwangsgemeinschaft.
Dass solche Ideologien Anhänger haben, auch außerhalb der chinesischen KP, ist anzunehmen. Und man darf über alles diskutieren. Aber es ist nicht sinnvoll, ohne Not Grundlagen des Gemeinwesens infrage zu stellen. Bisher gilt: Kranke und Unfallopfer bekommen die medizinisch notwendige Hilfe, ohne Wenn und Aber.
Der oberste Sozialrichter schürt Sozialneid
Dass in einem der vermögendsten Länder der Erde der oberste Sozialrichter Sozialneid schürt, ist grotesk. Vielleicht war es deshalb ein guter Ansatz von Legal Tribune, in der Meldung zu Schlegels Jahrespressegespräch den aufgewärmten Vorschlag zur Kostenbeteiligung Ungeimpfter zu umschiffen. Doch viele Medien schenkten ihm Beachtung und ließen ihr Publikum balgen.
Rainer Schlegel hatte zur Untermauerung seiner Einforderung des Schuldprinzips noch einen Hinweis parat, den man während der Pandemie ebenfalls schon zigfach hören konnte, wenn auch gelegentlich in besseren Sprachbildern: "Wir reden viel von Solidarität, aber sie ist keine Einbahnstraße."
Der Ball lag zu gut, als dass Social-Media-Schützen ihn liegenlassen konnten: Ob Schlegel als Richter nicht wohl privatversichert sei und damit selbst gar nicht in die solidarische Krankenversicherung einzahle?
Doch auch hier greift der erste Sozialneidreflex vermutlich zu kurz: Wer so gut verdient, dass die private Versicherung günstiger ist als die Krankenkasse mit ihrer Beitragsbemessungsgrenze, zahlt auch mehr Steuern als der Durchschnitt; die Einkommensteuer fließen u.a. auch in die Sozialkassen.
Und bei ohnehin von der Allgemeinheit alimentierten Richtern und Beamten dürfte deren Einbeziehung in die gesetzlichen Pflichtversicherungen reine Kosmetik sein. Man kann auch mal irgendetwas gut sein lassen.