Positionskämpfe, aber wenig Bewegung
Der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft II wirft erste Schatten
Nach dem Abstieg vom Genfer Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS/Dezember 2003) sind die streitenden Parteien wieder im Tal angekommen (Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel). Insbesondere bei den offenen Fragen - Finanzierung und Internet Governance - wirft der für November 2005 geplanten zweite Gipfel aber bereits seine Schatten voraus: Die Positionskämpfe für den neuerlichen Aufstieg haben bereits begonnen.
Beim Genfer WSIS-Gipfel war die Frage, wer denn wie den Cyberspace regulieren und die Kernressourcen des Internet verwalten und/oder kontrollieren soll, bis zur letzten Minute umstritten. Die chinesische Regierung, unterstützt von vielen Entwicklungsländern, wollte dies einer UN-Organisation, eventuell der ITU, übertragen. Die US-Regierung, unterstützt von der EU und dem privaten Sektor, wollte dem Modell privater Selbstregulierung, das heißt ICANN, den Vorrang geben. Eine Zwischenlösung wollte keiner der beiden Gruppierungen. Und da auch eine Serie von Nachtsitzungen keine Lösung brachte, fand man im kalten Schweizer Winter den diplomatischsten aller diplomatischen Kompromisse: Man gründete einen Arbeitskreis und vertagte sich auf später.
Den Arbeitskreis gründete die WSIS-Diplomaten natürlich nicht selbst, sondern die Regierungen baten den höchsten Diplomaten dieser Welt, UN-Generalsekretär Kofi Annan, dies zu tun. Immerhin gab man aber Annan einige Leitlinien mit an die Hand, wie er denn vorgehen solle, um diese mit viel Sprengkraft versehene Kontroverse in handhabbare Politik aufzulösen. So soll die "Working Group on Internet Governance" (WGIG) offen und transparent sein, alle "Stakeholder" - sprich Regierungen, private Wirtschaft und Zivilgesellschaft - repräsentieren und sich auf die Kernfragen - Definition von Internet Governance, Verhältnis von politischen und technischen Fragen und mögliche institutionelle Mechanismen - konzentrieren.
Zürich, Genf, Rom: Weder Skalpell noch Streitaxt
Der Gipfel war noch nicht einmal vorbei, da begannen schon im Genfer PALEXPO die Positionskämpfe. Der jordanische Geschäftsmann Talal Abu Ghazaleh, seines Zeichens Vizevorsitzender der "United Nations Information and Communication Technology Task Force" (UNICTTF), eine gleichfalls von Kofi Annan 2001 berufenen handverlesenen Gruppe unter Leitung des ehemaligen kostarikanischen Präsidenten Jose Maria Figueres Olsen, machte bei einem semi-privaten hochrangigen Arbeitsfrühstück den Vorschlag, die neuen Internetgruppe gleich bei der UN Task Force anzubinden.
Als die "International Herald Tribune" dies vermeldete, baute sich schnell eine Gegenfront auf. Maria Cattaui, Generalsekretärin der "International Chamber of Commerce" (ICC), der auch Al Gazaleh angehört, fand die Idee gar nicht so gut. Der private Sektor sei zwar in der UN Task Force vertreten, aber die "leadership" liege dort eindeutig bei den Regierungen. Auch die Zivilgesellschaft findet sich in der Task Force nicht ausreichend repräsentiert. Überdies sei sie wenig offen. Und die chinesische Regierung, für die das Thema "Internet Governance" im Lauf des WSIS-Prozesses immer mehr an Bedeutung gewann, ist in der Task Force gar nicht vertreten.
Den nächsten Anlauf nahm ITU-Generalsekretär Utsumi. Er schrieb einen Brief an Kofi Annan und bot die Dienste seiner Organisation an, die sich seit 1865 mit grenzüberschreitender Kommunikation befasst. Als "kostenlose" praktische Dienstleistung für die neue Arbeitsgruppe organisierte die ITU Ende Februar in Genf ein Expertenseminar zu dem man neben individuell ausgewählten "Wissensträgern" auch über 100 Regierungsbeamte einlud.
Kurz zuvor waren in Zürich bei der "Domain Pulse"-Konferenz der drei deutschsprachigen Internet Registries (DENIC, SWITCH und nic.at) ICANNs Vizepräsident Paul Verhoeft und ITUs Richard Hill bei einer Podiumsdiskussion aufeinander getroffen. Beide vermieden dort jedwede Konfrontation. Sie stimmten mit ein in das Lied, dass beim Züricher Treffen private Wirtschaft und Zivilgesellschaft vorgaben: man brauche ein differenziertes "Governance System", bei dem einzelne Themen individuell geregelt würden und zwar nur dort, wo es nötig sei. Keine einzelne Organisation könne alleine alles tun. Unterschiedliche "Layer" in der Internetarchitektur forderten ebenso wie unterschiedliche Sachverhalte unterschiedliche Regulierungsmechanismen. Es gehe nicht darum, "wer das Internet regiert", sondern wie durch eine effektive Koordination, Konsultation und Kooperation aller Betroffenen und Beteiligten die Stabilität, Sicherheit und Funktionalität des Internet auch bei bald einer Milliarde Nutzer gewährleistet werden kann. Hochrangige Regierungsvertreter waren in Zürich nicht vertreten.
In Genf nun waren rund 100 Regierungsvertreter im Saal, darunter auch Diplomaten aus China, Brasilien, Nigeria und Syrien, die keinen Hehl aus ihrer Ansicht machten, dass es Zeit sei für eine Art "UN des Internet", die sich mit Spam, Cybercrime, Kinderpornographie im Netz etc. beschäftigt. Und da sich die ITU ja mit (Telefon-)Nummern bestens auskenne, sei es doch nur logisch, dass man auch die Namen und Nummern des Internet nach bekannten Verfahren verwalten könne. Die staatliche Souveränität sei das überragende Prinzip. Innerhalb oder unterhalb dieses Souveränitätsraumes könnte es dabei durchaus auch Funktionen geben, die man dem privaten Sektor überlassen könnte, aber nur so weit, wie die Souveränitätsrechte nicht berührt sind.
Bei dieser Sichtweise verfingen die Argumente von Ayasha Hassan vom ICC, die die Flexibilität einer Selbstregulierung des Internet lobte, oder von Bill Manning, einem Root Server-Manager, der darauf verwies, dass es dank "Anycast" mittlerweile mehr Root Server außerhalb der USA als innerhalb der USA gäbe, nur wenig. Der chinesische Vertreter bedankte sich bei den Experten der Genfer Tagung für die "interessanten Beiträge", erklärte aber die Tagung insgesamt als für seine Regierung irrelevant und forderte ITU-Generalsekretär Utsumi auf, eine formelle Regierungskonferenz zu diesem Thema zu organisieren. Geschosse kamen auch aus der anderen Ecke dieses neuen globalen Kampfplatzes: Gleich zu Beginn des Genfer Workshops hatte der Regierungsvertreter des Königreichs Dänemark ein Statement verlesen, das der ITU jedwede führende Rolle bei der neuen UN-Gruppe absprach.
Eine Woche später traf sich der "Internet Governance Konferenz-Tross" in Rom wieder. Dort hatte die "Internet Corporation for Assigned Names and Numbers" (ICANN) ihre reguläre Tagung und kam natürlich an dem Thema WSIS und UN-Arbeitsgruppe nicht vorbei. Bei einem kurzfristig anberaumten "Round Table" zu dieser Thematik marschierte gleich ein Dutzend von ICANN-Constituencies auf - von den Domain Name Registries und Registrars bis zu den ISPs, Internetnutzern und IP-Technikern - und wiederholten mehr oder minder unisono, dass die beste Lösung ein dezentrales Modell sei, bei der die Kernressourcen in den Händen des privaten Sektors bleiben sollten, während Regierungen nur dort gebraucht würden, wo es um übergreifende politische Fragen wie eben Cyberkriminalität geht.
Am deutlichsten brachte das Vint Cerf, Vorsitzender des ICANN-Direktoriums, auf den Punkt. Die Informationsgesellschaft sei viel mehr als das Internet und das Internet wiederum sehr viel mehr als das Management von Domain Namen, IP-Adressen und Root Servern. ICANN würde eine wichtige Nischenfunktion ausfüllen, sei aber nicht für all die anderen Themen zuständig, die sehr wichtig seien, für die aber andere Institutionen - staatliche oder nicht-staatliche - Verantwortung trügen. Diese "Nischenstrategie" passte gut zusammen mit der Rede, die der zuständigen italienischen Minister Lucio Stanca zur Eröffnung der ICANN-Tagung hielt: Das Grundprinzip sei die "private sector leadership", Regierungen sollten sich nur dann einmischen, wenn wesentliche und übergreifende öffentliche Interesses berührt seien.
Als Milton Mueller von der ICANN Constituencies der nichtkommerziellen Domain Name Holder daran erinnerte, dass bei Themen wie Whois-Datenbank, neue Top Level Domains oder Streitbeilegung (UDRP) technische und politische Aspekte kaum voneinander trennbar seien und ICANN durchaus politische Entscheidungen treffe, wollte keiner so recht diese "heiße Kartoffel" aufgreifen. Die naive Idee, man könne politische von technischen Fragen trennen - ITU macht Politik und ICANN Technik - ist strukturell und organisatorisch Nonsens. Die einzelnen "Schichten", um die es hier geht, liegen übereinander und lassen sich weder mit einem Skalpell noch mit einer Streitaxt fein säuberlich voneinander trennen. Wie in Lessings "Ringparabel" gilt Nathans Weisheit auch hier: Gegenseitige Toleranz, Respekt und Verantwortung für "das Ganze".
Weisheitstest in New York?
Der nächste Test, ob die "Weisheit" in der globalen Informations- und Wissensgesellschaft eine Chance hat, kommt Ende März 2004 in New York, wenn die UN ICT Task Force zu ihrer nächsten regulären Sitzung zusammentrifft. Die Task Force hat ihrer eigentlichen Beratung ein zweitägiges "Global Governance Forum" vorgeschaltet, für das sich schon über 200 "Experten" angemeldet haben. Diesmal sollen weniger "Statements" geliefert werden, sondern die "interaktive Kommunikation" in "break out sessions" steht im Vordergrund. Nur Vint Cerf wird am Abend des 24. März 2004 eine längere Rede halten: Er erklärt den Forumsteilnehmern, wie das Internet funktioniert.
Kofi Annan lässt sich durch seinen WSIS-Botschafter Nita Desai vertreten. Er hat aber verlautbaren lassen, dass er dem Forum mit Interesse entgegensieht. Auch wenn das Forum sicher eine "Quelle der Inspiration" wird, könne jedoch weder Forum noch Task Force die Tätigkeit der neuen Arbeitsgruppe präjudizieren. Viel Zeit nach dem New Yorker Forum aber kann sich der UN-Generalsekretär nicht mehr lassen, denn die Uhr tickt bereits in Richtung WSIS II.
Bei WSIS ist ganz generell der Schwung von Genf jedoch verebbt. 15 Wochen nach dem Gipfel gibt es noch immer keinen Wegeplan für die Reise nach Tunis. Ein informelles Treffen Anfang März 2004 in Tunesiens Hauptstadt ging aus wie das Hornberger Schießen, auch weil noch völlig unklar ist, wer denn den zweiten Gipfel mit samt seiner Vorbereitung bezahlen soll. Die ITU ist überschuldet, die UN selbst hat dafür kein Budget, die Schweizer Eidgenossenschaft sieht ihre Bringschuld seit Dezember 2003 als erloschen an und Tunesien beruft sich darauf, dass es ein armes Entwicklungsland sei. Auch die anderen UN-Spezialorganisationen, die als Mitglieder des obersten Gipfelkoordinierungsorgans (HLSOC) noch mit im Boot sitzen, haben schon längst ihre Budgets für 2004 geschlossen und könnten allenfalls für 2005 stärker in die Pflicht genommen werden. So rennt die Zeit dahin und die Erwartung, dass WSIS II einen echten Mehrwert zu WSIS I produzieren kann, schwindet.
Das passt zum Thema "Internet Governance", denn die hektischen Positionskämpfe zwischen Zürich und New York können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Sache null Bewegung gibt. Und es wäre eine große Überraschung, wenn die beteiligten Gruppierungen sich bis zum November 2005 auf ein Modell geeinigt hätten. Dies wird schon aus dem Grund kaum realistisch sein, weil das "Memorandum of Understanding", das die US Regierung mit ICANN abgeschlossen hat, erst im Oktober 2006 ausläuft. Wenn es überhaupt eine Lösung hier gibt, meinte unlängst ein erfahrener Internet-Konferenzler in einer Kaffeepause, dann vielleicht bei WSIS III. Aber auch das glaube er eigentlich nicht, denn bei der Reise in den Cyberspace sei man immer irgendwie "unterwegs" und komme nie an.