Postcolonial Studies: Die Rechten im Aufschwung
Archivbild: Anti-Israel-Protest, Washington, DC, 2017. Foto: Ted Eytan / CC BY-SA 2.0 Deed
Kulturkampf: Anti-Israel-Proteste an US-Elite-UniversitÀten und der Vorwurf einer modischen Ideologie der "Entkolonialisierung". Die Linke ist in der Defensive. Warum das nicht so sein muss.
In den USA offenbart der Krieg zwischen Israel und der Hamas eine tiefe Kluft zwischen dem demokratischen Establishment und den progressiveren AnhÀngern der Partei. Biden verliert seit Beginn des Krieges in den Umfragen.
Plötzlich scheint laut einer Umfrage in den Swing States [1] eine erneute Trump-PrÀsidentschaft möglich.
So ist der Kriegsdiskurs in den USA lÀngst auch zu einem Kulturkampfthema geworden, von dem vor allem die politische Rechte profitiert.
Der Zeitgeist, die Demokraten und die Unis
Und nicht nur die Demokratische Partei ist unfÀhig, auf den Zeitgeist zu reagieren. Kaum irgendwo scheint die liberale Presse bei aller Meinungsvielfalt so weit von der oft studentischen Linken entfernt zu sein wie in den USA.
Die Proteste an den Ivy-League-UniversitĂ€ten [2] lassen die BefĂŒrworter der Bildungseinrichtung aufschrecken. Vor allem, wenn es wie in Harvard [3] zu offenen ErklĂ€rungen der Studentenschaft kommt, die Israel die "alleinige Schuld" am Krieg in Gaza gibt.
Die etablierten liberalen Medien in den USA scheinen eine klare Linie zu verfolgen, die mehr oder weniger mit der des AuĂenministeriums ĂŒbereinstimmt.
Medien sprechen von "fehlgeleiteter Debatte"
Dem steht eine jĂŒngere Ăffentlichkeit gegenĂŒber, deren Israelkritik zumindest teilweise als Reaktion auf die oft zu einseitige Berichterstattung der etablierten, traditionellen MedienhĂ€user verstanden werden kann. Diese wiederum tun die pro-palĂ€stinensischen Proteste als AuswĂŒchse einer fehlgeleiteten Dekolonisierungsdebatte ab.
Im Atlantic [4] Ă€uĂert Simon Sebag Montefiore sein UnverstĂ€ndnis ĂŒber einige der studentischen Proteste auf den Campi der Ivy-League-UniversitĂ€ten:
Wie können gebildete Menschen eine solche GefĂŒhllosigkeit rechtfertigen und eine solche Unmenschlichkeit gutheiĂen?
Hier ist alles Mögliche im Spiel, aber ein GroĂteil der Rechtfertigung fĂŒr die Tötung von Zivilisten beruht auf einer modischen Ideologie, der "Entkolonialisierung", die, wenn man sie fĂŒr bare MĂŒnze nimmt, die Verhandlung zweier Staaten ausschlieĂt â die einzige wirkliche Lösung fĂŒr diesen Jahrhundertkonflikt â und die ebenso gefĂ€hrlich wie falsch ist.
Simon Sebag Montefiore
Der Autor kritisiert hier vor allem eine vereinfachte linke Kritik, die in Kolonisatoren und Kolonisierte unterteilt. Ein Bild, das der Situation in Israel und PalĂ€stina schon deshalb nicht gerecht wird, weil es die Rolle der ehemaligen Kolonialmacht GroĂbritannien und die der USA vereinfacht.
Dekolonisierung als modische Ideologie?
Es ist riskant, Dekolonisierung als modische Ideologie abzutun, denn dahinter steht das weite akademische Feld der Postcolonial Studies, das zwar manchmal seltsame BlĂŒten treibt, aber unbestreitbar seinen Platz in der akademischen Welt der USA hat.
Vielleicht ist es die alte Sehnsucht nach einer internationalen Linken, die zur PopularitĂ€t der postkolonialen Theorie beitrĂ€gt. Wie einst der Marxismus, so birgt auch die postkoloniale Theorie in den Augen ihrer AnhĂ€nger das Potenzial, aus einer intersektionalen Perspektive Macht und UnterdrĂŒckungsverhĂ€ltnisse zu kritisieren, die an unterschiedliche IdentitĂ€ten gebunden sind.
Eine solche intersektionale Kritik [5] an bestehenden HerrschaftsverhĂ€ltnissen birgt, so zumindest die Hoffnung, ein echtes Potenzial fĂŒr klassen- und identitĂ€tsĂŒbergreifende antihegemoniale Bewegungen und damit fĂŒr nachhaltige systematische gesellschaftspolitische VerĂ€nderungen.
Der inhĂ€rente Anspruch der Postcolonial Studies ist eine umfassende Kritik an einem durch die Kolonialisierung geprĂ€gten eurozentristischen Weltbild [6], das bis heute unser VerstĂ€ndnis von "Race, Gender, Class" prĂ€gt. Und damit die UnterdrĂŒckung dieser marginalisierten Gruppen organisiert.
Ob die Postkoloniale Theorie dem von einigen ihrer AnhĂ€nger erhobenen Anspruch, alle bestehenden Macht- und HerrschaftsverhĂ€ltnisse zu beschreiben, wirklich gerecht wird, darĂŒber lĂ€sst sich streiten. Genauso wie immer wieder diskutiert werden muss, inwieweit eine materialistische Kritik dafĂŒr ausreicht.
Kritisches VerstÀndnis der Herrschaft
Was die Postkoloniale Theorie, die Queer Studies und der Neomarxismus Gramscis jedoch gemeinsam haben, ist ein kritisches VerstÀndnis eines hegemonialen Systems, das Diskurse bestimmt und formt und damit das Feld des erlaubten politischen Handelns absteckt.
Die etablierten US-Medien haben den Anspruch, die öffentliche Meinung in den USA nach Belieben zu beeinflussen - egal wie ĂŒbertrieben und lĂ€cherlich die öffentliche Selbstinszenierung auch sein mag. Kein Wunder, dass diese Medien es derzeit schwer haben, die Menschen auf der StraĂe zu erreichen.
Die intellektuelle Linke in den USA hingegen ist vielleicht zu sehr darauf fixiert, dieses Spiel zu durchschauen, und nimmt eine reine Gegenposition zu den traditionellen Medien ein. Das Ergebnis ist eine klaffende LĂŒcke zwischen denen, die sich als Meinungsmacher verstehen, und denen, deren Aktivismus zumindest teilweise eine Kritik an der liberalen Hegemonie ist.
Das Problem der Liberalen ist, dass ihre bestehende Hegemonie nicht mehr ausreicht, um den linksliberalen Diskurs vollstĂ€ndig zu bestimmen. FĂŒr die Demokraten könnte sich dieser Verlust der Deutungshoheit als politische Katastrophe erweisen, wie Bidens Umfragewerte zeigen.
Doch die Rechte in den USA weiĂ, wo sie steht: auf dem Schlachtfeld der Metapolitik. Wie die New York Times [7] berichtet, ist es einmal mehr Gouverneur Ron DeSantis, der der kulturkĂ€mpferischen Rhetorik Taten folgen lĂ€sst.
Auf Anweisung von Gouverneur Ron DeSantis hat Florida auch die SchlieĂung von Ortsgruppen der Studierenden fĂŒr Gerechtigkeit in PalĂ€stina an staatlichen UniversitĂ€ten angeordnet. Unter Berufung auf dasselbe Instrumentarium sagte DeSantis: "Das ist materielle UnterstĂŒtzung des Terrorismus, und das wird im Staat Florida nicht toleriert, und es sollte in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht toleriert werden.
Aufspaltung der Linken
Es scheint fast so, als hĂ€tten die reaktionĂ€ren KrĂ€fte ein besonderes Interesse daran, den Nahost-Konflikt zu Hause als politischen Grabenkampf zwischen rechten und linken politischen Lagern auszutragen. Politisch kann eine solche VerhĂ€rtung der Fronten den Republikanern nur nĂŒtzen.
Denn das liberale Establishment und die progressive Linke in den USA scheinen durch den Nahost-Konflikt noch mehr als zuvor voneinander getrennt.
Israel-UnterstĂŒtzung
Aber auch den Menschen in Israel ist nicht geholfen, wenn das Existenzrecht ihres Staates immer mehr ausschlieĂlich an eine von Washington, London, Paris und Berlin verwaltete, aber inzwischen bröckelnde Hegemonialordnung gebunden wird.
Die israelfreundliche Haltung der Rechten in den USA erscheint noch zynischer, wenn man bedenkt, wie sehr die Ideologie der breiteren politischen Bewegung dort von antisemitischen Verschwörungstheorien durchdrungen ist.
Die UnterstĂŒtzung der evangelikal dominierten Religious Right grĂŒndet keineswegs auf echter Sorge um Israelis und/oder JĂŒdinnen.
FĂŒr die Evangelikalen ist eine vollstĂ€ndige RĂŒckkehr des jĂŒdischen Volkes nach Israel notwendig, um die Wiederkunft Christi, die Verdammnis und das Ende aller Tage einzuleiten. Das bedeutet aber nicht, so die Meinung eines GroĂteils der Evangelikalen [8] in den USA, dass sie am Ende aller Tage mit in den Himmel auffahren.
Antisemitismus bei den Rechtskonservativen
Diese Ăberzeugung spiegelt die Haltung der Rechtskonservativen in den USA wider. Antisemitismus ist fĂŒr sie kein Problem, sondern Mittel zum Zweck - eine Waffe gegen politische Gegner und Minderheiten.
Die Demokraten sind wie immer hilflos und spulen, bestÀrkt durch die Berichterstattung vieler etablierter Medien und ohne Bezug zu ihrer einstigen Basis, ein Programm ab, das die Meinungsverschiebungen in der amerikanischen Gesellschaft weitgehend ignoriert.
Diese Ignoranz bestĂ€rkt Teile der US-amerikanischen Linken in ihrem GefĂŒhl, sich in einem internationalen Kampf gegen die kulturelle und politische Hegemonie der ehemaligen KolonialmĂ€chte zu befinden, der entlang altbekannter UnterdrĂŒckungsmuster verlĂ€uft.
URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9354971
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.nytimes.com/2023/11/05/upshot/polls-biden-trump-2024.html
[2] https://www.reuters.com/world/us/us-colleges-become-flashpoints-protests-both-sides-israel-hamas-war-2023-10-13/
[3] https://www.reuters.com/world/us/pro-palestinian-letter-harvard-students-provokes-alumni-outrage-2023-10-10/
[4] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2023/10/decolonization-narrative-dangerous-and-false/675799/
[5] https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/intersektionalitaet-und-hegemonie/
[6] https://www.bpb.de/themen/kolonialismus-imperialismus/postkolonialismus-und-globalgeschichte/240817/postkolonialismus-und-intellektuelle-dekolonisation/
[7] https://www.nytimes.com/2023/11/04/opinion/israel-palestine-speech-debate.html
[8] https://www.jpost.com/diaspora/antisemitism/50-percent-of-american-evangelicals-say-jews-dont-go-to-heaven-686787
Copyright © 2023 Heise Medien