Preise sind nicht alles: Warum wir eine neue ökonomische Bewertung brauchen
Seite 2: Der Begriff des Maßes
Hegel und Marx bezeichnen mit dem Begriff des Maßes die Einheit von Qualität und Quantität eines Inhalts unter Voraussetzung des Primats der Qualität.
Die Größe aber und deren Änderung als bloße Größe ist eine für das Qualitative gleichgültige Bestimmtheit, wenn sie sich nicht als Maß geltend macht. Das Maß nämlich ist die Quantität, insofern sie selbst wieder qualitativ bestimmend wird, so dass die bestimmte Qualität an eine quantitative Bestimmtheit gebunden ist.
Hegel 13, 181
Ein anschauliches Beispiel für das qualitative Maß ist die Kunst.
Ein lyrisches Gedicht hat in seiner Beschaffenheit das Maß seiner Größe. Wenn die Empfindung sich breit macht, so wird sie langweilig. Nichts ist weniger poetisch als das Langweilige. Wenn ein lyrisches Gedicht lang ist, so hört es auf, poetisch zu wirken und zu sein, oder es verliert wenigstens an seiner poetischen Geltung.
Umgekehrt braucht ein erzählendes Gedicht, um anschaulich darzustellen, eine gewisse Fülle des Spielraums, die ein ausgedehntes und bequemes Größenmaß fordert. Man kann nicht in derselben Kürze erzählen als empfinden. Ein anderes qualitatives Maß hat die lyrische Poesie, ein anderes die epische.
Kuno Fischer (Fischer 1865, 315)
Kuno Fischer gehörte wie Johann Eduard Erdmann zu denjenigen ersten Hegelschülern und Lehrern des Hegelschen Denkens, die im Unterschied zu vieler heutiger Literatur über Hegel weder in der Paraphrase steckenbleiben, noch im Detail oder in der Subtilitätenhäkelei sich verlieren.
Maßverhältnisse betreffen in der nachkapitalistischen Gesellschaft etwa die Proportionen zwischen den Bedürfnissen der Arbeitenden nach Lebensqualität innerhalb der Arbeitszeit und den Bedürfnissen der Konsumenten nach guter Versorgung mit Produkten.
Das ist ein Beispiel von vielen, das zeigt: Die Vorstellung, mit elektronischer Verarbeitung und Kommunikation sei die Koordination zwischen Nachfrage und Angebot eigentlich kein großes Problem mehr, stellt sich nicht den zugrunde liegenden Fragen der gesellschaftlichen Beratung, Erwägung und Entscheidung über die vielen konkreten Verhältnisse zwischen Quantität und Qualität.
Der kurz dargestellte Begriff des "Maß" macht das problematische Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Dimensionen (Quantität und Qualität) deutlich.
Wer sich dieses Problem vergegenwärtigt, ist zwar über die naive Erfolgsgewissheit eindimensionaler Herangehensweisen einen entscheidenden, aber nur begrifflichen Schritt hinaus. Aus ihm folgt noch nicht, wie Quantität und Qualität nicht nur bei einem Inhalt, sondern in der multilateralen wirtschaftlichen Koordination zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können.
Die offenen Probleme der Aggregation
Die vielen konkreten (Maß-)Verhältnisse zwischen Quantitäten und Qualitäten werden auch in jeder Nachhaltigkeits- und Gemeinwohlbilanz zum Problem. Solche Bilanzen wollen verschiedene Qualitäten in Punktwerten darstellen. Nimmt die Quantifizierung von Qualitäten den Qualitäten aber nicht das, was sie qualitativ ausmacht?
Fragen wir z. B. nach einer zugleich übersichtlichen und ihrem Gegenstand angemessenen Öko-Buchhaltung. Sie bewertet die Mengen
... mit Hilfe von sog. Äquivalenzkoeffizienten. Dies sind "Gradmesser der ökologischen Knappheit der betreffenden Einwirkungsart (Erschöpfungsgrad bei Rohstoffreserven, Beanspruchungsgrad des Aufnahmevermögens der Umwelt bei Emission)" (Müller-Wenk 1978, 17).
Durch Multiplikation von Einwirkungsmenge und je spezifischem Äquivalenzkoeffizienten werden ökologische Rechnungseinheiten (RE) errechnet, die auf Grund einheitlicher Dimension addier- und subtrahierbar sind. Man erhält "eine Maßzahl der Gesamteinwirkung des Unternehmens auf die natürliche Umwelt während der entsprechenden Periode" ' (Ebd.).
Freimann 1984, 28
Preise weisen für die Öko-Buchhaltung den Nachteil auf, nur das an Zusammenhängen der Natur erfassen zu können, was "unmittelbar geldwirksam" ist. Die ökologischen Recheneinheiten schaffen "eine künstliche Dimension, die helfen soll, die Umwelteinwirkung eines Unternehmens zu aggregieren und mit derjenigen anderer Unternehmen insbesondere in anderen Branchen vergleichbar zu machen" (Ebd., 29).
Genau darum kommt eine nachkapitalistische Gesellschaft nicht herum. Für die Proportionierung der verschiedenen Arbeiten, Leistungen und Güter müssen diese auch quantitativ zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.
Zum Problem wird, dass auch Bilanzen, die Qualitäten berücksichtigen, wie die Nachhaltigkeits- und Gemeinwohlbilanzen, "durch eine Punktbewertung der unterschiedlichen Qualitätsdimensionen gleichsam hinten herum Elemente der Gelddimension wieder einführen. Das hat insbesondere die Konsequenz, dass eine Aufrechnung unterschiedlicher qualitativer Dimensionen gegeneinander möglich wird, die geeignet ist, sowohl Mängel in der einen Dimension als auch Erfolge in der anderen zu nivellieren" (Ebd., 41).
Ein Unternehmen, das die Recylingfreundlichkeit seiner Produkte betreffend gute Punktwerte, aber in Hinsicht auf die Schadstoffabgabe seiner Produktionsverfahren schlechte Punktwerte erzielt, erzielt eine gleiche Summe an Punkten wie ein Unternehmen, das in beiden Dimensionen eher mittlere Punktwerte hat.
Daran zeigen sich die Grenzen einer quantitativen Aggregierung. Auf der anderen Seite weisen qualitative Informationen den Nachteil auf, nur "katalogartig" aufgelistet werden zu können und keine "Möglichkeit einer kompakten, übersichtlichen Handhabung" zu bieten (Ebd., 41).
Genau vierzig Jahre später hat sich die Diskussionslage anscheinend nicht gravierend verändert. Sebastian Dullien ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) bei der Hans-Böckler-Stiftung. Er stellt fest:
Es ist sehr wichtig, dass alternative Maßzahlen entwickelt werden, um zu zeigen, dass das BIP kein abschließendes Maß für unseren Wohlstand ist. Allerdings gibt es noch keine gute Antwort darauf, wie so ein Index aussehen und was er beinhalten sollte.
Zum einen wird versucht, einen ganzheitlichen alternativen Index zu schaffen, zum anderen versucht man einen sogenannten Dashboard-Ansatz. Das ist wie beim Auto-Armaturenbrett, wo verschiedene Informationen abgebildet werden. Dort würden dann auch Kategorien wie Umweltverschmutzung oder Lebenserwartung angezeigt.
Das Problem bei einem einheitlichen Alternativindex ist, dass man alles in Geldwert darstellen müsste. Man müsste beispielsweise bepreisen, was eine Vogelart wert ist. Das ist schwierig und angreifbar. Beim Dashboard-Ansatz können die Abbildungen sehr komplex und unübersichtlich werden.
Dullien 2024