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Prigoschin, Wagner und Russland: Der Ein-Tages-Aufstand

Harald Neuber

Ausreise genehmigt: Jewgeni Prigoschin. Bild: Telegram

Söldner blasen Marsch auf Moskau ab, Chef geht ins Exil. Was das mit dem Ukraine-Krieg zu tun hat. Und wie Putin und Selenskyj reagieren.

Die Rebellion des russischen Oligarchen und Militärunternehmers Jewgeni Prigoschin gegen die Regierung unter Präsident Wladimir Putin war am gestrigen Samstag so schnell vorbei, wie sie begonnen hat. Das zeigte sich unter anderem in den Live-Tickern, mit denen auch Deutschland große Redaktionen das Geschehen begleiteten.

Noch um 18:40 Uhr berichtete eine führende deutsche Nachrichtenagentur, der "sich Moskau nähernde Wagner-Konvoi umfasst etwa 5.000 Kämpfer". Dies habe "eine Person im Umfeld der Separatisten-Führung in Donezk" berichtet, eines "Insiders", dessen Angaben sich "in der Vergangenheit als verlässlich erwiesen" hätten.

34 Minuten später hieß es unter Berufung auf das Präsidialbüro von Belarus, Prigoschin sei bereit, den Vormarsch seiner Kämpfer in Russland zu stoppen. Noch einmal eine gute Viertelstunde später meldete die gleiche Agentur, "Prigoschin kündigt eine Rückkehr seiner Söldner in die Stützpunkte an".

Mit Prigoschins "Marsch der Gerechtigkeit" war in der Nacht zum Samstag ein seit Monaten offensichtlicher Machtkampf zwischen dem Söldnerchef und der russischen Armeeführung eskaliert. Der 62-jährige Militärunternehmer warf Verteidigungsminister Sergej Schoigu vor, für einen Angriff auf ein Militärlager der Wagner-Kämpfer verantwortlich zu sein. Zuvor schon hatte er Schoigu wiederholt scharf kritisiert und ihm Verfehlungen im Krieg gegen die Ukraine vorgehalten.

Obwohl das Verteidigungsministerium in Moskau den Angriff dementierte, mobilisierte Prigoschin seine Truppen gen Moskau. Es gehe darum, die dortigen Verantwortlichen zu bestrafen. Eine Vorhut der Söldner soll sich zuletzt nur noch rund 200 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt befunden haben.

Doch innerhalb eines Tages war alles vorbei. Am Abend wurde bekannt, dass Progischin nach Belarus ins Exil gehen wird. Seine Kämpfer kehrten in ihre Lager zurück. Offizielle Verbände hatten sich der Aktion offenbar nicht angeschlossen.

Ebenfalls am Samstag hatte sich der russische Präsident Wladimir Putin in einer Rede an die Nation gewandt, die wir im Folgenden ebenso dokumentieren wie einen Kommentar des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, den er auf Twitter veröffentlichte.

Putin: "Dolchstoß in den Rücken unseres Landes"

"Ich appelliere an die Bürgerinnen und Bürger Russlands, an die Angehörigen der Streitkräfte, der Strafverfolgungsbehörden und der Sonderdienste, an die Soldaten und Kommandeure, die jetzt in ihren Stellungen kämpfen und die Angriffe des Feindes heldenhaft abwehren.

Ich habe auch heute mit den Kommandeuren aller Regionen gesprochen. Ich wende mich ebenso an diejenigen, die durch Täuschung oder Drohungen in dieses verbrecherische Spiel hineingezogen und die zu diesem schweren Verbrechen des bewaffneten Aufstandes gedrängt worden sind.

Russland ficht heute einen schweren Kampf um seine Zukunft aus, indem es die Aggression der Neonazis und ihrer Hinterleute abwehrt. In der Tat ist die gesamte Militär-, Wirtschafts- und Informationsmaschinerie des Westens gegen uns gerichtet.

Wir kämpfen für das Leben und die Sicherheit unseres Volkes, für unsere Souveränität und Unabhängigkeit. Für das Recht, Russland zu sein und zu bleiben - ein Staat mit einer tausendjährigen Geschichte.

Dieser Kampf, in dem sich das Schicksal unseres Volkes entscheidet, erfordert die Einheit aller Kräfte, Einigkeit, Konsolidierung und Verantwortung. Dass alles, was uns schwächt, jede Art von Zwietracht, die unsere äußeren Feinde nutzen können und nutzen, um uns von innen heraus zu untergraben, beiseitegelegt werden muss.

Daher stellen die Aktionen, die unsere Einheit spalten, im Grunde Verrat an unserem Volk dar, an unseren Soldaten, die gerade an der Front kämpfen. Es ist ein Dolchstoß in den Rücken unseres Landes und unseres Volkes.

Ebenso ein Schlag wurde Russland 1917 versetzt, als das Land im Ersten Weltkrieg kämpfte. Doch der Sieg wurde dem Land gestohlen. Intrigen, Zankereien und politische Machenschaften hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zum größten Schock, zur Zerstörung der Armee und des Staates, zum Verlust riesiger Territorien. Das Ergebnis war die Tragödie des Bürgerkriegs.

Russen töteten Russen, Brüder töteten Brüder. Profit zogen daraus allen möglichen politischen Abenteurer und ausländischen Kräfte, die das Land spalteten und zerrissen.

Wir werden nicht zulassen, dass sich so etwas wiederholt. Wir werden sowohl unser Volk als auch unsere Staatlichkeit vor allen Bedrohungen schützen. Auch vor internem Verrat.

Und was wir erlebt haben, war eben Verrat. Unvernünftiger Ehrgeiz und Eigennutz führten zum Verrat. Verrat an ihrem Land, ihrem Volk und der Sache, für die die Kämpfer und Kommandeure der Gruppe Wagner an der Seite unserer anderen Einheiten und Verbände gekämpft haben und gestorben sind.

Die Helden, die Soledar und Artemovsk, Städte und Ortschaften im Donbass, befreit haben, kämpften und gaben ihr Leben für Noworossija, für die Einheit der russischen Welt. Ihr Name und ihr Ruhm wurden auch von denen verraten, die versuchen, einen Aufstand zu organisieren und das Land in Richtung Anarchie und Brudermord zu treiben. Letztendlich zur Niederlage und Kapitulation.

Ich wiederhole: Jeder innere Aufruhr ist eine tödliche Bedrohung für unsere Staatlichkeit, für uns als Nation. Es ist ein Schlag für Russland, für unser Volk. Und unsere Maßnahmen zur Verteidigung des Vaterlandes gegen eine solche Bedrohung werden hart sein.

Jeder, der bewusst den Weg des Verrats eingeschlagen hat, der einen bewaffneten Aufstand vorbereitet hat, der den Weg der Erpressung und der terroristischen Methoden eingeschlagen hat, wird eine unvermeidliche Strafe erleiden, wird sich sowohl vor dem Gesetz als auch vor unserem Volk verantworten müssen.

Den Streitkräften und anderen staatlichen Stellen wurden die erforderlichen Befehle erteilt. In Moskau, im Moskauer Gebiet und in einer Reihe anderer Regionen werden zusätzliche Antiterrormaßnahmen ergriffen.

Es werden auch entschiedene Schritte unternommen, um die Lage in Rostow am Don zu stabilisieren. Dies ist nach wie vor schwierig, da die Arbeit der zivilen und militärischen Behörden effektiv blockiert wird.

Als Präsident Russlands und Oberbefehlshaber, als Bürger Russlands werde ich alles tun, um das Land zu verteidigen, um die verfassungsmäßige Ordnung, das Leben, die Sicherheit und die Freiheit seiner Bürger zu schützen.

Diejenigen, die die militärische Meuterei organisiert und vorbereitet haben, die die Waffen gegen ihre Mitstreiter erhoben haben, haben Russland verraten. Und sie werden dafür zur Rechenschaft gezogen.

Ich fordere diejenigen, die in dieses Verbrechen hineingezogen werden, auf, nicht den fatalen und tragischen, einzigartigen Fehler zu begehen, sondern die einzig richtige Entscheidung zu treffen – sich nicht mehr an kriminellen Aktionen zu beteiligen.

Ich glaube, dass wir das, was uns lieb und heilig ist, bewahren und verteidigen werden, und dass wir gemeinsam mit unserem Vaterland alle Prüfungen überwinden und noch stärker werden."

Selenskyj: "Schwäche Russlands ist offensichtlich"

"Jeder, der den Weg des Bösen wählt, zerstört sich selbst. Wer Militärkolonnen entsendet, um das Leben eines anderen Landes zu zerstören, und sie nicht daran hindern kann, zu fliehen und zu verraten, wenn dieses Leben sich zur Wehr setzt. Wer mit Raketen terrorisiert und sich, wenn sie abgeschossen werden, dazu herablässt, Shahed-Drohnen einzusetzen.

Der die Menschen verachtet und Hunderttausende in den Krieg schickt, um sich schließlich in der Region Moskau vor denen zu verbarrikadieren, die er selbst bewaffnet hat.

Lange Zeit bediente sich Russland der Propaganda, um seine Schwäche und die Dummheit seiner Regierung zu verschleiern. Und jetzt ist das Chaos so groß, dass keine Lüge es verbergen kann.

All das trifft auf eine Person zu, die immer wieder das Jahr 1917 heraufbeschwört, obwohl sie nichts anderes zustande bringt als ebendies.

Die Schwäche Russlands ist offensichtlich. Schwäche in vollem Umfang. Und je länger Russland seine Truppen und Söldner auf unserem Land stationiert lässt, desto mehr Chaos, Schmerz und Probleme wird es später selbst erleiden.

Offensichtlich ist auch: Die Ukraine ist in der Lage, Europa vor der Ausbreitung des russischen Bösen und Chaos zu schützen.

Wir bewahren unsere Widerstandsfähigkeit, Einheit und Stärke.

Alle unsere Kommandeure, alle unsere Soldaten wissen, was zu tun ist.

Ruhm für die Ukraine!"


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