Projektionsfläche Pakistan
Die muslimische Nation war bereits lange vor ihrer Staatsgründung eine Projektionsfläche der Weltwirtschaft
Heutzutage wird Pakistan als Wirtschaftsstandort gepriesen, was erstaunlich ist angesichts der kursierenden Schreckensbilder (Im Kopf von Daniel Pearl) und der unstabilen Lage im Land. Erstaunlicher ist vielleicht nur noch, dass das Territorium bereits vor 160 Jahren eine Projektionsfläche für die Phantasien einer immer festere Konturen annehmenden Weltwirtschaft war, die ihr Zentrum in London hatte.
In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts rückten die "muslimischen Gebiete" einmal mehr in den spekulativen Einzugsbereich des Britischen Imperiums. Bezeichnend für die Aufbruchstimmung jener Zeit war die Annektierung der nördlichen Provinz Sind. Zwei unerfüllbare Träume motivierten diesen Vorstoß. Zunächst der Traum einer stabilen Grenze. Darüber hinaus der Traum eines asiatischen Wirtschaftszentrums im Nordwesten Indiens.
Der Wunsch nach einer stabilen Grenze war nicht neu. So argumentierten die meisten britischen Strategen in den Reihen des Militärs und der Politik, dass sich die Position Englands niemals stabilisieren würde, solange noch Provinzen in Indien existierten, die dem kolonialen Regime feindlich gegenüberstanden. So wurden sie stets als Unruheherd sowie Quelle der Instabilität ausgewiesen und dienten als Legitimationsmittel, den Eroberungsfeldzug in Indien fortzusetzen - ein nimmer endender Prozess, bei dem man sich immer wieder "just one annexation away from stability" wähnte.
Allmachtsfantasien am Indus
Der Indus ist längster Strom Vorderindiens, Hauptstrom Pakistans, 3200 km, Einzugsgebiet rund 1,16 Mio. km2; entspringt im Transhimalaja (Tibet; China) 5182m über dem Meeresspiegel, durchbricht den Himalaja, tritt in das nördliche Industiefland, den Pandschab (Fünfstromland), ein und bildet das Mündungsgebiet (Delta, 7800 km2) unterhalb von Hyderabad. Die Wasserführung schwankt wegen des Monsunregens. Durch Stauwerke (Tarbeladamm) und Kanäle von insgesamt 60000 km Länge versorgt er das größte landwirtschaftliche Bewässerungsgebiet der Erde. Im Indus Water Treatment Act von 1960 wurde die Wasserversorgung zwischen den Anliegerstaaten geregelt.
Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001
Diese militär-strategischen Interessen waren in letzter Konsequenz immer auch wirtschaftliche Interesse. Schließlich sollte in erster Linie das Handelsnetz stabiler gemacht werden. Und so wurde die Eroberung von Sind durch den Willen motiviert, dort ein Handelszentrum zu etablieren. Major General Sir Charles Napier, der 1842 das militärische Kommando der ostindischen Kompanie in Sind übernahm und als willkürlich handelnder Befehlshaber und nicht zuletzt als "romantic in nature" beschrieben wird, als "a mind obsessed with visions of imperial grandeur and public acclaim, full of personal comparisons with the great men of history like Napoleon and Alexander" , spekulierte jedenfalls darauf, dass der Indus River als Schnittstelle für den Handel in ganz Asien dienen könnte.
Und so überraschte es nicht, dass Napier, der sich als zukünftiger "ruler of all Asia" sah, sich bei seiner Lagebeschreibung von Sind weniger an lokalen Besonderheiten, als an universalen Problemen orientierte:
Is it possible that such a state of things can long continue? A Government hated by its subjects, despotic, hostile alike to the interests of the English, and of its own people; a Government of low intrigue, and above all, so constituted that it must, in a few years, fall to pieces by the vice of its own construction; will such Government, I ask, not maintain an incessant petty hostility against us? Will it not incessantly commit breaches of treaties - those treaties by which alone, we have any right to remain in this country; and therefore must rigidly uphold? I conceive that such a state of political relations could not last, and the more powerful Government would, at no very distant period, swallow up the weaker. If this reasoning be correct, would it not be better to come to the results at once?
Diesen Worten sollten Taten folgen. Nachdem er die in Sind zuständige Vertretung und damit auch die Kommunikationsinfrastruktur deaktiviert hatte, war Napier gewissermaßen mit einer carte blanche ausgestattet. Auf Grund der dadurch bedingten Kommunikationsbehinderung hatte er quasi unbegrenzte Macht und konnte handeln wie er wollte.
Das Scheitern der Utopie
Der machthabende Generalgouverneur Ellenborough (1842-44), der Napier bereits alle Kompetenzen übertragen hatte, träumte derweil die Zukunft der Region in rosigen Farben herbei:
My ultimate object is the entire freedom of internal trade throughout the whole territory between the Hindoo Coosh, the Indus and the sea, and I only await the favourable occasion for effecting this purpose and for introducing uniformity of currency within the same limits... These various measures which would impart to the whole people of India the most desirable of advantages desired from Union under the same Empire, it may require much time to effect.
Es waren Visionen einer prosperierenden Zukunft, die - herbeigeführt in Sind - ganz Indien beeinflussen würden, und so galt es keine Zeit zu verlieren. Ellenborough beantragte beim Gericht sechs Dampfschiffe, die britische Güter und militärische Vorräte entlang des Indus hoch in den Nordwesten fahren sollten, um, wie er sich ausdrückte, Zeit, Leben und Geld zu sparen. In seiner Vorstellung würden in kürzester Zeit sogar Dampfschiffe mit britischen Waren in Bombay in den Nordwesten auslaufen. Und so befahl er Napier, dass, sobald Sukkur eingenommen war, riesige Lagerhallen für Händler errichtet werden sollten, die die Schönheit des Ostens mit der Fortfikationsarchitektur des Westens kombinieren sollten.
Sukkur, Bukkur und Rohri sollten im Zuge dessen als Schnittstelle des Handels zu einem einzigen Ort zusammenfließen, den man "City of Victoria on the Indus" nennen wollte. Doch konnte die Befahrbarkeit des Indus in den darauf folgenden Jahren nicht entscheidend verbessert werden. Folglich musste sich ein weiterer Generalgouverneur, enttäuscht darüber, den Fluss nicht instrumentalisieren zu können, geschlagen geben. Kurz, Ellenborough erlag den gleichen Illusionen, denen auch schon seine Vorgänger, mit Blick auf die Möglichkeiten den Indus zur Handelsoase zu verwandeln, aufgesessen waren.
Das Außen von "British India"
Sind, hier stellvertretend für die "muslimischen Gebiete", festigte damit deren Position als "Außen" von "British India". Letzteres war in der Mitte des Jahrhunderts bereits seit mehreren Hundert Jahren von europäischen Kolonialherren und seit Mitte des 18. Jahrhunderts von den Briten geformt worden: Eine ökonomische, politische und kulturelle Matrix war im indischen Subkontinent verankert worden, was die Briten später dazu veranlasste, vom "politischen System Indien" zu sprechen.
Erst als dieses System flächendeckend angelegt worden war, begannen die Briten nach und nach die "muslimischen Gebiete" zu annektieren. Die Gegenden im Nordwesten von Indien waren die letzten, die der britischen Kontrolle unterstellt wurden: Die eingangs beschriebene Provinz Sind im Jahre 1843, Punjab im Jahre 1849 und Teile der "Frontier Province" und "Baluchistan" im späten 19. Jahrhundert.
So entkamen die muslimischen Gebiete den frühen britischen Experimenten im Namen des sozialen Wandels. Stattdessen blieben sie entweder von Anfang an (wie im Falle von Sind) oder in Folge einer post-aufständischen Abmachung (wie im Falle von Oudh) in der Hand ihrer ursprünglichen Herrscher, um die dortige (wirtschaftliche) Stabilität und Sicherheit nicht zu gefährden. Bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts konnten die "muslimischen Gebiete", wohlgemerkt nicht selten zu ihrem Nachteil, eine eigene wirtschaftliche, politische und kulturelle Identität wahren.
Vor allem im späten 19. Jahrhundert brachte ihnen die Sonderstellung den Ruf der Rückständigkeit ein. 50 Jahre später kam es zur Abspaltung und zur Gründung des Staates Pakistan. Ein Einschnitt, der heute noch immer eine offene Wunde ist: Der Konflikt in Kashimir, der seit den Tagen der Spaltung andauert und der neben dem Palästina-Konflikt der längste und blutigste Konflikt unserer Zeit ist, kann als das primäre Schlachtfeld des Trennungstraumas begriffen werden.
Obwohl stets zahlreiche Gründe herangeführt werden und beide Seiten einander die Schuld in die Schuhe schieben, muss an dieser Stelle an die Kolonialpolitik der Briten als Ursache für die Spaltung erinnert werden. Nun sind bekanntlich die Vereinigten Staaten von Amerika in die Fußstapfen Englands getreten und es ist eine gewisse Ironie der Geschichte, dass sie die Projektionsarbeit der Engländer fortführen und derzeit ein ähnliches Pakistan-Bild konstruieren wie damals die Briten.
Déjà Vu im 21. Jahrhundert
Im Sinne einer Abkehr von dem "foreign-policy-as-social-work"-Motto der Clinton-Regierung unterstützen die USA dieser Tage nicht mehr die freien Marktwirtschaften von Morgen, sondern strategische Partner beim Krieg gegen den Terror. So kommt die Kapitalhilfe, die einst Argentinien, Brasilien und Mexiko zufloss, der Türkei und Pakistan zu. Pakistan wird im Zuge dieser gewandelten US-Außenpolitik als attraktives Investitionsland hochgehalten. Das Risiko in einem vermeintlichen Schurkenstaat Geschäfte zu machen, wird nicht als Abschreckungs-, sondern als Lockmittel kommuniziert.
Das spezifisch Neue in diesem Zusammenhang, ist zunächst einmal, dass sich die Perspektive der Projektion geändert hat: Damals guckte man von London über Kalkutta, die Hauptstadt British-Indiens, auf die Region, die später Pakistan genannt werden sollte. Heute guckt man direkt von Washington auf diese Region, die, und das gibt dieser ungebrochenen Perspektive eine wirklich neue Qualität, die damaligen Fremdzuschreibungen mittlerweile zu ihrem offiziellen Nationalprofil erhoben hat.
Wie Raheela Tajwar aus dem pakistanischen Handelsministerium vor kurzem schrieb:
If Pakistan develops a national trade policy, it can open a new road to development, because Pakistan is situated on one of the most important trade routes of the world. The country shares borders with China to the North, Iran and Afghanistan to the West, and India to the East, while the Arabian Sea to the South offers a vast coastline for maritime trade. Itself a country with a population of 140 million, Pakistan also has easy access to the markets in Iran, Afghanistan, the CARs and the Middle East. Pakistan can also be a transit trade route for East - West in this era of globalization. New dawn is not far away if we just think for a while.
Dieses Selbstverständnis macht die Tatsache, dass Pakistan heute einmal mehr als utopische Schnittelle der Weltwirtschaft gehandelt wird, besonders denkwürdig: Die Kerben der Spaltung werden dadurch eigentlich nur vertieft.