Proteste in Frankreich: Warum es dabei auch um die Demokratie geht
Themen des Tages: Neuer Bericht über Misshandlung von Flüchtlingen in Libyen. Die Aufspaltung der Bahn. Zwischen USA und Iran könnte es zu einem Kurswechsel kommen.
Liebe Leserinnen und Leser,
1. Ein aktueller Bericht zeigt, wie Flüchtlinge in Libyen misshandelt werden,
2. Die Deutsche Bahn soll ab 2024 aufgespalten werden,
3. Zwischen den USA und dem Iran könnte es zu einem Kurswechsel kommen.
Doch der Reihe nach.
Misshandlung von Migranten in Libyen
Die Lage von Flüchtlingen in Libyen ist grauenhaft, schreibt Telepolis-Autor Thomas Pany in seinem heutigen Artikel. Er beruft sich dabei auf einem 53-seitigen Bericht, der im Auftrag des UN-Menschenrechtsrates erstellt wurde.
Auch der EU würden darin Vorwürfe gemacht. Die Finanzhilfe für die Küstenwache wie auch die Ausbildung unterstützte ein mörderisches System, das auf illegalen Praktiken mit Migranten vor der Küste Libyens und überaus harten, brutalen und menschenunwürdigen Bedingungen in Zentren beruht, in denen Migranten in Libyen festgehalten werden.
Zu den aufgelisteten Verbrechen gegen die Migranten gehören demnach: Ausbeutung von Migranten in Form von Menschenhandel, Versklavung, sexuelle Sklaverei, Zwangsarbeit, Inhaftierung, Erpressung, Diebstahl von Privateigentum der Migranten.
Die Bahn soll in Deutschland aufgespalten werden
Zum 1. Januar 2024 soll das Schienennetz der Bahn in eine separate, wie es heißt, "gemeinwohlorientierte" Infrastrukturgesellschaft werden, schreibt Telepolis-Autor Ralf Wurzbacher. Damit würde es vom Eisenbahnbetrieb getrennt werden. Die Erlöse der Gesellschaft sollen demnach komplett in den Erhalt und die Modernisierung des Schienennetzes fließen.
Es wird allerdings bezweifelt, dass damit alles besser wird. Das Bündnis "Bahn für Alle" äußerte sich demnach am Dienstag bei einem Pressefrühstück in Berlin zu den Gefahren des Vorhabens und warnte dabei vor "britischen Verhältnissen". Das Vereinigte Königreich lieferte mit der Zerschlagung der British Rail Mitte der 1990er-Jahre den Sündenfall einer desaströsen und schlussendlich gescheiterten Bahnprivatisierung.
Auch dort seien Schiene und Betrieb getrennt worden, wobei seit 2002 die in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft befindliche und nicht gewinnorientierte Network Rail Gleise, Signale, Tunnel, Brücken, Bahnübergänge und Bahnhöfe bewirtschaftete und damit den bis dahin tätigen Privatbetreiber Railtrack abgelöst habe. In dessen Verantwortung sei die Instandhaltung des Netzes sträflich vernachlässigt worden und weshalb sich drei schwere Zugunglücke ereigneten mit insgesamt mehr als 40 Todesopfern.
Kurswechsel zwischen USA und Iran
Zwischen den USA und dem Iran schwelt ein Konflikt, der auch in Syrien ausgetragen wird, schreibt Telepolis-Autos Leon Gerleit in seinem aktuellen Artikel. Dabei haben die US-Streitkräfte zuletzt mehrere Luftangriffe in Ost-Syrien durchgeführt. Dabei bestünde für die USA auch die Möglichkeit, eine pragmatischere Politik in der Region zu praktizieren. Dafür müsste aber von der alten Rache-Politik abgesehen werden.
Halten die USA aber an ihrer Politik fest, könnten sie in der Region an Ansehen verlieren.
Besonders da der Iran bei seinen Nachbarn längst nicht mehr so unbeliebt ist, wie er einst war, wie die erneuten Annäherungen mit US-Verbündeten wie Saudi-Arabien zeigen. Politisch würde es Türen für pragmatische Lösungen öffnen, wenn die Biden-Regierung zur Einsicht käme, dass der bisherige Kurs der Unversöhnlichkeit den eigenen Interessen in der Region abträglich ist.
Washington sollte weiter klare Grenzen gegenüber Iran und dessen Politik ziehen – mit einer Abkehr von einer Iran-Politik, die weiter von später Rache motiviert ist.
Kampf um Wohlstand und Demokratie in Frankreich
In Frankreich brodelt es, Hunderttausende sind auf den Straßen und protestieren gegen die Rentenreform des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Die Bilder reichen von friedlichen Demonstrationen bis hin zu brennenden Barrikaden und brutaler Polizeigewalt.
Das Land scheint außer sich zu sein, und so mancher Demonstrant findet, die Regierung in Paris habe sich vom Volk entfremdet und über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden. Die Ausschreitungen seien die letzte verbliebene Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, erklärten Demonstranten gegenüber Journalisten.
In deutschen Kommentarspalten wird mitunter mit gehässigen Kommentaren auf die Bilder aus Frankreich reagiert. Es werde seit Wochen "der letzte demokratische Staatspräsident kaputt gestreikt", behauptet etwa Spiegel-Kolumnist Nikolaus Blome.
Einen rationalen und nachvollziehbaren Grund für den Protest scheint es demnach für Blome nicht zu geben. Linke und Grüne "wollen sich im Aufstand ein letztes Mal selbst fühlen und zahlen jeden Preis dafür", schreibt Blome. Und dafür würden sie sich auch zur fünften Kolonne des Kremls machen und das Land dem Rassemblement National in den Rachen werfen.
Schlichter hätte man die Ereignisse wahrlich nicht interpretieren können; aber diese Form von politischem Framing ist seit Jahren – in abgewandelter Form – bekannt. Widerspruch gegen die offizielle Politik wurde hierzulande in den letzten Jahren auch allein dadurch diskreditiert, dass manchen Personen die Etiketten "Nazi", "Querfront" oder "Putinversteher" angeheftet wurden.
Nun sind es also "Frankreichs Linke, Kommunisten und Grüne", die mit ihren Rentenprotesten angeblich Marine Le Pen in den Sattel helfen. Was bedeutet schon das Opfer von zwei Jahren Lebenszeit, wenn dadurch nur Le Pen verhindert werden könnte? Warum also "für die traditionsalte Rente" streiken, die für viele Franzosen nur "das Sinnbild ihrer Arbeiterehre" ist?
Die Franzosen sind aber weit davon entfernt, sich an das Althergebrachte zu klammern. Sie wenden sich nicht gegen jegliche Reform des Rentensystem, sondern gegen Macrons neoliberale Vorstellungen.
Der Ökonom Thomas Piketty schrieb in seinem Blog, Macron befinde sich mit seinen Ideen in der falschen Epoche und verschwende der Franzosen Zeit.
Er wendet Rezepte an, die für die Welt der 2020er Jahre völlig ungeeignet sind, als ob er intellektuell in der Ära der Markteuphorie der 1990er und frühen 2000er Jahre stecken geblieben wäre, der Welt vor der Krise von 2008, Covid und der Ukraine. Der aktuelle Kontext ist jedoch geprägt von zunehmender Ungleichheit, Hyper-Wohlstand und der Klima- und Energiekrise. Dringend notwendig sind Investitionen in Bildung und Gesundheit und die Schaffung eines gerechteren Wirtschaftssystems, in Frankreich und in Europa, und erst recht auf internationaler Ebene.
Thomas Piketty
Die von Macron propagierte Idee einer "universellen" Rente führe nur dazu, dass "die abgrundtiefen Ungleichheiten des Arbeitslebens bis zum Tod verewigt" würden, schreibt Piketty weiter. Es gebe dagegen andere Möglichkeiten, die den Schwerpunkt auf kleine und mittlere Renten legten und die über eine progressive Abgabe auf Einkommen und Vermögen finanziert werden könnten.
Macron versuche heute aber gar nicht einmal mehr, den Modernisierer des Sozialstaates zu spielen. Seine Reform zielte lediglich darauf ab, "Geld einzunehmen, ohne jegliches Ziel der Universalität oder Vereinfachung".
Über Pikettys Argumentation könnte man noch hinausgehen und darauf verweisen, dass es Macron mit seiner Reform darum geht, dem Diktat der Finanzmärkte zu folgen. Der französische Präsident betonte mehrfach, dass ein Verzicht auf dieses Gesetz die Fähigkeit des Landes gefährden würde, auf den Finanzmärkten Kredite aufzunehmen.
Und wenn Blome vor diesem Hintergrund meint, Macron wäre "der letzte demokratische Staatspräsident", dann offenbart das ein seltsames Verständnis von Demokratie. Denn sie fußt auf der Idee der Volkssouveränität, also, dass Recht und Gesetz vom jeweiligen Staatsvolk ausgehen – und nicht von den Finanzmärkten und Anlegern aus anderen Ländern.
Piketty betont, es sei die große Lektion der Geschichte, dass Wohlstand durch Gleichheit und Bildung entsteht, und nicht durch die Verfolgung von Ungleichheit. Indem die Regierung von Emmanuel Macron den Sozialstaat schwäche, anstatt ihn auszubauen, schwäche sie das Land und seinen Platz in der Welt.