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Putin-Rede: Atomare "Präzedenzfälle" und der Westen als Gegner

Russlands Präsident Putin gibt sich überzeugt, eine Art Kreuzzug gegen das Böse zu führen. Symbolbild: Stanqo / CC-BY-3.0

Putins Rede zur Annexion von vier Gebieten der Ukraine war vor allem eine martialische Anklage – weniger gegen Kiew als gegen den Westen. Eine beunruhigende Passage dreht sich um Hiroshima und Nagasaki.

Die Einwohner von Donezk, Lugansk, Saporischschja und Cherson hätten "ihre Wahl getroffen, eine klare Wahl" sprach Russlands Präsident Putin gleich zu Beginn seiner aktuellen Rede anlässlich der nun durchgeführten Annexion dieser vier ukrainischen Regionen durch Russland.

Er bezog sich damit auf die hochumstrittenen Referenden vor Ort, die unter russischer Aufsicht – wenn nicht Durchführung – offiziell sowjetähnliche Mehrheiten für einen Anschluss der Gebiete an Russland erbracht hatten. Das sogar in der Region Cherson, die vor dem Krieg mehrheitlich nicht einmal russischsprachig war.

Hier steht nicht nur die neutrale Durchführung der Referenden in Zweifel, sondern ihnen fehlt auch Aussagekraft angesichts der Tatsache, dass Russland keines dieser Territorien voll kontrolliert und sie so nirgends flächendeckend durchgeführt wurden.

Im ersten Teil seiner Rede beschäftigte Putin sich mit seiner Sicht auf die Geschichte und Gegenwart des Ukraine-Konflikts unter Betonung der Verbrechen der ukrainischen Seite wie die Brandschatzung des Gewerkschaftshauses in Odessa mit 42 Toten.

Dennoch war die Härte gegenüber Kiew weniger ausgeprägt als bei früheren Ansprachen, er bot sogar Verhandlungen an, in denen er jedoch jede Gebietsrückgabe ausschloss. Rasant schwenkte seine Rede dann aber um zum eigentlichen Gegner Russlands, wie man den Eindruck bekommen musste: dem Westen.

Der Westen als "Block des Bösen", der lüge "wie Goebbels"

Der Westen ist bereit, alles zur Bewahrung seines neokolonialen System zu tun. Dieses erlaubt es ihm, dort als Parasit zu leben, die Welt durch die Macht des Dollars und des Diktats der Technologie zu plündern.


Russlands Präsident Wladimir Putin am 30. September 2022 in Moskau [1]

Putin konstruiert die russische Ukraine-Invasion als Kampf der gegensätzlichen Systeme, den Russland als mythischer Underdog gegen den übermächtigen Westen führe, um nicht nach dessen "manipulierten, falschen Regeln" leben zu müssen. Kritik an vom Westen durchgeführten hybriden Kriegen steigerte er dabei in ein extrem emotionales Stakkato, wo es am Ende sogar um "eine Horde seelenloser Sklaven" geht, zu denen der Westen laut Anklage des Kreml-Chefs den Rest der Welt machen will.

Auch der bekannteste österreichische Russland-Experte Gerhard Mangott charakterisiert in einem Twitter-Kommentar die Ansprache vor allem als "hasserfüllte Brandrede Putins gegen den Westen".

Das personifizierte Böse sind für Putin dabei die "angelsächsischen" Staaten, vor allem die USA, die er auch als treibende Kraft hinter den gegen Russland gerichteten Sanktionen sieht. Und nicht nur hinter den Sanktionen: Er beschuldigt sie auch direkt der Sabotage an den kürzlich explodierten Nord-Stream-Gaspipelines.

Der Moskauer Analyst Alexander Baunov vermutet als Hintergrund ein Signal Putins, mit dem er die Verantwortung für den Stopp russischer Erdgaslieferungen von sich weisen will. Der Westen wirft ihm ja das Spiel mit dem Gashebel als politisches Druckmittel nicht ohne Grund vor. Die tatsächliche Urheberschaft der Anschläge auf die Pipelines ist aktuell unklar.

Beunruhigende Passage zu Atomwaffen

Auch die Atombombenangriffe der Vereinigten Staaten am Ende des Zweiten Weltkriegs "ohne militärische Notwendigkeit" sprach der russische Präsident interessanterweise an – und man fragt sich angesichts des fehlenden inhaltlichen Zusammenhangs zum Ukraine-Krieg, warum.

Baunov sieht darin ein verstecktes Signal Russlands, derartige Waffen nur in militärisch "notwendigen" Fällen anwenden zu wollen – und damit als indirekte Drohung gegen den westlichen Hauptfeind. Baunov ist mit dieser Deutung nicht allein. Auch Gerhard Mangott findet diesen Teil der Rede "am beunruhigendsten", da Putin Hiroshima und Nagasaki wörtlich als "Präzedenzfälle" bezeichnet hat.

Der übrige Westen außerhalb des angelsächsischen Raums bleibt in der Rede bemerkenswert farblos. Sie werden von Putin als "Vasallen" gesehen, die "kleinlaut" zu den Maßnahmen der Führungsmacht ja sagten. Dennoch gipfelt am Ende Putins infernalische Beschreibung seines eigentlichen Gegners in einem vielleicht unvermeidlichen Vergleich mit dem Dritten Reich.

Russland als Traditionsmacht des Lichts

Er beschuldigt den Westen, kollektiv "die Wahrheit in einem Meer von Fälschungen zu ertränken, rücksichtslos zu lügen wie Goebbels". Gegen diesen "Block des Bösen" stellt er martialisch Russland als mitfühlende und "philanthropische", also die Menschen liebende Traditionsmacht des Lichts.

Die Grenzen dieses Mitgefühls enden nach Putins Weltsicht wohl an der ukrainischen Grenze, hinter der man unter dem Banner dieser "Philanthropie" ganze Städte in Schutt und Asche legen und Zivilisten töten darf, um sie danach zu eigenem Staatsgebiet zu erklären.

In jedem Fall bleibt Putins Rede stark in kräftig gezeichneten Bildern stecken und bietet viel Tiefgründiges und wenig Konkretes. Das hat einen Zweck, den der Wiener Russland-Fachmann Alexander Dubowy in seinem Social Media Account richtig erkennt: Die "maximale Flexibilität in der Entscheidungsfindung bleibt gewahrt".


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