Putin und die Botschaft an "Verräter"
Aus der Sicht des Präsidenten ist jeder kritische Journalist ein Gegner. Auch den nun toten Prigoschin nannte er einen "Verräter". Das wirft Fragen auf. Ein Kommentar.
Bei meinem vorletzten Besuch bei Michail Gorbatschow in Moskau im Jahr 2016 erfuhr ich, dass er die Zeitung Nowaja Gazeta, eine der wenigen unabhängigen Blätter in Russland, mitbegründet hat und finanziell unterstützte.
Seit dem Jahr 2000 waren fünf Journalisten dieser Zeitung – unter ihnen auch Anna Politkowskaja – ermordet und weitere Kolleginnen und Kollegen schwer verletzt worden.
Politkowskaja hatte kritisch über den Tschetschenien-Krieg berichtet. Gorbatschow und ich hatten damals zusammen das Buch "Nie wieder Krieg – Kommt endlich zur Vernunft" geschrieben.
Bei meinem letzten Besuch bei Michail Gorbatschow im Jahr 2019 dann erfuhr ich, dass am selben Tag einer Kollegin der Nowaja Gazeta beim Aussteigen aus ihrem Auto ein Kübel Jauche über den Kopf geschüttet worden war. Sie hatte am Tag zuvor einen kritischen Artikel über die Stalin-Herrschaft geschrieben.
Aus Putins Sicht ist jeder kritische Journalist ein "Verräter". Auch der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommene Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin wurde von Putin als "Verräter" bezeichnet. Auf "Verräter" steht in Russland die Todesstrafe. Die Liste der "Verräter" ist lang.
Nur einige Beispiele:
Der prominenteste russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny. Er wurde im Sommer 2020 auf einem Flug nach Sibirien vergiftet und kehrte nach einer Behandlung in der Berliner Charité nach Moskau zurück. Im August 2023 wird er wegen angeblichen Extremismus zu 19 Jahren Straflager verurteilt.
Im August 2019 wird ein Georgier im Berliner Tiergarten erschossen. Das Berliner Landgericht spricht von "Staatsterrorismus". Demnach stecken russische Behörden hinter dem "Auftragsmord".
Julia und Sergej Skripal: Der Ex-Spion und seine Tochter überleben im März 2018 nur knapp einen Giftanschlag im englischen Salisbury. Die britische Regierung und Scotland Yard machen den russischen Geheimdienst für den Giftanschlag verantwortlich.
Boris Nemzow: Der russische Oppositionspolitiker wird im Februar 2015 aus einem Auto heraus erschossen. Er galt als Unterstützer der Ukraine. Der mutmaßliche Mörder wird zwar verurteilt, doch Nemzows Familie beklagt, dass die Hintermänner nicht wirklich gesucht werden.
Der Putin-Kritiker Alexander Litwinenko stirbt im November 2006 nach einem Anschlag mit dem Strahlengift Polonium 210. Litwinenko beschuldigt Putin, hinter dem Mordanschlag zu stecken. Einer der beiden Verdächtigen sitzt heute als Abgeordneter in der russischen Duma.
Am 16. Februar 2023 stürzt Marina Jankina, Mitarbeiterin des russischen Verteidigungsministeriums aus dem 16. Stock eines Hochhauses in St. Petersburg. Sie war mit zuständig für die Finanzierung des Ukraine-Kriegs.
Der Vize-Wissenschaftsminister Pjotr Kucherenko stirbt am 23. Mai 2023 auf dem Flug von Kuba nach Moskau. Er hatte Putins Ukraine-Krieg als "faschistische Invasion" bezeichnet.
Auch in Indien und Frankreich sollen russische Putin-Kritiker ums Leben gekommen sein, berichtete die Süddeutsche Zeitung.
Fensterstürze, Vergiftungen, Erschießungen: Der aktuelle Flugzeugabsturz ist nur ein "Unfall" in einer langen Serie von Unglücken aller Art. Im Schatten des Kremls passieren den Gegnern Putins vielfältige "Zufälle".
Zwei Monate nach seinem Aufstand gegen die "Arschlöcher im Kreml", so Prigoschin, ist der Wagner-Chef nun also tot. Und Präsident Putin hat den Familien der beim aktuellen Flugzeug-Absturz ums Leben Gekommenen im Staatsfernsehen kondoliert. Prigoschin bezeichnete er dabei als einen "fähigen" Mann, der allerdings "schwere Fehler" begangen habe.
Der Kreml bestreitet eine Verwicklung in den Fall Prigoschin. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow: Solche Behauptungen seien "eine absolute Lüge". Putin hatte den Maulhelden, Kriminellen und Kriegsverbrecher Prigoschin zuvor als "Helden Russlands" ausgezeichnet.
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