Putins geheimer Plan: Wenn Medien dem Verschwörungssyndrom verfallen

Seite 2: Wie aus Beratungen zum Unionsstaat eine Annexion wurde

Dabei steckt in dem 17-Seiten-"Geheimplan" nicht wirklich Neues. Auf Telepolis hat der aus Minsk stammende Politologe Artjom Schrajbman im Interview das bereits näher erläutert.

Das Kernstück, eine russisch-belarussische Union, wird schon seit langem zwischen den beiden Staaten besprochen und anvisiert. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin und sein Amtskollege in Minsk Aljaksandr Lukaschenka riefen den projektierten Staatenbund Ende der 1990er-Jahre ins Leben.

Es wurden diverse Verträge geschlossen, wenn auch nicht wirklich befolgt. Es ging um eine gemeinsame Währung, engere Wirtschaftsbeziehungen, eine gemeinsame Sicherheitspolitik und militärische Kooperation. Mit Wladimir Putins Amtsantritt kühlten sich die Beziehungen jedoch erstmal ab. In den letzten zehn Jahren arbeiten die beiden Länder aber wieder enger zusammen.

"Wir sind dabei, den Unionsstaat aufzubauen", sagte Putin zum belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko bei Konsultationen im Jahr 2021. "Wir sind zuversichtlich, dass wir in diese Richtung gehen und dass diese Arbeit bereits konkrete Ergebnisse für unsere Bürger bringt", fügte er hinzu.

Dass Russland in verschiedenen Bereichen verstärkt mit Weißrussland kooperieren und das Land an sich binden will, was im geleakten Plan laut Medienberichten zum Ausdruck kommen soll, ist daher für keinen überraschend. Was die Medien, die das Dokument gemeinsam ausgewertet haben, durchaus, wenn auch am Rande, eingestehen, da es derart offensichtlich ist. So heißt es in der Süddeutschen Zeitung:

Experten sind über den Belarus-Plan nicht sonderlich verwundert. Die Idee von einem Unionsstaat ist nicht neu.

Das wirft die Frage auf, warum man sich dann derart investigativ ins Zeug legt und Bekanntes als große Enthüllung eines "Geheimplans" verkauft. Offensichtlich, weil es um mehr geht als das Bekannte.

Ein Geheimplan des Kreml, der geleakt werden muss, damit er das Licht der Öffentlichkeit überhaupt erst erreichen kann, trägt fast automatisch die Botschaft in sich, dass Russland etwas im Schilde führt, von dem niemand etwas mitbekommen soll.

Was niemand mitbekommen soll, ist nun laut Storyline des Investigativ-Verbunds westlicher Medien die Kreml-Absicht für eine "Annexion", "Einverleibung", also völkerrechtswidrige, erzwungene und einseitige Eingliederung des souveränen Staates Belarus ins russische Staatsgebiet. Das ist die Kernbotschaft der Medien-Schlagzeilen.

Das gibt der geleakte Plan aber nach dem, was darüber berichtet wird, gar nicht her. Es wird in den Berichten lediglich vom Ausbau der Zusammenarbeit gesprochen, einer "Vollendung der Bildung des Unionsstaates Russland und Belarus" und einer verstärkten Einflussnahme Russlands auf das Land. Wie gesagt, für Experten "nicht sonderlich verwunderlich".

Doch die Rede von einem geleakten Geheimplan sowie die Tatsache, dass der Plan gar nicht veröffentlicht wurde, erleichtert es, die Botschaft insgeheim zu frisieren. Die groß angelegte und medial inszenierte Enthüllung hat also die Funktion, der "Union", die auf offener Bühne zwischen den Staaten seit langem verhandelt wird, eine heimliche Annexionsabsicht Russlands unterzuschieben.

Damit kann wiederum der Ball über Bande ins größere Diskursfeld geschossen werden. Denn der "Geheimplan" kann nun als Beleg fungieren für Putins verdeckten Expansionsdrang über die Ukraine hinaus. In der SZ heißt es dann auch:

Der Belarus-Plan sei eine Blaupause, warnt Franak Viačorka, Chefberater der im Exil lebenden belarussischen Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja, er könne auch "für Kasachstan, Armenien, Moldau" angewandt werden.

Und Yahoo.news teilt mit:

Die eigentliche Aufgabe der eher harmlos benannten Abteilung [im russischen Präsidialamt, die den "Annexionsplan" entworfen habe] besteht darin, die Kontrolle über Nachbarländer auszuüben, die Russland als in seinem Einflussbereich liegend betrachtet: Estland, Lettland, Litauen, Belarus, Ukraine und Moldawien.

Ab welchem Punkt wären Journalist:innen in Leitmedien eigentlich bereit, ihre eigenen Doppelstandards in den Blick zu nehmen? Die Diffamierung von Seymour Hersh sowie die kurz darauf inszenierte Enthüllung des "Fahrplans einer heimlichen Annexion" stimmen nicht sehr optimistisch, dass das freiwillig und in nächster Zeit passieren dürfte.

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