Putins geheimer Plan: Wenn Medien dem Verschwörungssyndrom verfallen

Dokumentation der Rechercheergebnisse zum geheimen Plan Russlands, Belarus zu annektieren, auf der Webseite der Süddeutschen Zeitung. Bild: Screenshot SZ-Dokumentation

Mediensplitter (19): Russland will Belarus bis 2030 annektierten, titeln SZ, NDR und Co. Ein Leak aus dem Kreml soll das dokumentieren. Eine verblüffende Realsatire angesichts der Diffamierung der Hersh-Enthüllung.

Die Nachricht zirkulierte gestern in den Medien, in Deutschland, aber auch weit darüber hinaus. Die Süddeutsche Zeitung titelte: "Fahrplan einer heimlichen Annexion". Andere Zeitungen meldeten, dass Russland sich Weißrussland bis 2030 "einverleiben" wolle.

"Putins geheimer Belarus-Plan" sei nun durchgesickert, von Russlands "Großmachtplänen" wird gesprochen. Der Telegraph in Großbritannien machte mit der Schlagzeile auf: "Russia plans to annex Belarus by 2030".

Der Hintergrund ist eine internationale Recherchekooperation, zu der neben WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung auch Yahoo News, Delfi Estonia, Kyiv Independent, die schwedische Boulevardzeitung Expressen, Frontstory aus Polen, das auf die Visegrad-Region fokussierte Medium VSQuare, das Belarusian Investigative Center und russische Dossier Center gehören.

Das interne, bislang nicht öffentlich bekannte Strategiepapier soll im Sommer 2021 verfasst worden sein, aus der russischen Präsidialverwaltung stammen und 17 Seiten umfassen. Telepolis hat darüber berichtet.

Lassen wir zuerst einmal den Inhalt des Dokuments beiseite, das kaum wirklich Unbekanntes und Neues hervorbringt. Verblüffend ist auch eigentlich etwas anderes. Denn die investigative Story des westlichen Mediennetzwerks über den angeblichen "Geheimplan zur Annexion" mutet wie Realsatire an. So meldet zum Beispiel Yahoo.news:

Einem westlichen Geheimdienstoffizier mit direkter Kenntnis des Strategiedokuments zufolge haben der russische Inlands-, Auslands- und Militärgeheimdienst – FSB, SVR bzw. GRU – sowie der Generalstab der Streitkräfte aktiv an dem Plan für den Unionsstaat mitgewirkt. Das resultierende Dokument wurde Kozak im Herbst 2021 vorgelegt, so die gleiche Quelle gegenüber Yahoo News.

Die Süddeutsche, die eine Dokumentationsseite über den Leak angelegt hat, teilt in einer Zeile mit, dass man zwar nicht "hundertprozentig verifizieren" könne, ob das "Belarus-Dokument tatsächlich aus der Präsidentialdirektion für grenzüberschreitende Zusammenarbeit stammt". Aber "zwei westliche Geheimdienste, denen das Papier gezeigt wurde, halten es für glaubwürdig".

Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Ein anonymer Leak eines geheimen Dokuments, das nicht öffentlich zugänglich gemacht wird, verifiziert von anonym gehaltenen Geheimdienstvertretern, "mit direkter Kenntnis des Strategiedokuments".

Was ergoss sich vor ein paar Tagen noch für eine Welle an Entrüstung und Diffamierung durch westliche Medien, von Europa bis in die USA, als der international renommierte Enthüllungsjournalist Seymour Hersh auf Grundlage einer nicht benannten Quelle mit direkter Kenntnis der Geheimoperation über die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines durch die USA im September letzten Jahres berichtete.

Wenn überhaupt über seinen explosiven, sehr detaillierten, 5300 Wörter umfassenden Bericht etwas in den Medien mitgeteilt wurde, dann wurde seine Recherchemethode inklusive aller Aufdeckungen in der Luft zerrissen.

Im Deutschlandfunk meinte der Journalist Hans Leyendecker: "Hersh hat wohl Altersprobleme". Das Handelsblatt kommentiert: "Hersh konstruiert eine Sabotage-Verschwörung". Die Süddeutsche Zeitung nimmt den preisgekrönten Rechercheur ins Visier: "Einst Meister der Fakten, nun eher der Fantasien" und "Die Schattenseiten eines Star-Reporters". Das Ganze wurde garniert mit dem Hinweis darauf, dass Putin-Apologeten angesichts der Hersh-Fantasien frohlockten.

Altersprobleme, Verschwörungstheorien, Fantasien, schlechter Journalismus, fehlende Quellenkritik: All das scheint im aktuellen Fall nicht mehr zu gelten. Dieselben Medien, die Hersh wegen seiner Ein-Quellen-Enthüllung in den Orkus schmissen, sind in wenigen Tagen selbst vom Ein-Quellen-Verschwörungssyndrom erfasst worden.

Oder besser gesagt: Sie sind in ihren Normalmodus zurückgekehrt. Denn die Leitmedien haben an sich kein Problem damit, einer Quelle bzw. einem Quellenstrang zu trauen – oft Vertreter der eigenen Regierung bzw. einflussreicher Organisationen, die gezielte Leaks zur strategischen Meinungspflege einsetzen –, und die Quelle in Berichten dann zu anonymisieren.

Es geht also nicht um die Methode, die sicherlich Grenzen hat und für sich genommen keine absoluten Beweise hervorbringen kann. Die Crux liegt in dem, was Hersh herausgefunden hat. Es passt den großen Medien offensichtlich nicht. Also wird der Bericht ignoriert oder mit Schmutz übergossen.

Doch seht, welch ein Wunder: Ein paar Tage später ist eine anonyme Quelle wieder okay und die darauf basierende Enthüllung Ausdruck investigativen Qualitätsjournalismus. Der Beurteilungsstandard wird von heute auf morgen ins komplette Gegenteil verdreht, während aus den medialen Qualitätsjournalistenreihen kein Piep darüber zu hören ist.

Der Grund für die 180-Grad-Kehrtwende? Hersh sagt: Die USA haben laut seiner Quelle in einer geheimen Operation die Ostsee-Pipelines in die Luft gejagt. Die Medien sagen: Das kann nicht sein, also leidet der Enthüllungsjournalist unter Verschwörungsfantasien. Ein westliches Medienbündnis sagt ein paar Tage später: Russland hat gemäß geleaktem Dokument einen geheimen Plan zur Annexion Weißrusslands. Irgendwelche Einwände gegen den anonymen Leak? Nope.

Wie aus Beratungen zum Unionsstaat eine Annexion wurde

Dabei steckt in dem 17-Seiten-"Geheimplan" nicht wirklich Neues. Auf Telepolis hat der aus Minsk stammende Politologe Artjom Schrajbman im Interview das bereits näher erläutert.

Das Kernstück, eine russisch-belarussische Union, wird schon seit langem zwischen den beiden Staaten besprochen und anvisiert. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin und sein Amtskollege in Minsk Aljaksandr Lukaschenka riefen den projektierten Staatenbund Ende der 1990er-Jahre ins Leben.

Es wurden diverse Verträge geschlossen, wenn auch nicht wirklich befolgt. Es ging um eine gemeinsame Währung, engere Wirtschaftsbeziehungen, eine gemeinsame Sicherheitspolitik und militärische Kooperation. Mit Wladimir Putins Amtsantritt kühlten sich die Beziehungen jedoch erstmal ab. In den letzten zehn Jahren arbeiten die beiden Länder aber wieder enger zusammen.

"Wir sind dabei, den Unionsstaat aufzubauen", sagte Putin zum belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko bei Konsultationen im Jahr 2021. "Wir sind zuversichtlich, dass wir in diese Richtung gehen und dass diese Arbeit bereits konkrete Ergebnisse für unsere Bürger bringt", fügte er hinzu.

Dass Russland in verschiedenen Bereichen verstärkt mit Weißrussland kooperieren und das Land an sich binden will, was im geleakten Plan laut Medienberichten zum Ausdruck kommen soll, ist daher für keinen überraschend. Was die Medien, die das Dokument gemeinsam ausgewertet haben, durchaus, wenn auch am Rande, eingestehen, da es derart offensichtlich ist. So heißt es in der Süddeutschen Zeitung:

Experten sind über den Belarus-Plan nicht sonderlich verwundert. Die Idee von einem Unionsstaat ist nicht neu.

Das wirft die Frage auf, warum man sich dann derart investigativ ins Zeug legt und Bekanntes als große Enthüllung eines "Geheimplans" verkauft. Offensichtlich, weil es um mehr geht als das Bekannte.

Ein Geheimplan des Kreml, der geleakt werden muss, damit er das Licht der Öffentlichkeit überhaupt erst erreichen kann, trägt fast automatisch die Botschaft in sich, dass Russland etwas im Schilde führt, von dem niemand etwas mitbekommen soll.

Was niemand mitbekommen soll, ist nun laut Storyline des Investigativ-Verbunds westlicher Medien die Kreml-Absicht für eine "Annexion", "Einverleibung", also völkerrechtswidrige, erzwungene und einseitige Eingliederung des souveränen Staates Belarus ins russische Staatsgebiet. Das ist die Kernbotschaft der Medien-Schlagzeilen.

Das gibt der geleakte Plan aber nach dem, was darüber berichtet wird, gar nicht her. Es wird in den Berichten lediglich vom Ausbau der Zusammenarbeit gesprochen, einer "Vollendung der Bildung des Unionsstaates Russland und Belarus" und einer verstärkten Einflussnahme Russlands auf das Land. Wie gesagt, für Experten "nicht sonderlich verwunderlich".

Doch die Rede von einem geleakten Geheimplan sowie die Tatsache, dass der Plan gar nicht veröffentlicht wurde, erleichtert es, die Botschaft insgeheim zu frisieren. Die groß angelegte und medial inszenierte Enthüllung hat also die Funktion, der "Union", die auf offener Bühne zwischen den Staaten seit langem verhandelt wird, eine heimliche Annexionsabsicht Russlands unterzuschieben.

Damit kann wiederum der Ball über Bande ins größere Diskursfeld geschossen werden. Denn der "Geheimplan" kann nun als Beleg fungieren für Putins verdeckten Expansionsdrang über die Ukraine hinaus. In der SZ heißt es dann auch:

Der Belarus-Plan sei eine Blaupause, warnt Franak Viačorka, Chefberater der im Exil lebenden belarussischen Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja, er könne auch "für Kasachstan, Armenien, Moldau" angewandt werden.

Und Yahoo.news teilt mit:

Die eigentliche Aufgabe der eher harmlos benannten Abteilung [im russischen Präsidialamt, die den "Annexionsplan" entworfen habe] besteht darin, die Kontrolle über Nachbarländer auszuüben, die Russland als in seinem Einflussbereich liegend betrachtet: Estland, Lettland, Litauen, Belarus, Ukraine und Moldawien.

Ab welchem Punkt wären Journalist:innen in Leitmedien eigentlich bereit, ihre eigenen Doppelstandards in den Blick zu nehmen? Die Diffamierung von Seymour Hersh sowie die kurz darauf inszenierte Enthüllung des "Fahrplans einer heimlichen Annexion" stimmen nicht sehr optimistisch, dass das freiwillig und in nächster Zeit passieren dürfte.

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