Queere Praxis
Hier endet das moralischen Empowerment: Gomringer-Gedicht "Avenidas". Bild: C.Suthorn, CC BY-SA 4.0
Von Wokeness und Cancel Culture. Was die LGBT- und andere Identitäten bewegt (Teil 3 und Schluss)
Unter der Rubrik "struktureller Rassismus" setzt sich die queere Theoriebildung fort. Der soll einerseits "grundlegendes Machtinstrument in allen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Belangen" sein (Mwayemudza Ndindah).
Als solches erkläre er nicht nur "vielfältige behördliche Diskriminierungen", sondern auch so disparate Phänomene wie die "neokoloniale und asymmetrische Wirtschafts- und Entwicklungshilfepolitik" "Waffenexporte" "eine toxische Klimapolitik und weltweite Müllexporte", die "tödliche Migrationsabwehr" sowie "hegemonialpolitisch motivierte, kriegerische Interventionen weltweit".
Eine Theoretikerin der White Supremacy (Emilia Roig, s.o.) ergänzt, dieselbe "baut auf Vernichtung, Unterdrückung und Genozid auf." Andererseits kennt der "strukturelle Rassismus" als Universalerklärung für die Übel der Welt gar keine Absichten und Akteure, denen man das Handwerk legen müsste.
Seine "Unbewusstheit" ist ja bekannt, und "die Frage, ob ich diskriminiere, hat nichts mit Absicht zu tun" (Blog, s.o.). Das alles ist eben "strukturell" bedingt.
Moralischer Imperativ
Es nimmt also kein Wunder, dass der Kampf gegen die Struktur ohne Subjekt sich weitgehend auflöst in die Einnahme, Einübung und Verbreitung einer antirassistischen Bewusstheit, einer Empfindsamkeit gegenüber "Mikroaggressionen", einer Mitverantwortung für Diskriminierungen - lauter moralische Haltungen, die der Begriff der Wokeness meint.
Dass Moral als Quintessenz aller Anklagen an die Stelle von Kritik tritt, wird besonders in den Konzepten von Critical Whiteness und "kritischer Männlichkeit" deutlich. Eine Gender-Forscherin sagt von ihrem Weißsein: "Dafür kann ich nichts, aber dazu muss ich mich verhalten." (Andrea Geier)
Der angeblichen Universalität des Rassismus meint sie mit einer selbstkritischen Haltung begegnen zu müssen, die an eine Selbstbeschuldigung heranreicht. "Wenn jemand angesprochen wird als weiße Person oder als männliche Person", soll man fragen: "Was bedeutet das für meine Positionierung? Was gibt mir das möglicherweise auch für Chancen?"
Der Sache nach ist die Beurteilung der Haupt- und Kollateralschäden aus der Welt von Geld und Gewalt keine Frage von Geschlecht, Hautfarbe oder sozialer Stellung. Daraus geht auch kein spezieller Impetus hervor.
Der Imperativ, "sich verhalten zu müssen" und sich am Ende noch schuldbewusst in die Reihe der Schadensverursacher zu stellen, ist daher moralischer Natur - und ungeeignet für die Abschaffung von "Vernichtung, Unterdrückung und Genozid".
So abstrakt, wie die klassenübergreifenden Kollektive gebildet und so leer, wie die Waffen- mit den Müllexporten auf denselben Punkt gebracht werden, so gleich-gültig lassen sich auch diverse Erscheinungen von Diskriminierung anklagen und skandalisieren.
Der Frauenanteil bei Professoren, im Bundestag oder auf Literaturlisten, die vormalige Nichtzulassung von Trans-Menschen zur US-Armee, die Stigmatisierung dicker Körper, das Ausbleiben des katholischen Segens bei der Ehe für alle, die Beschränkung der Schwulen beim Blutspenden, das Fehlen geeigneter Waschräume für Teile des LGBT-Spektrums, der Gender Price Gap oder die mangelnde Barrierefreiheit von Wahllokalen - alles ist gleichrangig mit existenzielleren Betroffenheiten der Befassung wert.
Eine Scheidung von wichtig und weniger wichtig stellt sich nicht ein, schließlich künden die kleinen wie die größeren Vorhaben von der Wokeness und zielen auf die "Struktur". Gewichtungen oder die Frage nach dem Nutzen gelten als anmaßend, weil sie die moralische Qualität und Berechtigung der Ansinnen nicht würdigen.
Außerdem heißt es, "das Ausmaß alltäglicher Diskriminierung erkenne nur, wer selbst einer Minderheit angehört" (Wing Sue, s.o.). Fortgesetzt wird dieser in der Regenbogen-Bewegung verehrte Grundsatz durch die Inkriminierung der sogenannten kulturellen Aneignung.
Die beginnt beim Hawaii-Toast und dem Indianerkostüm und führt über das Blackfacing zur Anmaßung von weißen Autorinnen, den Text einer schwarzen Poetin zur Inauguration ihres Präsidenten zu übersetzen. Auch bei solchen Zurückweisungen gibt es keine unwichtigen Dinge.
Wie ernst es der Bewegung dabei ist, zeigt auf ihre Weise die Firma Amazon Studios, die den radikalen Respekt vor den Identities zu vermarkten sucht.
Im Namen von "Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion" sollen Filmproduzenten Schauspieler so besetzen, dass "Geschlecht, Geschlechtsidentität, Nationalität, Ethnie, sexuelle Orientierung und Behinderung" mit den Rollen übereinstimmen, die sie darstellen.
Statt die Heillosigkeit solcher Unterfangen zu ventilieren, sollte man sich lieber klarmachen, welche moralische Haltung sie bedienen.
Rigorismus
Diese Moralität führt unweigerlich auch Streitigkeiten in der bunten Bewegung selbst herbei, weil und wenn die Identitäten und Diskriminierungen zueinander in Konkurrenz treten und auf Wertschätzung dringen.
Im Nachgang zum Bewertungsstreit zwischen dem klassischen und queeren Feminismus über die migrantischen Übergriffe auf Frauen in der Kölner Silvesternacht 2015/16 kam bei Letzterem die ambivalente Frage auf, "wie wir einen nicht-rassistischen, antisexistischen Diskurs führen können, der zugleich ein nicht-sexistischer, antirassistischer Diskurs ist" (Judith Butler u. Sabine Hark, Zeit 2.8.17).
Als weitere Beispiele stehen die Akronyme FLINT und TERF. FLINT-Räume sind "nur für Frauen sowie lesbische, inter*, non-binary und trans* Personen offen", grenzen also auch solche cis-Männer aus, die dem Feminismus zugetan sind oder sich z.B. nicht-binär definieren und sich daher diskriminiert fühlen.
Größere Wellen schlagen die "TERF Wars" (siehe hier, hier oder hier), wo sich genderkritische mit LGBT-Feministinnen, etwa J. K. Rowling und Alice Schwarzer mit Judith Buttler und Laurie Penny zum Beispiel um die Frage streiten, ob bei Trans-Männern die biologische oder die Gender-Identität höherwertig sein soll. An angelsächsischen Unis wird deshalb auch die eine oder andere Vorlesung boykottiert.
Der moralische Rigorismus verlangt schließlich nach sichtbaren Zeichen seiner Akzeptanz und Anerkennung. Dies fordern oft vorauseilend auch diejenigen, die von den Diskriminierungen nicht unmittelbar betroffen sein müssen.
Ihre Moralität gebietet ihnen aber eine Mitverantwortung von sich und ihrem abstrakten Kollektiv über Raum und Zeit hinweg. Das betrifft Mohren-Apotheken, die Frage, ob das Wort Rasse rassistisch ist, ein vermeintlich frauenfeindliches Gedicht an der Außenwand einer Hochschule, Bismarck-Denkmäler, über die People of Color entscheiden sollen oder auch diesen Fall:
An britischen Universitäten werden derzeit naturwissenschaftliche Größen wie Isaac Newton einer rassismuskritischen Inspektion unterzogen. Newton wird vorgeworfen, als Aktienbesitzer vom Kolonialismus seiner Zeit profitiert zu haben. In manchen Schulen soll man nun nicht mehr von Newtons Gesetzen sprechen.
FAZ
Über Phänomene dieser Art kann Dieter Nuhr natürlich Lacher verbuchen. Andere dürfen sich über die ‚Barbarei‘ namens Cancel Culture künstlich aufregen. Ein Alt-Bundestagspräsident bittet dann darum, den Dialog nicht abreißen zu lassen ...
Nicht, dass man jeder umgeschmissenen Statue nachtrauern müsste. Bloß ist die Regenbogen-Variante von Cancel Culture der Endpunkt eines moralischen Empowerments, das in der bürgerlichen Sittlichkeit seinen Anfang hat.